Die guten Menschen vom Cyberspace

Was unterscheidet die Netizen vom Normalbüger - eine neue Befragung amerikanischer Bürger mit überraschenden Ergebnissen.

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Es gibt Hoffnung im Cyberspace. Der "digitale Bürger" - die neue, bislang übersehene Trendklasse - gehört nicht nur zur technischen, sondern auch zur politischen Elite. In einer von Wired und dem Merrill Lynch Forum durchgeführten Befragung von 1444 zufällig ausgewählten amerikanischen Bürgern stellte sich heraus, daß die "digitalen Bürger optimistisch, tolerant, friedensliebend und dem Wandel zutiefst verpflichtet" sind. Überdies gehen sie zu Wahlen, sind gut informiert, lesen mehr Bücher, glauben, daß die freie Marktwirtschaft Fortschritt bringt, und daß sie die Entwicklungen steuern können - und sehen natürlich das Gute in der Technik.

Aber was ist ein "digitaler Bürger", den man früher einmal Netizen nannte? Die Befragung unterschied "stark Vernetzte" (mindestens drei Mal die Woche Email, Benutzung eines Laptops, eines Handys, eines Beepers und eines PCs), "Vernetzte (mindestens drei Mal die Woche Email und Benutzung von drei der vier anderen Kommunikationsmittel), "halb Vernetzte" (mindestens eines, aber nicht mehr als vier der Kommunikationsmittel) und die armseligen "nicht Vernetzten", die keine der Kommunikationstechnologien benutzen. Meist sind die Vernetzten jung, aber oft schon in den 40ern. Natürlich sind sie überwiegend weiß (87 Prozent) und leben zu 58 Prozent in den Vorstädten. Die Männer sind nur noch geringfügig in der Überzahl. Sie sind besser ausgebildet und verdienen daher mehr als der Durchschnitt. Als gehobener Mittelstand und Ökonomiegewinner schätzen sie nicht nur die freie Wirtschaft, sondern besitzen auch selbst Wertpapiere (82 Prozent). Noch stellen die "stark Vernetzten" nur 2,5 Prozent und die Vernetzten 6 Prozent der amerikanischen Bevölkerung dar, während immerhin beachtliche 29 Prozent ganz und gar nicht vernetzt seien.

Jon Katz, begeisterungsfähiger Redakteur von Wired und dem Neuen des digitalen Zeitalters ergeben, kann sich offenbar beim Kommentieren der Befragung vor Glück nicht fassen. Endlich sind alle Vorurteile der herrschenden, natürlich nicht vernetzten Klasse widerlegt.

"Das Internet ist, wie sich herausstellt, kein Brutgrund für Unverbundenheit, Fragmentierung, Paranoia und Apathie. Digitale Bürger sind weder von anderen Menschen noch von den gesellschaftlichen Institutionen entfremdet. Sie ignorieren auch nicht die innere Funktionsweise unseres Systems oder stehen den sozialen und politischen Problemen gleichgültig gegenüber, denen sich unsere Gesellschaft stellen muß. Der Online-Welt gehören hingegen viele der am besten informierten und aktivsten Bürger an, die wir jemals hatten oder wahrscheinlich haben werden."

Die meisten Informationen erhalten die Supervernetzten jedoch nicht vom Internet (6 Prozent), sondern vom Kabelfernsehen (27 Prozent) und vor allem von Zeitungen (35 Prozent).

Und diese weißen, gut gebildeten, über dem Durchschnitt verdienenden Vertreter des amerikanischen Traums, die gut abgeschirmt in den Vororten und damit unter sich leben, bersten nach Katz vor Toleranz: "Wenn es eine amerikanische Bevölkerungsschicht gibt, die sich am wenigsten um Geschlecht, ethnische Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung kümmert, dann sind das die digitalen Bürger." Das schließt Katz überschwenglich aus der Frage, ob Organisationen produktiver seien, deren Angestellte eher denselben Hintergrund haben oder aus unterschiedlichen Kontexten stammen, was die Supervernetzten mit 80 Prozent gegenüber den Unvernetzten mit 49 Prozent bejahten. Wenn es darum geht, wie man am besten beruflich vorankommt, dann glaubt immerhin die Hälfte der Vermetzten, daß es weniger auf das Wissen oder Können ankommt, sondern eher darauf, wen man kennt. Ob da da nicht doch wieder die sozialen Vorurteile der Kosmopoliten hereinspielen? Über das Internet haben aber nur wenige andere Menschen kennengelernt, mit denen sie darauf Freundschaft schlossen.

Die digitalen Bürger arbeiten nicht nur überwiegend in großen Unternehmen und verdienen mehr Geld als der Durchschnitt, sie sind wohl auch deswegen so optimistisch, weil sie damit rechnen im Jahre 2000 eine feste Anstellung zu haben, und überdies einen Tag während der Woche Zuhause sein zu können. Obwohl sie eher ihre Kreditkartennummer übers Internet mitteilen, sind sie aber nicht allzu interessiert an Telebanking und Teleshopping. Als Technik- und Globalisierungsgewinner schätzen die Supervernetzten den Kapitalismus (50 Prozent), während die "Verlierer" da schon weit vorsichtiger sind (19 Prozent). Seltsamerweise unterschied die Befragung zwischen Kapitalismus und freier Marktwirtschaft. Letztere kam denn auch - vielleicht klingt das nur besser - mit 34 Prozent bei den Unvernetzten besser weg.

