Die gefährliche Wandlung des Ukraine-Krieges

Seite 2: Ravensburger Verlag am Marterpfahl

Diese Meldung machte nach dem Beluga-Wal in der Seine zunächst den Anschein eines späten Sommerloch-Themas. Doch dann wurde alles ernster: Der Ravensburger Verlag hat unlängst zwei Bücher zu einem Kinder- und Jugendfilm aus dem Programm genommen, die sich mit dem Sujet der Karl-May-Bücher befassten. Die Verantwortlichen des Spiel- und Buch-Verlages waren unerwartet inmitten eines Scheißesturms geraten – einem typischen, neuen Wetterphänomen infolge des medial-politischen Klimawandels. Die Bücher hätten koloniale und damit rassistische Ressentiments befördert, hatte es auf sozialen Medien getönt.

Nun ist das mit Hoch- und Tiefdruckgebieten so eine Sache: sie bedingen einander. Die Ravensburger besänftigten den über sie hereingebrochenen Sturm daher nicht, sondern beschworen eine zweite Unwetterfront herauf, genährt von Unmut jener, die fehlendes Rückgrat in den Verlagsstuben beklagten. Sie störten sich daran, dass der Verlag fast devot vor negativen Zuschriften – wie vielen eigentlich, und von wem? – eingeknickt war.

Das Ganze mündet nun in einer Debatte über "Woke-Wahnsinn". Und in der Tat: Was von einigen Usern nach einem schlecht verstandenen Aimé-Césaire-Proseminar mutmaßlich gut gemeint war, mündet in der realen Welt im Gegenteil: Im Medienecho von NDR bis NZZ kam die kulturelle Rückholaktion weitgehend negativ weg – und das zu Recht.

Denn die Zensurmaßnahme folgt zwar einem restriktiven bis repressiven Zeitgeist, geht tatsächlich aber in mehrfacher Hinsicht nach hinten los: Der Ravensburger Verlag steht mehr denn je im Fokus von Kritik, Gegenkritik und Gegengegenkritik. Und die Wahnsinnsblauen von der AfD, die sonst um keine Anprangerung von "Gender-", "Energie-" oder "Schulden-Wahnsinn" verlegen sind, hatten ein neues Thema. Blöd gelaufen, könnte man meinen, wenn die Sache in ihrer antiintellektuellen Ausprägung nicht so ärgerlich wäre.

Solche Shitstorms von Leuten, die fast alle Tassen im Schrank haben, treffen schließlich nicht nur alte weiße Sachsen wie Karl May, dessen Geburtsregion durchaus besseres hervorgebracht hat, als Radebeuler Fantasiegeschichten. Radeberger Bier etwa. Oder Dresdener Stollen.

Nein, im Visier standen auch schon die Werke der Humanistin und Feministin Astrid Lindgren, wegen deren "Negerkönig" aus dem "Taka-Tuka-Land".

Und wer kennt eigentlich noch den polnischen Pädagogen Janusz Korczak, der die Kinder seines jüdischen Waisenhauses aus dem Warschauer Ghetto bis in die Gaskammer der deutschen Nazi-Mörder in Treblinka begleitete und ihnen so auf ihrem letzten Weg beistand?

Korczaks Kinderbuchfigur König Hänschen will "doch zu den Negern fahren, um ihnen Steinhäuser und Eisenbahnen zu bauen" und ihnen beiläufig die Menschenfresserei abgewöhnen. Harter Tobak, wenn man das im Jahr 2022 liest. Folgt man der Logik der Kritiker solcher Werke, müssten auch Lindgren und Korczak als Rassisten geächtet werden.

Die Initiatoren des Ravensburger Shitstorms können ja mal in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem nachfragen, ob der dortige Janusz-Korczak-Platz umbenannt wird. Das Gedankenspiel zeigt, dass man bei dem Thema in seiner politischen und historischen Dimension über 280 Zeichen hinausdenken muss, was offenbar nur wenigen gelingt.