"Die liberale Demokratie, in der wir hier leben, bekommt langsam, aber sicher Risse"

Helmut Brandstätter und Nini Tsiklauri von den NEOS über die Krise in Europa und was zu tun wäre

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Helmut Brandstätter war lange Zeit Deutschland-Korrespondent des ORF und hat die Wendezeit Ende der achtziger Jahre hautnah miterlebt. Später wurde er Chefredakteur und Geschäftsführer bei n-tv. Von 2010-2018 war er Chefredakteur des Kurier, von 2013-2019 auch dessen Herausgeber. Derzeit sitzt er als Abgeordneter für die liberale Partei NEOS im österreichischen Nationalrat. Nini Tsiklauri ist Europa-Abgeordnete für die NEOS und engagiert sich bereits seit Jahren für die europäische Idee und die EU. Sie wurde in Georgien geboren und kam über Ungarn und Deutschland schließlich nach Österreich. Ihre persönliche Geschichte ist von der europäischen Idee stark geprägt.

Beide Politiker beschreiben die aktuelle Krise der EU in ihren Büchern und machen sich für die Werte der Union stark: Solidarität, Frieden, Demokratie, aber auch die Vielfalt der Regionen. Inmitten der Politikverdrossenheit und eines grassierenden Rechtspopulismus scheinen diese Werte an Überzeugungskraft zu verlieren. Wie das mit einer gebeutelten EU zusammenhängt, erzählen Helmut Brandstätter und Nini Tsiklauri im gemeinsamen Interview.

Nini Tsiklauri

Wie kam es denn zu Ihren Büchern? Frau Tsiklauri, wollen Sie anfangen?

Nini Tsiklauri: Ja, gerne. Die Idee zum Buch hatte ich schon länger. Ich wollte meine Erfahrungen mit Europa und der EU in ein Buch packen. Auf einer Anti-Brexit-Veranstaltung wurde ich vom Verlag entdeckt, weil ich dort geredet und den Leuten Mut gemacht habe. Es war dieses Jahr im Frühjahr. Während des Lockdowns in der Coronakrise wollte ich dann die Zeit nutzen, alles mal zu sammeln und zu vervollständigen.

Was motivierte Sie?

Nini Tsiklauri: Die Motivation hinter dem Buch ist natürlich, die Menschen der Europäischen Union zu erreichen, das Bewusstsein zu stärken und dieses noch greifbarer zu machen. Das mittels einer echten Geschichte und Emotion. Ich glaube, das wirkt sehr viel besser. Das habe ich selbst erlebt.

Herr Brandstätter, Ihr Buch liest sich etwas anders. Sachlicher vielleicht. Was war Ihre Motivation?

Helmut Brandstätter: Es geht um Europa, es geht um unsere Vergangenheit. Es geht um unser Schicksal als Europäerinnen und Europäer. Da unterscheide ich nicht, ob jemand schon bei der EU ist, denn wenn ich an die Aufklärung denke, dann verbindet uns das mit den Engländern. Egal, ob die in einer EU sind oder nicht.

Es geht also um eine europäische Identität?

Helmut Brandstätter: Sicher. Ich war 1989 mit Helmut Kohl zufällig in Warschau, als die Mauer gefallen ist. Habe das alles aus nächster Nähe erlebt. Damals habe ich als ORF-Korrespondent in Deutschland sehr viel Zeit in Bonn verbracht. War auch auf Reisen mit Kohl und Genscher nach Moskau und an anderen Orte, habe das Werden der Deutschen Einheit mitverfolgt. Vorher war ich viel in der DDR unterwegs und habe gesehen, was der Kommunismus zerstören kann, wie er Menschen und Schicksale prägt.

In Ihrem Buch gehen Sie kritisch auf die aktuellen Entwicklungen in Osteuropa ein. Wie schätzen Sie diese ein?

Helmut Brandstätter: Es ist für mich nur schwer verständlich, wie das passieren kann. Diese unglaubliche Chance, dass sich ein Land und ein Volk selbst befreit hat, was die Polen schon in den siebziger Jahren und die Ungarn in den fünfziger Jahren begonnen haben. Und nun geschieht dieser Rückfall. Eigentlich wollte ich ein Buch unter dem Titel 1919 - 2020 schreiben. Warum ist diese großartige Geschichte, dass sich Völker befreien, Demokratie machen und lernen, gescheitert? Warum gehen diese Nationen zum Teil wieder in Richtung autoritäre Systeme, wie die Polen und die Ungarn?

Was heißt das für Europa?

