"Die katholische Kirche muss sich selbst in Frage stellen"
- "Die katholische Kirche muss sich selbst in Frage stellen"
- Nur ein kleiner Teil der Gläubigen folgt der Sexualmoral der Kiche
- Auf einer Seite lesen
Matthias Katsch, Mitbegründer der Betroffenen-Organisation Eckiger Tisch, über das jüngste Gutachten zur sexualisierten Gewalt in der Katholischen Kirche und die Rolle von Kardinal Woelki
Am 8. April 2021 wurden zwei Männer von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet: Matthias Katsch und Klaus Mertes. Katsch ist Absolvent des jesuitischen Canisius-Kollegs in Berlin, Mertes Jesuitenpater und ehemaliger Rektor des Kollegs. Katsch ist zudem Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche und Mitbegründer der Betroffenen-Organisation Eckiger Tisch, Mertes ein an Aufklärung interessierter katholischer Amtsträger.
Das Canisius-Kolleg Berlin wurde 1923 als katholisches Gymnasium vom Jesuitenorden gegründet und ist heute ein privates, staatlich anerkanntes katholisches Gymnasium in Berlin. 1940 wurde es von den Nazis geschlossen und am 1. Juni 1945 als Jungenschule wieder eröffnet. Es ist eines von heute noch drei Jesuiten-Kollegien in Deutschland, ein weiteres gibt es im Schwarzwald und ein drittes in Bonn.
Alle drei waren ehemals reine Jungenschulen und sind heute Gymnasien für Mädchen und Jungen. Im Schwarzwald mit einem angegliederten Internat; alle drei Kollegs sind in den Skandal um sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche verwickelt, ebenso die ehemalige Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg.
Im Jahr 2010 wandte sich Matthias Katsch als ehemaliger Internatsschüler und Betroffener an den damaligen Rektor Klaus Mertes. Er wollte mit den Ehemaligen seiner Schule wegen der Missbrauchsverbrechen in Kontakt kommen. Mertes verfasste einen Brief an mehr als 600 ehemalige Absolventen, mit der Bitte, sich im Falle persönlicher Betroffenheit an ihn zu wenden.
Hunderte Schüler aller drei Kollegien und vieler weiterer katholischer Bildungseinrichtungen meldeten sich zurück. Damit kam das ins Rollen, was heute als "Missbrauchsskandal" innerhalb der katholischen Kirche bekannt ist - wenngleich weder Matthias Katsch noch Klaus Mertes die Ersten waren, die öffentlich darüber sprachen.
Im Februar 2010 hatten sich bei der Anwältin Ursula Raue als "Beauftragte für sexuellen Missbrauchs" des Jesuitenordens bereits innerhalb weniger Tage 115 Betroffene gemeldet. Zudem tat sie in der Frankfurter Allgemein Zeitung (FAZ) ihr Erstaunen über den internen Umgang mit diesen Vorfällen kund: In den Akten des Ordens werde zwar "Fürsorge für Mitbrüder" erkennbar, aber keine "Befassung mit der Seelenlage der anvertrauten Kinder und Jugendlichen".
Im Mai 2010 berichtete die Anwältin schon von 205 ihr gemeldeten Fällen, die meisten davon hätten sich in den 1970er und 80er Jahren ereignet. In ihrem Abschlussbericht attestierte sie dem Orden der Tageszeitung Welt zufolge:
Die Jesuiten haben über Jahrzehnte systematisch sexuelle und körperliche Gewalt gegen Kinder an den Schulen des Ordens vertuscht. Die Täter wurden in mehreren Fällen von ihren Oberen gedeckt und an andere Orte versetzt, wie Ursula Raue, die Missbrauchs-Beauftragte der Jesuiten, bei ihrem Abschlussbericht zu dem Skandal sagte. "Man hat dafür gesorgt, dass die verschoben wurden."
Von 1961 bis 1979 war Alfred Kardinal Bengsch Erzbischof von Berlin, von 1980 bis 1988 Joachim Kardinal Meisner, von 2011 bis 2014 Rainer Maria Kardinal Woelki. Meisner war anschließend und Woelki ist heute Erzbischof von Köln. Letzterer sieht sich als Aufklärer; Matthias Katsch hat daran so seine Zweifel und fordert dessen Rücktritt.
