Die deutsche Nachkriegsära ist beendet

Seite 2: Wer ändert unser Bild der Geschichte?

Russlands Krieg in der Ukraine ändert alles, wie auch der Historiker Ernst Piper im Telepolis-Interview feststellte. Was aber ändert wer? Und wie? Bundeskanzler Scholz nahm in seiner Rede zum Gedenktag formal zwar auch Bezug auf den Weizsäcker’schen Dualismus aus 8. Mai 1945 und 30. Januar 1933, ersetzte das frühere Datum argumentativ aber durch den 24. Februar 2022, den Tag der russischen Invasion in der Ukraine.

Das Resümee überrascht: Deutschland müsse den Verteidigungskrieg gegen russische Truppen unterstützen, auch mit der Lieferung von "Waffen (…) in großem Umfang" in einen eskalierenden Krieg – um Krieg zu verhindern.

Es ist, wie angedeutet, nicht das erste Mal, dass sich eine Bundesregierung unter Rückgriff auf die eigene Schuld der Schuldnerrolle zu entziehen und sich der eigenen Geschichte mit dem Ziel zu entledigen versucht, außen- und verteidigungspolitisch wieder handlungsfähig zu werden.

Schon auf dem Kosovo-Sonderparteitag 1999 hatte der damalige Grünen-Außenminister Joseph "Joschka" Fischer die Nato-Angriffe auf das damals noch bestehende Jugoslawien mit den Worten begründet:

Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.

Joseph Fischer (Bündnis 90/ Die Grünen), 13. Mai 1999, Bielefeld

Dazu SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz am vergangenen Sonntag:

Aus der katastrophalen Geschichte unseres Landes zwischen 1933 und 1945 haben wir eine zentrale Lehre gezogen. Sie lautet: "Nie wieder!" Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft.

Olaf Scholz (SPD), Rede zum 8. Mai 2022

Der erstaunliche ähnliche historiografisch-rhetorische Kunstgriff zielt in beiden Fällen darauf ab, sich aus der Gegenwart heraus der lähmenden Vergangenheit zu entledigen.

Niemand scheint da mehr auf den Gedanken zu kommen, dass ein "ehrliches und reines Gedenken" auch darin münden könnte, dass Deutschland seine Autobahnen nicht für Waffenlieferungen und sein Territorium nicht für militärische Ausbildung zur Verfügung stellt, sondern die Kriegsparteien, allen voran die russischen Angreifer, zu Verhandlungen drängt und so seine Brückenfunktion zwischen West und Ost konstruktiv wahrnimmt.