Ein sowjetisches Staatsgeheimnis in der Ukraine
Die Katastrophe von Tschernobyl vor 38 Jahren markierte das Ende der UdSSR. Die beeinflusste auch die Radarstation Duga 1. Sie dient heute als unheimliches Denkmal.
Vor 38 Jahren flog Reaktor 4 des Atomkraftwerkes Tschernobyl in die Luft, nicht nur eine Atomkatastrophe, sondern auch der Anfang vom Ende der Sowjetunion. Betroffen war auch Duga 1, jene Funkanlage, die amerikanische Atomraketen im Orbit aufspüren sollte, um den atomaren Gegenschlag des Warschauer Paktes einzuleiten.
Heute ist die Anlage ein Denkmal. Das Besondere an diesem Ort hört man, lange bevor man ihn sieht: Es liegt ein Wimmer und Pfeifen und Raunen in der Luft, so als würde gleich eine Formation fliegender Transformers in den Wald stürzen.
Je näher man kommt, desto lauter wird der Singsang, aber jetzt kann man durch die Baumkronen langsam auch erkennen, wie das singende Ungetüm aussieht: Mehr als 60 Stahlmasten ragen in den Himmel, die höchsten 150 Meter weit. Jeder hat 44 Arme, an denen seltsame Metallbojen befestigt sind. Dazwischen verlaufen Tausende Drähte, durch die der Wind pfeift – und so das bewusste Geräusch erzeugt.
"Duga 1 heißt die Anlage, die größte bekannte Radarstation weltweit", sagt Andrij Tymtschuk, stellvertretender Leiter der Staatlichen Agentur zur Entwicklung und Verwaltung der Sonderwirtschaftszone Tschernobyl. Im Radius von 30 Kilometern wurde um das am 26. April 1986 havarierte Atomkraftwerk W. I. Lenina ein Sperrgebiet gezogen, weil die Strahlung der Spaltelemente für den Menschen lebensgefährlich war.
Zwar sind die gefährlichste davon mittlerweile abgebaut, Spaltelemente des Cäsiums haben beispielsweise eine Halbwertszeit von 30 Jahren. "Dennoch ist ein Gelände um das Kraftwerk noch viele hunderte Jahre für den Menschen unbewohnbar", sagt Andrij Tymtschuk.
"Halt, hier wird scharf geschossen!" steht auf einem Schild, direkt vor den Stelen von Duga 1. Einst war die Anlage ein sowjetisches Staatsgeheimnis ersten Ranges, heute aber ist der Zaun längst löchrig. Vor 38 Jahren verursachte die Katastrophe von Tschernobyl nicht nur das bis dahin schwerste Atomenergie-Unglück der Geschichte, die Havarie brachte auch das Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg aus dem Takt.
Duga 1, dieser gigantische Radarempfänger, war nur zehn Kilometer vom Reaktorblock 4 entfernt errichtet worden, denn er verbrauchte Unmassen von Strom, der Dank des nahen Nuklearreaktors reichlich vorhanden war – und das ohne Unterbrechung.
In der Sowjetunion war das damals keine Selbstverständlichkeit, für die Wahrung des Weltfriedens, sprich: die permanente Beobachtung des Luftraums der Nato, aber essenziell.
Dafür, dass die Sowjets ihre Anlage ausgerechnet hier platziert hatten, gab es einen zweiten Grund: Wegen des Atomkraftwerkes war die Gegend ohnehin gut überwacht, Ausländer kamen praktisch nie hierher. Mitte der 1980er-Jahre sollte Tschernobyl mit zwölf Reaktoren zur weltweit größten Anlage dieser Art ausgebaut werden, Block 5 und 6 standen kurz vor der Inbetriebnahme.
Duga 1 galt als Herzstück der sowjetischen Verteidigungsstrategie. "Das System war in der Lage, Ziele in einer Entfernung von bis zu 9.000 Kilometern aufzuspüren", so Matthias Uhl, Wissenschaftler am Deutschen Historischen Institut in Moskau. Bis New York seien es von Tschernobyl lediglich 7.500 Kilometer Luftlinie, und als Ziele seien einzeln oder im Pulk anfliegende, mit Atomsprengköpfen bestückte Trägerraketen zu verstehen gewesen.