Gutachten: ein Namen fehlte
Kardinal Woelki ließ kürzlich das Gutachten Unabhängige Untersuchung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln von der in der Domstadt ansässigen Kanzlei Gercke ? Wollschläger erstellen und veröffentlichen. Was ist das Ergebnis dieses Gutachtens?
Matthias Katsch: In dem Gutachten wird, wie Anwältin Raue es schon 2010 für den Jesuitenorden feststellte, ein System beschrieben, in dem den beschuldigten "Mitbrüdern" mehr Fürsorge zuteilwurde als der "Seelenlage der Opfer". Das Gutachten behandelt den Zeitraum von 1975 bis 2018, untersucht wurden 236 Aktenvorgänge mit dem Ziel, mögliche bestehende Defizite und Rechtsverstöße sowie die hierfür Verantwortlichen im Erzbistum Köln möglichst konkret zu benennen. Es wurden Hinweise auf 314 Betroffene und 202 Beschuldigte gefunden. Im Umgang mit diesen Vorkommnissen stellten die Gutachter gravierende Mängel fest und nannten in dem Zusammenhang einige Namen von Verantwortlichen, nur einen nicht: den von Rainer Maria Kardinal Woelki.
Obwohl er in die bemängelten Strukturen über Jahrzehnte fest eingebunden war?
Matthias Katsch: Angekündigt wurde ein "unabhängiges" Gutachten. Meines Erachtens dient es indes in erster Linie der Entlastung Woelkis. Das ist der Kanzlei nicht vorzuwerfen, sie hat im Interesse ihres Auftraggebers gehandelt. Und das ist zwar formal das Erzbistum Köln, in persona aber Woelki, der tief eingebunden ist in die Strukturen, die dieses "System aus Schweigen, Geheimhaltung und mangelnde Kontrolle", wie er es selber nennt, möglich gemacht hat. Über Jahrzehnte bekleidete Woelki gewichtige Kirchenämter, arbeitete eng mit den Personen zusammen, die in dem Gutachten namentlich als Verantwortliche genannt werden.
Grundsätzlich kritisiere ich an dem Gutachten, dass es ausschließlich das jeweils geltende Kirchenrecht zum Maßstab zur Beurteilung des Handelns der verantwortlichen Amts- und Würdenträger macht. Ob die Regelungen auch angemessen und moralisch vertretbar oder mit rechtstaatlichen Erfordernissen vereinbar waren, wurde gar nicht hinterfragt.
Es gibt ein vorhergehendes Gutachten von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, bei dem sich die Gutachter die Fälle nicht ausschließlich unter dem Aspekt "Vereinbarkeit mit dem Kirchenrecht" angesehen haben, sondern inner-kirchliches Handeln auch am weltlichen Recht maßen. Davon leiteten sie eine moralische Verpflichtung ab, die "Mitbrüder" nicht stillschweigend zu versetzen und somit die Fälle zu vertuschen und weiterhin Kinder der Gefahr auszusetzen, ihre Opfer zu werden, sondern die Fälle der zuständigen Staatsanwaltschaft zur Kenntnis zu bringen. Die Gutachter verlangten der Kirche, wenn Sie so wollen, Haltung ab. Darauf verzichtete die Kölner Kanzlei. Da sind wir wieder bei Kardinal Woelki, der ebenfalls einen Fall deckte - laut Gutachten im Einklang mit dem Kirchenrecht, meiner Ansicht nach jedoch außerhalb jeder staatlichen Gerichtsbarkeit und fernab jeder moralischen Haltung, die von einem kirchlichen Würdenträger erwartet werden könnte.
Um was genau geht es bei diesem Fall?
Matthias Katsch: Es geht auch um den Vorwurf, seinen langjährigen Freund Pfarrer Johannes O. geschützt zu haben, der sich an einem Jungen im Kindergartenalter vergangen haben soll. Er nahm ihn sogar zu seiner Kardinalsernennung mit nach Rom. O. ist 2017 verstorben. Für meinen Geschmack liest sich das Gutachten in dem Teil wie eine Verteidigung Woelkis. Er mag den kirchenrechtlichen Prämissen entsprechend gehandelt haben, aber er hätte Pfarrer O. anzeigen müssen.
