Die demokratische Wahl als Triebfeder für Staat, Standort und Nation

Oder wählt Treger. Die können gut plakatieren. Bild: Sebastian Harth, CC BY-SA 4.0

Wie Kandidaten um Sympathie, Glaubwürdigkeit und Vertrauen werben und was das Kreuz alle vier Jahre bringt (Teil 1)

Kein Zweifel, der Standort Deutschland, die gesamte Nation, befindet sich in der "heißen" Phase des Wahlkampfes: Kein Fußgänger, kein Rad- oder Autofahrer, kein ÖPNV- oder Bahnkunde soll an der Plakatflut, die sich seit Wochen in die Aufmerksamkeit aller und überall ergießt und hineindrängt, vorbeikommen.

Ob Wahlberechtigter oder auch nicht: Eine Politisierung der besonderen Art hat den öffentlichen Raum überschwemmt und in Besitz genommen. Dergleichen soll dem gewöhnlichen Alltagsbewusstseins widerfahren. Erwünscht und beabsichtigt ist, dass sich das Alltagsbewusstsein, ansonsten ganz eingetaucht in seinen Bemühungen, in den Existenz- und Lebensbedingungen, wie sie nun einmal sind, zu bestehen und sich zu bewähren, daraus erhebt.

In aller Zudringlichkeit wird ihm allseitig zugetragen, es gehe nun um etwas außergewöhnlich Bedeutsames; um etwas von solcher Wichtigkeit, dem sich der Wahlberechtigte allenfalls zu seinem persönlichen Schaden zu entziehen vermag.

Auf allen Kanälen wird dem Willen des Bürgers im Staat nahegelegt, davon überzeugt zu sein, dass es von unbedingter Wichtigkeit für ihn ganz persönlich sei, seine sogenannte Stimme mit einem Kreuz in einem Kreis auf einem Zettel abzugeben.

Vor dieser sich aufdrängenden Politisierung bleibt der Bürger auch im privaten Raum, zu Hause, nicht verschont, vielmehr rund um die Uhr massenmedial betreut und bedient: In allen denkbaren analogen und digitalen Variationen, in Sommer- und sonstigen Gesprächen, in großartig angekündigten Drei-(Triell-) und Vierkampfarenen, mit Live-Übertragungen von Marktplatz- und sonstigen Reden und Redner-Tribünen, in allerlei Talkrunden und anderen, ausgewiesen professoral-journalistischen Runden geht es um dieses Eine: Um die Politisierung des Bewusstseins und des Willens des Einzelnen dahingehend, es komme in seinem ureigensten Interesse ganz persönlich auf ihn und seine freiheitliche Entscheidung an.

Fühlt sich das so angesprochene Staatsbürgerbewusstsein nun endlich besonders beachtet, berücksichtigt und erhoben, nimmt es diese politische Botschaft ernst und sich zu Herzen, dann ist das schon der erste Akt, die erste Willensentscheidung der berühmten Wahlfreiheit des modernen Menschen in seiner Eigenschaft als Wähler und stimmberechtigter (Staats-)Bürgers.

Präsentiert wird der derart zu politisierenden Bevölkerung dies: Die berechnende Inszenierung und Selbstdarstellung derjenigen, die in Gestalt einer Berufspolitikerin oder eines Berufspolitikers das höchste Führungsamt im Staat übernehmen möchten; zugleich die Inszenierung und Selbstdarstellung derjenigen, die als Parlamentarierin oder Parlamentarier in den kommenden gesetzgebenden Versammlungen im "Hohen Haus" konstruktiv mitbestimmen, welchen Gesetzesmaßnahmen die Gesetzesunterworfenen, das heißt die regierte Bevölkerung, in den nächsten vier Jahren zu gehorchen hat.

In dieser nach dem Wahlabend zurecht "Legislaturperiode" genannten Zeit erfährt die regierte Bevölkerung von den durch die demokratische Wahl Ermächtigten, was gesetzlich geboten, erlaubt und verboten sein wird - hinsichtlich ihrer gegenwärtigen oder zukünftigen Existenz- und Lebensbedingungen.

Wohlkalkulierte Konkurrenz sogenannter Persönlichkeiten

Da sich die Aspiranten um die höchsten Führungsämter im Staat ganz unterschiedslos darin einig sind, dass es in der kommenden Regierungszeit bis zur nächsten Wahl politisch wie immer darum geht, die Nation nach innen zu regieren und nach außen erfolgreich zu führen, ausgestalten sie in engster Kooperation mit der vierten Gewalt dem Publikum gegenüber die Wahlkampfzeit als vordergründigen Kampf: als Kampf der Aspiranten und ihrer Parteien um jede Wählerstimme.