Helmut Brandstätter: Die Ausgangslage hat sich drastisch verändert: Was passiert jetzt mit Europa? Fallen wir jetzt ganz oder ist das jetzt der letzte Weckruf, ist es die letzte Chance, dass wir Europäerinnen und Europäer verstehen, dass wir nur gemeinsam Krisen meistern können? Wie bereits damals die Finanzkrise, jetzt die Gesundheitskrise und natürlich die Wirtschaftskrise, in der wir mittendrin stecken. Ich bin überzeugt davon, wenn wir Europäerinnen und Europäer nicht in den nächsten paar Jahren - ich rede nicht von zwanzig, dreißig Jahren - begreifen, dass wir zusammenhalten müssen, dass wir uns gegen autoritäre Regime wehren, egal ob sie aus China oder Ungarn kommen, wenn wir nicht begreifen, dass wir diese große Herausforderung gemeinsam realisieren, dann wird Europa zerbröseln. Und dann, behaupte ich, ist alles wieder möglich.

Können Sie das noch spezifizieren?

Helmut Brandstätter: Dann ist wieder ein Krieg möglich. Ich habe drei Kinder: Sie sind 15, 30 und 31 Jahre alt. Ich möchte, dass sie mindestens so schön leben wie wir, wie wahrscheinlich jeder Vater und jede Mutter das seinem Nachwuchs wünscht. Sie sollen die gleichen Chancen haben wie wir. Ich fürchte, wenn in den nächsten Jahren alles falsch läuft, dann haben sie solche Chancen nicht. So lange ich kann, werde ich dafür kämpfen!

Herr Brandstätter, Sie sind nach dem 2. Weltkrieg geboren, haben aber die Auswirkungen noch gespürt. Frau Tsiklauri wurde während des Bürgerkriegs in Georgien (1992) geboren, flüchtete dann mit ihrer Familie und kehrte 2008 wieder ins Land zurück, als ein neuer Konflikt mit Russland ausgebrochen war. Wie prägten diese Erfahrungen den europäischen Gedanken?

Nini Tsiklauri: Es hat sich einiges verändert, seit ich mit meiner Familie dort das letzte Mal gewesen bin. Als ich mich umschaute, merkte ich, dass Georgien ein ganz anderes Land geworden war. Das war unfassbar verändert in jeder Hinsicht. Strom, fließendes Wasser, ausgebaute Straßen. Man konnte das Auto bei meiner Großmutter einfach draußen stehen lassen. Offen, da würde nichts passieren. Das sind Zustände, die wir Ende der Neunziger auf jeden Fall nicht hatten. Das Land hat nach der Rosenrevolution eben versucht, nach vorne zu kommen. Viele Reformen sorgten dafür, das Land bis zu einem gewissen Grad zu "europäisieren".

In Georgien merkt man eine deutliche Hinwendung zu Europa und zur EU.

Nini Tsiklauri: Man hat während der Rosenrevolution gesehen, dass die Menschen Europafahnen mit sich trugen. Da ging es um die europäischen Werte. Die Georgier streben danach, mit diesen europäischen Werten zu leben: in Frieden, Freiheit und Demokratie. Das wird jedem Kind in die Wiege gelegt, das dort auf die Welt kommt. Ich bin nicht die Einzige, die so denkt. In meiner Generation ist das fest verankert. Solch ein kleines Land braucht eine größere Gemeinschaft, an der es sich festhalten kann. Eine Gemeinschaft, die an die europäischen Werte glaubt - und das ist nun mal die Europäische Union. Es gibt keine andere Option. Entweder wir kämpfen dafür und geben alles, um eines Tages den heute noch sehr unrealistischen Traum wahrmachen zu können, einer solchen Gemeinschaft beitreten zu können, um dann folglich endlich die Möglichkeit zu haben, in Sicherheit zu leben. Nicht die Angst zu haben, dass eines Tages wieder die russischen Panzer über die Grenze kommen, um Territorien für sich zu vereinnahmen. Da ist meine Familie auch unmittelbar davon betroffen.

Helmut Brandstätter: Zum Thema Krieg kann ich etwas hinzufügen, da ich mich viel mit dem Balkan beschäftige. Ich bin davon überzeugt, dass auch alle Balkanländer Teil der Union sein müssen. Die Stimmung von 1990 war ja: Der Ewige Friede, das kapitalistische System hat gewonnen, jetzt erhalten wir die Friedensdividende - all diese Schlagwörter hat es gegeben. Kurz darauf begann der jugoslawische Zerfallskrieg. Er dauerte immerhin von 1991 bis 2001, mit vielen Zehntausenden Toten, mit schrecklichen Gewalttaten, Srebrenica steht auch für einen Genozid. Ich habe mit Leuten gesprochen, die damals flüchten mussten.