Also war Kardinal Woelki nicht nur qua Amt in dieses System eingebunden, sondern aktiver Teil davon?
Matthias Katsch: Generalvikare, die wissentlich einen Täter schützen und wiederholt - wenn auch an einem anderen Ort - zum Einsatz bringen, machen sich der meiner Ansicht nach der Beihilfe durch Unterlassen schuldig, auch wenn diese Taten natürlich auch als verjährt gelten. Woelki sagt, er hatte nie solche Verantwortung für Personalentscheidungen. Aber er war erst als Sekretär des Kardinals, dann als Weihbischof und schließlich Erzbischof, immer dabei, Teil des Systems und muss Einblicke und Kenntnisse gehabt haben. Da aber das Gercke-Gutachten nur kirchliches Recht zum Maßstab nahm und zu dem Schluss kam, dass Woelki keine Verfehlung in diesem Falle anzulasten sei, würde ich sagen: Für ihn hat sich das Investment gelohnt. Das Gercke-Gutachten ist eine endlose Litanei der mildernden Umstände für Kardinal Woelki.
Inwiefern Investment?
Matthias Katsch: Zum einen arbeiten die Anwaltskanzleien vermutlich nicht pro bono, auch nicht die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, deren Gutachten vielleicht nicht einmal einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden wird; hinzu kommen die Kosten für die PR-Mannschaft, die Kardinal Woelki bestellt hat, um sich und das Gutachten gut zu verkaufen.
Dessen Handeln hat nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den eigenen Reihen zu Unmut geführt.
Wie äußerte sich dieser Unmut?
Matthias Katsch: Der Präventionsbeauftragte Oliver Vogt beispielsweise ist im Februar 2021 aus der Kirche ausgetreten. Er war der Leiter des im Herbst 2019 gegründeten kirchennahen "Institut für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt" in Lantershofen bei Bonn und als solcher u.a. Ansprechpartner der Betroffenen. Er begründete seinen Austritt damit, dass er nicht mittragen könne, dass führende Kirchenvertreter nicht bereit seien, moralisch Verantwortung für die Geschehnisse, an denen sie persönlich beteiligt waren, zu übernehmen. Vogt hat sich sehr dafür eingesetzt, dass das erste Gutachten der Münchner WSW veröffentlicht wird.
Unklare Zahl von Betroffenen
Sie deuteten es schon an: Allein im Erzbistum Köln, bzw. im Gercke-Gutachten, ist von 314 Betroffenen und 202 Beschuldigten die Rede. Was schätzen Sie, über wie viele Betroffene reden wir insgesamt?
Matthias Katsch: Das ist schwer zu sagen. Das Erzbistum Köln hat 2010 schon einmal Zahlen veröffentlicht, das jetzige Gutachten weist etwa vier Mal so viele Betroffene aus, wie die damalige Publikation. 2014 startete die MHG-Studie, ein interdisziplinäres Forschungsverbundprojekt zur Thematik "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz", das vom "Verband der Diözesen Deutschlands" (VDD) in Auftrag gegeben wurde.
Die Gutachter waren Angehörige verschiedener universitärer Institute in Mannheim, Heidelberg und Gießen, daher auch der Name "MHG". Die verzeichnet 3.600 Fälle, 1.670 Kleriker wurden beschuldigt. Bei 54 Prozent der Betroffenen ist von einem Opfer die Rede, bei 42,3 Prozent von zwei bis zu 44 Opfern. Insgesamt wurden fünf Prozent der Priester beschuldigt, deren Personalakte im Rahme der Studie untersucht wurde, durchschnittlich hatte jeder von ihnen 2,5 Opfer. Die Gutachter wiesen damals darauf hin, dass nur das Hellfeld untersucht werden konnte, die Dunkelziffer liege vermutlich sehr viel höher.
Wie hoch schätzen Sie diese Dunkelziffer ein?