Überraschend für den digitalen Revolutionär und Institutionenverächter Jon Katz war, daß die Supervernetzten das gegenwärtige politische System schätzen, sich an ihm, etwa bei Wahlen, aktiver als andere beteiligen und noch dazu patriotisch sind. Je vernetzter die Menschen sind, desto demokratischer sind sie auch. Ja, sie lieben die Demokratie und haben ein riesiges Vertrauen in den freien Markt. Daher sind sie auch davon überzeugt, daß Unternehmer und Firmen den Wandel wirkungsvoller vorantreiben als die Politiker. Für sie hat ein Bill Gates einen ebenso großen Einfluß wie ein Bill Clinton. Sie bezeichnen sich politisch eher als unabhängig, neigen aber auch zu den Republikanern. Wollen Politiker diese "Cowboys und Selbstregulierer" als Wählerschicht gewinnen, sollten sie nicht Parteipolitik machen, sondern überzeugende Ideen vorbringen, über die "drei C's" (capitalism, communication, change) sprechen und den freien Fluß der Information gewähren. Das öffentliche Ausbildungssystem hat bei den Supervernetzten kein sehr hohes Ansehen. Daraus kann man dann auch schließen, wohin die Toleranten ihre Kinder schicken werden. Da die Vernetzung die Ausbildung für sie verbessert, würden die Kinder der virtuellen Klasse vielleicht auch gleich in ihren Vororten Zuhause bleiben und eine virtuelle Schule besuchen.

Erstaunlich - und vermutlich ebenso wie die unbedingte Verschränkung zwischen Demokratie und Kapitalismus für die USA typisch - ist der hohe Prozentsatz an Religiösen selbst bei den Supervernetzten. Fast ebenso viele Supervernetzte (73 Prozent) wie Unvernetzte (80 Prozent) glauben, daß es in Sachen der Moral absolut Wahres und Falsches gibt - die nur Vernetzten sind da offenbar skeptischer. Ein Drittel der Supervernetzten betet mehrmals, weitere 27 Prozent immerhin einmal am Tag, viele gehen auch noch in die Kirche. Also Kirchen ans Netz mit virtuellen Ritualen und Cyberspace-Gebeten!

Je vernetzter die Menschen sind, desto eher sind sie der Meinung, daß künftige technische Innovationen ihnen weniger Freizeit bescheren werden. Da sind die Unvernetzten offenbar doch noch fortschrittsgläubiger. Diese Einsicht trifft sich übrigens auch mit einer von Reuters in Auftrag gegebenen Befragung von Managern aus verschiedenen Ländern, die von einer zunehmenden Belastung (80 Prozent) ausgehen und schon jetzt unter der Informationsflut klagen (61 Prozent). Immerhin schon 60 Prozent sind der Meinung, daß die Kosten der Informationsbeschaffung höher als der Wert der Information sind und daß viele ihre Zeit damit verplempern.

Die von RONIN Corporation durchgeführte Befragung heißt: "Vor dem Bildschirm Kleben: Eine Untersuchung über die weltweite Informationssucht". Da sie anders, also auf die Sorgen und nicht auf die Hoffnungen, angelegt ist, kommen auch andere Ergebnisse heraus, wobei natürlich Manager nicht unbedingt supervernetzt sein müssen. Der Stress in der Arbeit nimmt mit der Vernetzung und der permanenten Verfügbarkeit von immer mehr Information und Kommunikation jedenfalls zu. Und es gäbe auch immer mehr Kollegen, die von der Besessenheit getrieben seien, noch mehr Informationen zu sammeln, und "high" werden, wenn sie denn schließlich die richtige gefunden haben. Zuviele Informationen könnten denn auch zu falschen Entscheidungen führen, und dann ist da noch die neue Suchtkrankheit der Informationsabhängigen.

Befragt wurden die Manager eher darüber, wie sie das Verhalten ihrer Kollegen beurteilen, weil man so hoffte, ehrlichere Antworten zu erhalten. 76 Prozent glauben, daß Menschen informationssüchtig werden könnten, und 47 Prozent behaupten, daß sie bereits Leute kennen, die von der neuen Sucht befallen seien. Viele fürchten, daß ihre Kinder zu sehr der Flut an Informationen ausgesetzt wären. Der Psychologe Markt Griffiths schreibt in seinem Vorwort zur Studie, daß es seit dem letzten Jahr zahlreiche Berichte gegeben habe, die darauf hinweisen, daß soziale Pathologien mit dem Cyberspace einhergehen und eine Minderheit bereits unter dem leidet, was man eine "technische Sucht" nennen könnte. Information wirke wie eine Droge und produziere ähnliche chemische Veränderungen im Körper wie bei krankhaften Spielern.

Und was empfiehlt der Psychologe? Die Grenzen der Technik zu erkennen, die Zeit am Computer zu reduzieren, Mailing Listen, Werbung und Junk Mail zu vermeiden, nur zu bestimmten Zeiten online zu gehen und die Häufigkeit zu beschränken.

Wer ist möglicherweise bereits auf dem Weg zur Informationssucht? Da gibt der Fachmann Hinweise: Wenn man Stunden damit verbracht, nach Informationen zu suchen, obwohl man dies nur ein paar Minuten machen wollte. Wenn man Freunde oder Kollegen über die Länge der Zeit beschwindelt, die man vor dem Computer verbringt. Wenn man oft das Gefühl hat, nicht gleich die richtige Information zu erhalten. Wenn man andauernd seine Email kontrolliert, Termine oder das Essen vergißt, zwischen Euphorie und Schuld im Hinblick auf seine Zeit vor dem Computer schwankt. Aber vielleicht gehören die befragten Manager ja auch noch zur verschwindenden Schicht der digitalen Bürger, die glauben, es müsse in Schulen und Betrieben Informationsmanagement gelehrt werden, während die nachrückende Elite der jungen Netizen von solchen Qualen schon befreit ist.