Organisiert und ausgetragen ist dieser Stimmenfang als wohlkalkulierte Konkurrenz sogenannter Persönlichkeiten. Diese sind, wie kann es anders sein, wahrhaftige Persönlichkeiten: offenbar ein ganz besonderer, unverwechselbarer Menschenschlag.

Ein Menschenschlag wie ihn sich der gewöhnliche Bürger nur erträumen mag: menschlich, charakterlich, moralisch und politisch herausragende, integre Persönlichkeiten.

Nur Persönlichkeiten dieses auserlesenen Menschenschlags können und dürfen die Führung der Staatsgeschäfte und des Landes übernehmen.

Doch welche dieser Persönlichkeiten erscheint dafür am geeignetsten? Wer vermag das Publikum als herausragende Führungspersönlichkeit zu beeindrucken?

Wochenlang bewegt und beherrscht in Wahlkampfzeiten diese große Frage die ganze Nation. Bühnen-Inszenierungen wie etwa das TV-Triell sollen dieser großen Frage gemäß Hilfestellung bei der Antwortsuche nach folgenden Kriterien leisten: "Wen fanden Sie am sympathischsten? Wer punktet in den Charaktereigenschaften sympathisch, kompetent, tatkräftig und überzeugend am meisten und kam am besten rüber? Was haben die Zuschauer empfunden?" (TV-Triell am 12. September 2021).

Also herrscht ein ausgeprägter, massenmedial geförderter, befeuerter und in alle Hinter- und Kinderzimmer transportierter Personenkult. Jeder politische Entscheidungsträger in spe muss gegenüber dem die Szenerie betrachtenden Publikum den Eindruck erwecken, exklusiv bei ihm, nicht beim politischen Konkurrenten um Amt und Würde, liege die politische Regierungs- und Entscheidungsgewalt, das staatliche Gewaltmonopol und ihr Gebrauch, in besten Händen.

In besten Händen dahingehend, dass die alltäglichen Sorgen und Nöte des Einzelnen wie der regierten Bevölkerung in diesen, nicht in den Händen der anderen Kandidaten um Amt und Würde gut aufgehoben sind.

Die Pflege dieses Bildes der eigenen Persönlichkeit ist vonnöten, soll der Personenkult und die Konkurrenz in ihm gewonnen werden. Dabei will die mit allen Mitteln und Möglichkeiten betriebene personenkultorientierte Wahlwerbung und Imagepflege, unterstützt von Wahlkampfteams und Wahlkampfmanagern, von Wahlstrategen und von PR-Profis in Sachen Vulgär- und Massenpsychologie, die Distanz und den Gegensatz von (zukünftig) Regierenden und immer schon Regierten, dem Schein nach aufheben.

So inszenieren und präsentieren sich die Kandidaten des zukünftigen Regierens und Gesetze-Erlassens in ausgeklügelter besonderer Weise: Nicht einfach nur als vom Wähler ermächtigte Anwärter des kommenden Regierens und Gesetze-Gebens, sondern als ein doch gleichsam naher und persönlicher Freund.

Alles nur für Dich!

Der schöne Schein eines Freundes, dem es selbstlos und vom ganzen Herzen um das ganz persönliche Schicksal und um die alltäglichen Sorgen des Einzelnen geht, wo auch immer ihn seine Bemühungen in der Welt, wie sie nun einmal ist, hingebracht haben. So blicken groß- oder riesengroßformatige, in gefälliges Licht getauchte und mit allen möglichen Techniken der Bildbearbeitung und professionellen Portrait-Fotografie erstellte Politiker-Portraits die Staatsbürger, ob groß oder klein, ob jung oder alt, ob reich oder arm, ungefragt und distanzlos an, um ihnen gleichsam von Du-zu-Du zu sagen:

  • Respekt für Dich (SPD-Wahlplakat)
  • Sozialpolitik für Dich (SPD-Wahlplakat)
  • Bereit, weil Ihr es seid (Wahlplakat der Grünen)

Gelobt sei, welchem der Aspiranten und welcher Partei mit Anspruch auf die Führung und Ausführung der Staatsgeschäfte es gelingt, die geneigte Wählermeinung und Wahlentscheidung des Publikums mehrheitlich für sich an Land zu ziehen.

In der mittels Personenkult ausgetragenen Konkurrenz um Sympathie, Glaubwürdigkeit und Vertrauen rechnen die politischen Konkurrenten mit der "Empfindung" (TV-Triell am 12. September) des Publikums. In dieser Empfindung ist das moralische Geschmacksurteil, welche politische Persönlichkeit am sympathischsten wirkt, zusammengefasst.