Flugzeuge schieden aus, da diese ja keine ballistische Flugbahn hatten und nicht wie Interkontinentalraketen durch das All flogen.
Matthias Uhl
Anders als die US-Amerikaner setzte die Sowjetunion nicht auf einen interkontinentalen Raketenabwehrschild. Ihre Strategie war der atomare Gegenschlag. Oder eben Duga 1: Sollten die Vereinigten Staaten jemals eine Atomrakete losschicken, bliebe dank der hohen Sendeleistung genug Zeit, um die Gefahr zu erkennen und als Reaktion das eigene Atomwaffenarsenal Richtung Westen fliegen zu lassen.
Sowjetische Staatsoberhäupter wie Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko wurden nicht müde, die USA immer und immer wieder vor dieser Gegenschlagkraft zu warnen: Bevor euer Sprengkopf unser Territorium erreicht, haben wir euch längst vernichtet.
Aber dann kam der 25. April 1986. Block 4 des Atomkraftwerkes W. I. Lenina nahe der Stadt Prypjat war ans Netz gegangen, ohne dass alle für die Genehmigung notwendigen Tests stattgefunden hatten. Die sollten nachgeholt werden. Zunächst hatte die Tagesschicht den Nachweis zu erbringen, dass bei einem Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine genügend Elektrizität liefern würde, bis die Notstromaggregate ansprängen.
Allerdings war die Stromnachfrage im 110 Kilometer entfernten Kiew an diesem Tag so groß, dass das Experiment abgebrochen und an die Schicht des nächsten Tages übergeben wurde.
Die freilich war auf den Ritt auf der Rasierklinge nicht vorbereitet: Ohne die Risiken zu kennen, fuhren die Ingenieure den Reaktor herunter und bedienten ihn dann falsch. Binnen weniger Sekunden erhitzte sich der Kern bis zum Schmelzpunkt des Kernbrennstoffs, der Reaktor explodierte, eine erhebliche Radioaktivität wurde freigesetzt.
In Prypjat, der nahen Wohnstadt der Atomwerker, nahm man die Gefahr zunächst genauso wenig wahr wie in Duga, der neben der Radaranlage errichteten Siedlung für gut 2.000 Einwohner.
Ingenieure lebten hier, Wissenschaftler, die für den Betrieb der Radaranlage zuständig waren, dazu Militärs, die Daten auswerteten, um auf ihre Weise das atomare Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und dem Weltfrieden zu dienen – sie alle waren mit ihren Familien nach Duga gezogen.
Es gab alles, was dazugehörte: Schulen, Kindergärten, Restaurants, Parks, Polikliniken, Bibliotheken. Daneben existierte natürlich auch eine ganz normale Unterkunft für Wachsoldaten, Pioniere und Versorgungseinheiten mit Kastenbrot, Dienstplan und Disziplin.
Wann genau die Stadt Duga nebst der Kaserne aufgegeben wurde, ist nicht bekannt. Die 50.000 Einwohner der Atomkraftwerkerstadt Prypjat wurden wie die Bevölkerung aus der unmittelbaren Umgebung Tschernobyls am 27. April ab Mittag mit über 1.000 Bussen evakuiert.
Dugas Nachbarort Kopachi räumte man aktenkundig erst Anfang Mai 1986. Das Dorf war derart verstrahlt, dass alle Häuser abgerissen, ihr Baumaterial samt Möbeln, Teppichen und Inventar in ein atomares Zwischenlager verbracht werden musste.
"Woodpecker" nannte die Nato das Kurzwellensignal, das vom System "Duga" erzeugt wurde. Mit einer Frequenz von zehn Hertz blieb es Hobbyfunkern lange ein Rätsel, es hörte sich an wie Spechtklopfen, daher der Name.
