Die fetten Jahren sind vorbei
Die Games Convention wartet wie in jedem Jahr mit Superlativen auf, aber gesucht sind die "digitalen Einwanderer", da die Marktentwicklung rückläufig ist
Alles noch schöner, bunter, größer und lauter: Die fünf Hallenflächen auf der Leipziger Neuen Messe sind restlos ausgebucht, 368 Aussteller präsentieren auf der diesjährigen Games Convention 200 (teils Welt-) Premieren, 150.000 Besucher werden erwartet und mit Sonderzügen aus entlegenen Provinzen herangekarrt. Das Business-Center ist auf 20.000 Quadratmeter angeschwollen, damit der Handel auch ordentlich floriert. Selbst der „Spiegel“ hat vor zwei Wochen pünktlich das Großereignis mit einer Horrorstory über „Crysis“ angekündigt, um die Spielegegner nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Es bedarf raffinierter Kabbalistik, um die aktuellen Marktzahlen der Spieleindustrie als Erfolg auszuweisen. Anders als in den vergangenen Jahren, wo eine Marktsättigung noch nicht abzusehen war, scheint diese sich nun allmählich abzuzeichnen. Vom 15-prozentigen Wachstum wie im Vorjahr ist man weit entfernt.
Den neuesten Erhebungen des Bundesverbandes Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU zufolge ist die allgemeine Marktentwicklung in Deutschland im ersten Halbjahr 2006 rückläufig. Edutainment-Titel haben um 19 Prozent (im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres) verloren, PC-Spiele um sieben Prozent. Allein Videogames konnten bei der verkauften Stückzahl um acht Prozent zulegen, fuhren aber beim Umsatz ein Minus von vier Prozent ein (insgesamt 579 Mio. Euro), da Spiele zunehmend rabattiert werden. Der BIU hebt zwar noch ein Umsatzplus von einem Prozent gegenüber 2005 hervor, doch kann dies allenfalls als Stagnation gelten. Die fetten Jahre sind vorbei.
Der heiße Sommer, die Fußballweltmeisterschaft und ein nahender Generationswechsel bei der Spielehardware werden als Gründe angegeben, warum die Entwicklung weit hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibt. Dementsprechend fallen die Ankündigungen auf den Messeständen der Games Convention am Fachbesuchertag vager aus als noch vor einem Jahr. Damals war in aggressivem Stil von „Haushaltspenetration“ die Rede. Heute macht die Branche sich einige Gedanken darüber, wie sie Nichtspieler, nunmehr „digitale Einwanderer“ genannt, ins Boot zu den „digitalen Einheimischen“ holen könnte. Neue Zielgruppen, insbesondere Frauen und so genannte Best-Ager, Menschen über 50 Jahre, geraten ins Visier. Erste Erfolge sind bereits zu verbuchen: Frauen mischen bei der neuen Generation von Handheld-Spielen ordentlich mit und Plattformen wie Game:Duell, wo die Generation 50+ sich bei „casual games“ (Sudoku, Skat, Mahjongg, Backgammon) vergnügt, erfreuen sich großer Beliebtheit.
Auch „Dr. Kawashimas Gehirn-Training“ – auf der Games Convention von Jörg („Palaver“) Pilawa beworben („Wenn ich meinen Namen für etwas hergebe, dann muss das wissenschaftlich fundiert sein“) – zählt zu den wenigen Edutainment-Titel, die sich gut verkaufen. Am Nintendo-Stand, wo neben Pilawa auch die pinkfarbene Variante des Handhelds Nintendo DS zu sehen war, warteten die Fachbesucher freilich eher auf die neue Spielekonsole „Wii“, mit der Nintendo eine „neue Geschichte bei den Videospielen“ einläuten will. Wie Sprecher Bernd Fakesch erläuterte, sei „die Spielsteuerung das A und O und zugleich Hemmschwelle Nummer eins“. Die stylische Videokonsole Wii wartet daher mit einer gewissermaßen barrierefreien Steuerung auf, die mittels Lagesensoren auf Bewegung und Beschleunigung reagiert. Der „Zauberstab“ genannte Controller erlaubt, virtuell Tennis zu spielen, indem allein der Controller durch die Lüfte geschwungen und die Handbewegung auf den Bildschirm übertragen werden, was Pilawa und ein weiblicher „Best-Ager“ sodann vorführten.