Aber die politischen Aspiranten in spe verlassen sich nicht einfach nur auf das moralische Geschmacksurteil des Publikums. Vielmehr ist es ihnen Gebot, in berechnender Selbstinszenierung und Selbstdarstellung das moralische Geschmacksurteil des Publikums zu erzeugen, politisch zu mobilisieren und auf sich zu lenken. Da empfiehlt sich, wenn sich die Gelegenheit bietet, neben allen sonstigen Veranstaltungen der Selbstinszenierung und Selbstdarstellung in Wahlkampfzeiten, auch ein angemessenes Vorbeischauen bei den Opfern von Flut- und anderen Katastrophen; und das Kundtun von (Wahl-) Versprechen, schnellstmögliche Hilfe sei das Gebot der Stunde.

Seinen Urteilsmaßstab gewinnt das moralischen Geschmacksurteils des Publikums aus der alltäglichen Erfahrung, wie wenig Respekt dem Einzelnen in seinen täglichen Bemühungen, sich zu behaupten und zu bewähren, von seiner Umwelt wie von den Regierenden der letzten Legislaturperiode entgegengebracht wird.

Deshalb etwa die Gestaltung eines Wahlplakates mit dem ganz inhaltslosen und unverbindlichen Versprechen: "Respekt für Dich." (SPD-Wahlplakat) Das soll der Partei, die dieses Plakat unter die Menschheit bringt, einen Vorsprung hinsichtlich Sympathie, Glaubwürdigkeit und Vertrauen gegenüber der politischen Konkurrenz verschaffen.

Diese besondere Art der Politisierung des Publikums stilisieren die Massenmedien auftragsgemäß und gemäß ihrem politischen Berufsethos, wenn die demokratische Wahl wieder einmal ansteht, rechtzeitig zu einem ungemein spannenden Kampf in der Wahl hoch.

Der muss darüber hinaus zu einer ganz "heißen" Phase erhitzt werden. Schließlich soll in der Empfindung des Publikums bei seiner Betrachtung des vor seinen Augen veranstalteten Szenariums die unsäglich spannende Frage erzeugt werden, welchen Persönlichkeiten und Parteien das Vertrauen zu schenken ist, in den kommenden vier Jahren das Land, das Wahlvolk und die Bevölkerung nach allen Regeln der Kunst zu regieren.

Regieren, nur weiter regieren!

Will auch heißen, die bislang regierte Bevölkerung weiterhin zu regieren. Gewonnen hat die Wahl, welche der Machtaspiranten in spe und welcher Partei es gelungen ist, dem Publikum am überzeugendsten zu vermitteln, sie und nicht die politischen Konkurrenten verstünden sich am besten auf die gekonnte Tätigkeit des Regierens.

Die massenmedial als Kampf so spannend organisierte Zeit vor dem Wahltag findet regelmäßig Ergänzung aus berufenem Mund: "Es ist die spannendste Wahl seit Jahrzehnten." (Baerbock, TV-Triell, 12. September).

Schlecht stehen die Dinge, wenn vermeint wird, der Wahlkampf sei nicht heiß, sondern langweilig. Das gibt Anlass zur Sorge und zur Kritik: Die angeblich fehlende Begeisterung seitens des Publikums fürs demokratische Wählen, eine massenmedial und durch Blitzumfragen diagnostizierte Wahlmüdigkeit geben dem Verdacht Raum, es drohe Politikverdrossenheit oder noch Schlimmeres. Wie auch immer, die ganze Wahrheit der demokratischen Wahl und ihre periodische Wiederkehr ist das bisher Dargelegte allerdings nicht.

Worüber der freie Wille des Staatsbürgers und der regierten Bevölkerung im Akt der demokratischen Wahl entscheiden kann und überhaupt darf, ist unzweideutig beantwortet: mit seinem Kreuz in einem Kreis auf einem Zettel teilt er mit, von welchen der ihm vorgestellten Persönlichkeiten und Parteien er sich in den nächsten vier Jahren regieren lassen möchte.

Dann, in vier Jahren, steht die grundgesetzlich institutionalisierte und garantierte Wahl turnusgemäß wieder an. Und in Betrachtung und Begutachtung derselben Szenerie wie heute, kann der Staatsbürger wie heute in vier Jahren wiederum frei entscheiden: Darüber, welche der Aspiranten und Parteien auf die wirkliche Macht im Staat und in der Gesellschaft ihm so sympathisch, glaub- und vertrauenswürdig erscheinen, dass er sie zum Führen und Regieren über sich und über das Land ermächtigt.

Diese Freiheit gilt auch dann, wenn der freie Wille im Wahljahr 2025 als ein von der im heutigen Wahljahr ermächtigten Regierungsmannschaft enttäuschter, kritischer, protestierender oder wütender Staatsidealist seine Stimme wiederum per Kreuz in einem Kreis auf einem Zettel erhebt. Geht er als restlos enttäuschter Staatsidealist nicht mehr wählen, so ist das ganz unerheblich: eingemeindet ins große Ganze ist er so oder so.