"Bei 'Duga' handelte es sich um ein sogenanntes Überhorizontradar, das im Kurzwellenbereich arbeitet und zur Reichweitenerhöhung Reflexionen der Ionosphäre nutzt und so eine Ortung über die Erdkrümmung hinaus ermöglicht", so Militärexperte Uhl.
Drei solcher Sendeeinheiten habe es gegeben. "Die Anlage am Schwarzen Meer bei Mykolajiw diente als Prototyp für Tschernobyl und Komsomolsk." Dort hatten die Sowjets bei 9.400 Kilometer Luftlinie bis New York Duga 2 nahe dem Pazifik aufgebaut, sodass man den gesamten amerikanischen Luftraum unter Kontrolle hatte, zumindest galt das bis zum Reaktorunfall in Tschernobyl.
Getarnt war Duga 1 als Jugendferienheim, noch heute grüßt Mischka, das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980, von der Bushaltestelle. "Duga 1 steht nur noch wegen der Atomkatastrophe von 1986", sagt Johny Pirogow, ehemals Reiseleiter bei Tschernobyl Tour.
In den 2010er-Jahren hatte der Reiseführer Lonely Planet einen Trip nach Tschernobyl als "bizarrsten Tagestour weltweit" empfohlen, was zu einem regelrechten Run auf die Zone führte.
Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 waren russische Militärs daran interessiert, die Spechtklopfer-Anlagen schnell verschwinden zu lassen, weil sie viel über die Sicherheitsarchitektur der Roten Armee verraten. Die Masten in Nikolajew und Komsomolsk wurden gesprengt und eingeschmolzen.
Duga 1 hingegen geriet in der 30-Kilometer-Sperrzone um den explodierten Reaktor in Vergessenheit. "Es gab keine Idee, wie man die Stahlträger hätte umlegen könnte", sagt Fremdenführer Pirogow. Interesse am Stahl hätten viele, der ließe sich häufig verkaufen, doch müsse bei einer Sprengung mit einem lokalen Erdbeben gerechnet werden, das die gerade erst im Erdreich gebundene Radioaktivität wieder freigäbe.
"2021 wurde die Anlage ins Verzeichnis der nationalen Denkmale aufgenommen", sagt der stellvertretende Zonen-Verwalter Andrij Tymtschuk. Damals habe man nicht wissen können, dass die Russen ihren Vormarsch auf Kiew ausgerechnet durch die Sperrzone starten würden. "Der Angriff von weißrussischem Staatsgebiet aus sollte wohl einen besonderen Überraschungsmoment kreieren", mutmaßt Tymtschuk und bilanziert dann:
Die Russen zerstörten so ziemlich alles, was wir in der Zone wieder aufgebaut haben: Straßen, Gebäude, Spezialfahrzeuge, Server, Computer, Dosimeter; die Liste ist lang. Unseren Erhebungen zufolge belaufen sich die Schäden auf mehr als 100 Millionen Euro.
Granateneinschläge, Panzern, die die Erde umpflügten, Stellungen im Roten Wald – der russische Vormarsch setzte im Boden gebunden Radioaktivität wieder frei. "Erhebliche Mengen, wie unsere Messungen ergeben haben" sagt Tymtschuk.
Zwar sei einiges davon mittlerweile durch Wind und Wetter weiter getragen und in der Umwelt "verdünnt" worden. "Wir haben aber spezielle Kontrollen eingeführt und halten ein Dekontaminierungsprogramm bereit für den Fall, dass ein Fahrzeug oder ein Waldstück zu hohe Strahlungswerte aufweist."
Ein anderes Problem dagegen bereitet Tymtschuk und seinenMitarbeitern echte Kopfschmerzen:
Die Russen haben Teile der Zone vermint, auch Blindgänger liegen überall herum.
Dummerweise weiß niemand wo und wieviel der tödlichen Munition im Sperrgebiet liegt. Aber mit einem Feind, den man nicht sieht, haben sie in der strahlenverseuchten Zone gewisse Erfahrungen.