Es gibt am Balkan natürlich noch Traumata von diesen Kriegen. Auch da sehe ich eine europäische Verantwortung, eine gemeinsame Verantwortung, dass wir uns diese Traumata ansehen müssen. Schauen, wo wir helfen können, wo wir miteinander reden können. Es gibt eine tolle Gruppierung namens RYCOH, bei der sich junge Leute aus den verschiedenen Staaten zusammengeschlossen haben, um miteinander zu reden, weil sie ein gemeinsames Europa aufbauen wollen. Da denke ich, dass es die Jungen besser haben, weil sie es nicht erlebt haben, aber diejenigen, die es erlebt hatten, sind zum Teil immer noch traumatisiert von diesen Gewalttaten. Da dürfen wir nicht wegschauen, auch damit müssen wir uns beschäftigen. Es soll uns eine Warnung sein, was passiert, wenn ein Gebilde wie damals Jugoslawien zerfällt. Wenn Konflikte nicht ausgetragen werden dürfen und dann plötzlich gewaltsam ausgetragen werden.

Helmut Brandstätter (li.) mit dem Bürgermeister von Tirana (Albanien).

Die EU zeichnet sich gerade durch die Vielfalt aus. Aber es wird dies häufig als Argument vorgebracht, dass es nie die Vereinigten Staaten von Europa (VSE) im Sinne einer USA geben könne!

Helmut Brandstätter: Gerade in der Gesundheitspolitik hat man in den USA sehr schön gesehen, dass doch in den einzelnen Staaten entschieden wird und eben nicht bundesweit. Auch bei anderen Themen war das so. Die Idee, dass es eine USA gibt und dort alles zentral entschieden wird, stimmt ja auch nicht. Aber wir müssen in der EU mehr gemeinsam entscheiden. In der österreichischen Diskussion heißt es immer: Es darf nicht zu zentralistisch werden. Was heißt zentralistisch? Es geht um das Gemeinsame - wir brauchen einen gemeinsamen Aktionsplan bei einer Pandemie. Wir müssen gemeinsam entscheiden, wie wir mit Ausgangsbeschränkungen umgehen. Zurzeit haben wir den Tourismus in Europa völlig zerstört, weil gegenseitig Reisewarnungen ausgesprochen werden. Das war wieder etwas Zerstörerisches, statt dass man es gemeinsam macht. Es ist leider noch immer so, dass nationale Führer sich sehr gut vorkommen, wenn sie die Schuld auf Brüssel schieben können, wenn etwas nicht funktioniert. "Die in Brüssel!" Es sind aber nicht "die" in Brüssel schuld, sondern die Chefs und Chefinnen der Nationalstaaten sind schuld, die sich nicht einigen. Das haben wir gerade wieder in der Pandemie gesehen.

Sie als Journalist werden sicher die Medien in Europa verfolgen. Ob dann nicht lieber über ein Scheitern der EU geschrieben wird statt über einen Erfolg der EU?

Helmut Brandstätter: Das ist natürlich schon ein großer Unterschied zu den Vereinigten Staaten. Wir haben keine gemeinsame Sprache. Der österreichische Publizist ungarischer Herkunft Paul Lendvai hat einmal gesagt: "Es gibt schon eine gemeinsame Sprache, nämlich bad English." Aber das ist nicht ganz so lustig, wie es sich anhört. Es gibt vor allem keine gemeinsamen Medien, wie es eben die großen Networks in den USA gibt. Durch die sozialen Medien taucht natürlich mehr Gemeinsamkeit auf. Aber Politikerinnen und Politiker wenden sich immer an die Leute, die sie wählen und zwar über die Medien, die in diesem jeweiligen Bereich tätig sind. Europäische Medien, an die sich europäische Politikerinnen und Politiker wenden können, gibt es eben nicht. Das ist ein Problem und deshalb entsteht auch weniger Gemeinsamkeit. Ein bisschen hat das im vorletzten EU-Wahlkampf funktioniert: Als Martin Schulz gegen Guy Verhofstadt angetreten ist und beide von den nationalen Medien auch als europäische Führungspolitiker angesehen wurden. Normalerweise ist es eine Schwäche der EU, dass es diese gemeinsame europäische Öffentlichkeit nicht gibt.

Wäre denn, Frau Tsiklauri, Pulse of Europe eine solche europäische Öffentlichkeit?

Nini Tsiklauri: Ja. Ich beschreibe im Buch, wie wir mit dem Autorenkollektiv Texte entwarfen, einen Aufruf an die Jugend Europas, dass sie sich engagieren und vereinen muss, die Politik stärken. Wir brauchen junge Menschen in Parteien. Das wurde viel über die sozialen Medien geteilt. Wir sind dann aber auch auf das Problem gestoßen, dass wir nur die Basis erreichen, die diese Zeitung lesen und die eh schon im Thema drin sind. Die große Herausforderung, die wir gesehen haben, war, Menschen zu erreichen, die außerhalb dieser Blase leben. Was diese Menschen in den Medien erreicht, sind eher negative Schlagzeilen beziehungsweise es herrschen so viele Missverständnisse.