So erweist sich der Akt der demokratischen Wahl im Kontinuum von Staat, Standort und Nation als ein winziger zeitlicher Punkt: Ein periodisch wiederkehrender Sekundenschlag der über nichts anderes als nur darüber entscheidet, welche Regierungsmannschaft er demokratisch ermächtigt, Staat, Standort und Nation weiterhin zu führen.

Die durch die demokratische Wahl legal und legitim Ermächtigten mögen bleiben, kommen oder wechseln, gerade dies garantiert den Fortbestand, das Kontinuum von Staat, Standort und Nation. Gesichert ist das Kontinuum von Staat, Standort und Nation allerdings nur, wenn es den jeweils demokratisch Ermächtigen gelingt, das nationale Ganze nach innen und insbesondere nach außen so zu führen, dass es sich erfolgreich zu behaupten vermag.

Deutschland, Deutschland, Deutschland

Nach außen, wie allseits bekannt, in weltwirtschaftlicher, militärischer, geo- und weltpolitischer Konkurrenz mit gleichen oder etwas anders gearteten nationalen Kollektiven.

Die in anstehenden demokratischen Wahlen sich dem Publikum präsentierenden politischen Konkurrenten, die Regierungsverantwortung übernehmen wollen, um den kontinuierlichen Erfolg von Staat, Standort und Nation weiterhin zu gewährleisten und in alle Zukunft hinaus zu sichern, wissen sich in dieser politischen Zielsetzung ohnehin mit dem Publikum einig: ist doch das Allgemeinwohl oder nationale Wir und sein Erfolg nach innen und außen die höchste Maxime auch der Mehrheit des demokratischen Publikums und überhaupt das Warum und Wozu der demokratischen Wahl.

Eingedenk der Gewissheit, dass das "Salus rei publicae summum lex est"1 gleichsam ausnahmslos auch die oberste Maxime für die regierte Bevölkerung ist, propagieren unterschiedslos alle Bewerberinnen und Bewerber, die sich vom staatsidealistischen Willen ermächtigen lassen wollen, einhellig und unisono:

  • Unser Land kann viel, wenn man es lässt (Wahlplakat der Grünen)
  • Kompetenz für Deutschland (SPD-Wahlplakat)
  • Deutschland gemeinsam machen CDU-Wahlplakat)
  • Zwei für Deutschland. Aber normal. (AfD-Wahlplakat)
  • Es geht um Deutschland (TV-Triell, 12. September)

Dass das staatsbürgerliche Publikum in überragender Mehrheit dies genauso sieht und kollektiv sein Leben in Staat, Standort und Nation längst eingerichtet hat, um darin zu bestehen und sich zu bewähren, wissen die sich um demokratische Ermächtigung Bewerbenden auch aus den vergangenen vier Jahren: Hat doch das Publikum 2017 per Wahl in staatsidealistischer Zustimmung zur Maxime des "Salus rei publicae summum lex est" die Ermächtigung zum (Weiter-)Regieren als notwendig, gerecht und legitim anerkannt und erteilt.

So ist das heutige Vor-der-Wahl-Resultat der demokratischen Ermächtigung von 2017, mithin dem daraus folgenden, bis heute andauernden Nach-der-Wahl. Das deutsche Allgemeinwohl oder nationale Wir, das Kontinuum von Staat, Standort und Nation besteht somit fort; und bislang immer noch erfolgreich nach innen wie nach außen, Afghanistan weitgehend eingeschlossen.

Wenngleich der Tag der Wahl, der "Tag des Bürgers" (Laschet, Scholz, Baerbock), wie es heißt, nichts ist als ein winziger zeitlicher Punkt, ein periodisch wiederkehrender Sekundenschlag im Kontinuum von Staat, Standort und Nation: Von der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 an hat sich das Kontinuum von Staat, Standort und Nation in rhythmischer Regelmäßigkeit durch bislang 19 Ermächtigungen, erteilt durch den staatsbürgerlichen Willen per demokratischer Wahl, fortgeschrieben.

So erfolgreich fortgeschrieben, dass Deutschland in der gegenwärtigen globalen Standort- und Staatenkonkurrenz als wenn auch immer unzufriedener Mitspieler allgemeine Beachtung und Berücksichtigung findet - auch im gegenwärtigen New Great Game, nicht nur um Afghanistan herum. Die Leistungsbilanz der demokratischen Wahl ist also positiv. Sie ist eine nicht unerhebliche Triebfeder für Staat, Standort und Nation.