Matthias Katsch: Das ist schwer zu sagen. Laut einer Untersuchung in den Niederlanden wurden dort etwa 20.000 Kinder Opfer sexualisierter Gewalt durch katholische Kleriker. Umgerechnet auf Deutschland würde das bedeuten, dass wir etwa über 80.000 Opfer sprechen - allein in der katholischen Kirche. Hochrechnungen der Uni Ulm gehen von etwa 114.000 Opfern in der katholischen und protestantischen Kirche aus. Eine weitere Besonderheit ist, dass vor allem Jungen betroffen sind, während im weltlichen Bereich Mädchen häufiger Opfer sexualisierter Gewalt werden. Wir gehen bislang von etwa zwei Dritteln männlicher Opfer aus.
Ja, klar, es gab keine Regensburger Domspätzinnen …
Matthias Katsch: Und damals waren auch die Jesuiten-Schulen reine Jungenschulen.
Wie ist dieses Ausmaß an sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu erklären?
Matthias Katsch: Das ist ein strukturelles Problem. Dahinter steckt eine negative Sicht auf jede Sexualität, insbesondere aber auf die Homosexualität. Zugleich ist da die versteckte Homosexualität eines großen Teils des Klerus. Gerade die sexualfeindliche Moral zieht offenbar Männer an, die mit ihrer Sexualität nicht im Reinen sind und stattdessen in einer fatalen Kindlichkeit gefangen sind. Das hat weder mit Pädophilie im klinischen Sinne noch mit Homosexualität zu tun, aber viel mit Verdrängung.
Sehen Sie, Jungen, die den klerikalen Weg einschlagen, entscheiden sich als Jugendliche oder junge Erwachsene dafür - oder werden in die Richtung gedrängt. Sie sind - waren es vor allem in der Vergangenheit - in einem rein männlichen Umfeld sozialisiert: Mitschüler und Lehrer. Die ersten sexuellen Erfahrungen machten sie da oft mit Jungen, es gab ja keine Mädchen. Viele sind in ihrer Sexualität einfach auf diesem Level der Pubertät stehen geblieben. Zumal diese fatale Kindlichkeit von der katholischen Kirche gefördert wird, auch im Hinblick auf die Glaubensinhalte. Keuschheit gilt als besondere Tugend, jugendliche Heilige werden inbrünstig verehrt, weil sie noch keinen Sex hatten. So werden die Aspiranten gehalten in einer kindlichen Schwärmerei für Erzählungen über Einstellungen, die vormodern sind. Sie sollen ihren kindlichen Glauben, gar nicht ins Hier und Jetzt übersetzen, also erwachsen werden.
Dieses kindliche Gemüt bewahren sich viele auf ihrem Weg zum Priester - und die damit verbundene sexuelle Unreife, die aus der frühen Jugend im Gedächtnis abgespeicherten sexuellen Erfahrungen. Damals fanden die Masturbationsspiele unter Gleichaltrigen, im Großen und Ganzen auf Augenhöhe statt. Nur, wenn sie Priester sind, geschieht das nicht mehr auf Augenhöhe, sondern im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses. Die Kinder sind dem ausgeliefert. Darüber zu reden wird als "öffentliches Ärgernis" betrachtet. Das ist tatsächlich ein Begriff aus dem Kirchenjargon.
Wie lässt sich das ihrer Ansicht nach aufbrechen?
Matthias Katsch: Da es ein strukturelles Problem ist, nur dadurch, dass die Struktur in Frage gestellt wird.
Also, "das Römische, "das Toxische" am Katholizismus, wie die Aktivistinnen von "Maria 2.0" sagen, muss gebrochen werden?
Matthias Katsch: Ja, die katholische Kirche muss ihre patriarchalen Strukturen in Frage stellen. Die vormoderne Sexualmoral, die Haltung zu Homosexualität, der Zwangszölibat, der Ausschluss von Frauen, insgesamt die Struktur, die auf Macht und Hierarchie aufgebaut ist. Die überkommende kirchliche Moral muss hinterfragt werden. Eine Moral, in der Menschen als Sünder gekennzeichnet werden, weil sie in einer modernen Gesellschaft den Ansprüchen der katholischen Kirche gar nicht gerecht werden können.