Gründungsmythos der Spieleindustrie
Beim Thema Tennis schlägt das Herz jedes Gamers höher, verbinden sich doch mit diesem Sport wohlige Erinnerungen an die Urzeit des Videospiels. „Pong“ machte es 1972 aus dem Lautsprecher des Schwarzweiß-Fernsehgeräts, und „pong“ erschallt es in Leipzig gleich vielfach. Eine von Andreas Lange vom Berliner Computerspielemuseum zusammen getragene Ausstellung namens pong.mythos widmet sich der Geschichte und künstlerischen Evolution des Videospielklassikers, der „zum Gründungsmythos einer neuen Unterhaltungsindustrie wurde und heute im Kunstbereich eines der meist thematisierten mythischen Motive aus dem Kanon der tradierten Geschichten und Icons unserer jüngeren Mediengeschichte ist“ (Ausstellungskatalog). Ob in der mechanischen Variante („Pongmechanik“ von Niklas Roy) oder auf dem Hochhausdisplay („Blinkenlights“), ob auf dem Fahrrad gespielt („Power Pong“ von Mathilde µP) oder mit den eigenen Füßen auf einer Spielfläche gesteppt („ratio agendi #3“ von Jan-Peter E.R. Sonntag) – wohl kein anderes Spiel wie „Pong“ hat eine solche Anziehungskraft und Bekanntheit erreicht.
Dass die Ausstellung „pong.mythos“ der Games Convention eintausend Quadratmeter teure Hallenfläche wert ist, verdankt sich indessen nicht nur sentimentalen Gründen. Persönliche Erinnerungen von Entscheidern, die vor 35 Jahren zum kleinen Steuerhebel griffen, mögen eine Rolle gespielt haben. Doch darüber hinaus passen sich die Ausstellung und der neu geschaffene Messebereich „GC goes Art“, wo es verblüffendes Character-Design („Digital Beauties“) zu sehen gab und wo ein „Machinima“-Symposium das zehnjährige Bestehen dieser Gattung feierte, gut in das Messekonzept ein. Bekanntlich haben Medienkultobjekte ihr Klassenziel erst erreicht, wenn sie im Museum stehen, wie „pong.mythos“, was bereits im Württembergischen Kunstverein Stuttgart zu sehen war. Der Games Convention muss insofern daran gelegen sein, Computerspiele nicht nur als Handelsgut und lebensweltlichen Alltagsgegenstand zu feiern, sondern sie eben auch als Kunstgegenstand zu überhöhen – in der Annahme, dass die weihevolle Nobilitierung auf die gesamte Spielebranche zurückstrahlt.
Hochauflösendes Schmuddelimage
Immer noch haftet der Spieleindustrie ein Schmuddelimage an. Regelmäßig kehren altbekannte Vorbehalte und Vorwürfe in Form der leidigen Gewaltdiskussion wieder. Das Bürgertum – falls dieser angestaubte Begriff einmal erlaubt sei – wacht mit Argusaugen und unter Zuhilfenahme aller aufzubietenden Kontrollinstanzen über Wohl und Weh der gefährdeten Jugend, zuletzt im besagten Spiegel-Artikel „Es muss bluten, ist doch klar“, wo der Shooter „Crysis“ als „Killerspiel“ gebrandmarkt wird. Tatsächlich weist „Crysis“ einen Hyperrealismus auf, den der Entwickler Cevat Yerli als „übertriebenen Fotorealismus“ beschreibt und dabei ziemlich untertreibt. Bilder von unbekannter Schärfe und einem nie gesehenen Detailreichtum sollen auch Bill Gates – das Spiel wird für Microsofts Xbox 360 hergestellt – zu einem „amazing“ hingerissen haben. Im Dschungel Nordkoreas, durch den der Spieler sich schlagen muss, dringen nicht nur Geschosse saftig schmatzend in die gegnerischen Körper ein. Es werden auch Palmen und Farne, deren einzelne Blätter deutlich zu erkennen sind, vom Kugelhagel sauber abrasiert und sinken knirschend zu Boden.
„Crysis“ steht für eine neue Generation von hoch auflösenden Spielen, deren visueller und auditiver Detailreichtum überwältigend ist. Die für November angekündigte Playstation 3 von Sony sowie ein Zusatzgerät für Microsofts Xbox 360 erlauben dann eine Auflösung in HD-Qualität (1080p), was im Vergleich zum gewohnten Bild ein Quantensprung ist. Tatsächlich ist der Realitätseffekt von Spielen wie „Crysis“ derart hoch, dass von einer „augmentierten“ Realitätserfahrung gesprochen werden kann. Das Spiel zieht den Betrachter derart in seinen Bann und schafft ein beachtliches Involvement, dass der alte Begriff des „Ego-Shooters“ anstelle des neologistischen „First-Person-Shooter“ angebracht erscheint. Wen das auf den Plan ruft, ist absehbar: besorgte Jugendschützer, die damit argumentieren werden, dass die soziale von der virtuellen Realität nicht mehr zu unterscheiden sei.