Welche etwa?

Nini Tsiklauri: Wenn man über die EU spricht, hat man das Gefühl, man rede über Brüssel, über die EU-Kommission oder das Parlament. Aber die wenigsten Leute verbinden das mit dem Europäischen Rat, mit den Staats- und Regierungschefs, die eigentlich diese Pferdekutsche ziehen, die verantwortlich sind, wohin sich die EU gerade entwickelt. Das ist nicht die EU-Kommission, denn sie stellt Lösungsvorschläge. Sie reagiert ziemlich schnell. Dann aber müssen unsere Staats- und Regierungschefs entscheiden, welche politischen Entscheidungen sie treffen, in welche Richtung sie gehen. Ob sie die europäischen Werte beachten oder nicht. Wie jüngst bezüglich der Flüchtlingskinder aus Moria.

Helmut Brandstätter: Ich finde daran gerade die Emotionen wichtig! Was wir gerade in den letzten Jahren in Österreich, Deutschland und anderen Ländern massiv erlebt haben, sind diese anti-europäischen Emotionen. Ob das durch Zuwanderung oder bereits in der Finanzkrise mit dem Fall Griechenland war, da sind wahnsinnig viele anti-europäische Emotionen geweckt worden. Das Schöne an diesen Bewegungen ist, dass auch Emotionen eine Rolle spielen. Ohne Emotionen kommen wir Menschen nicht aus. Das ist auch richtig so! Da werden positive Emotionen ausgelöst, dass es ein europäisches Gefühl gibt, das Gefühl der Gemeinsamkeit, dass unterschiedliche Personen aus unterschiedlichen Nationen etwas ganz Ähnliches wollen. Sie betonen das aber auch mit Herz und Gefühl, nicht nur mit dem Hirn. Das Hirn ist sicher wichtig und Vernunft ist ein europäischer Wert, aber ohne die positiven Emotionen werden wir Europa nicht weiterbringen. Das freut mich an diesen Aktionen so.

Herr Brandstätter, Sie waren lange Journalist. Wie ist es für Sie nun, die Seiten zu wechseln? In der Politik werden Wörter wie Wahrheit und Solidarität häufig ausgesprochen, aber kritisch betrachtet verlieren diese ab einem gewissen Punkt an Aussagekraft.

Helmut Brandstätter: Das Wort Wahrheit habe ich immer sehr vorsichtig verwendet. Das habe ich von dem großen österreichischen Publizisten Hugo Portisch gelernt: Wir schreiben nicht Wahrheit, wir versuchen immer so nah wie möglich ranzukommen. Wir sind immer sehr vorsichtig, wenn jemand sagt, er habe die Wahrheit. Bemühen wir uns, in ihre Nähe zu kommen, dann sind wir - glaube ich - schon sehr gut. Ich habe ja ungefähr 14 Jahre in Deutschland gelebt, ungefähr die Hälfte in Bonn und Berlin. Ich habe sehr viel mit deutschen Medien und Politikerinnen und Politikern zu tun gehabt. Die Deutschen verwenden unsere gemeinsame Sprache um vieles exakter als die Österreicherinnen und Österreicher. Das habe ich vorher gewusst, und das weiß ich jetzt noch mehr, wo ich doch schon wieder eine ganze Zeit in Österreich zurück bin. Ich versuche aber, diese Erfahrung aus Deutschland weiter für mich zu bewahren und bemühe mich um Exaktheit der Sprache, wie es Journalistinnen und Journalisten immer machen sollten.

Wieviel Europa-Skepsis ist hier notwendig?

Helmut Brandstätter: Wir müssen klarer hinsehen. Wir müssen sehr klar hinsehen, was gerade passiert. Wer sagt was warum? Wir hatten hier in den letzten Wochen aufgrund der Pandemie und Wirtschaftskrise Diskussionen um Zuschüsse. Finanzminister Blümel sagte immer wieder aus, er könne keine Zuschüsse auszahlen und die EU sei schuld. Der EU-Kommissionsvertreter in Wien Dr. Martin Selmayr hat sehr deutlich erwidert: Nein, nicht die EU ist schuld, aber ihr müsst die Anträge schon richtig ausfüllen.

Wir müssen ehrlicher sein: Ja, wir haben durch den Beitritt zur EU ein Stück Souveränität des Staates aufgegeben, aber wir haben eine gemeinsame Souveränität bekommen. Das erwarte ich auch von Politikerinnen und Politikern, dass sie deutlich sagen: Binnenmarkt heißt, dass wir uns an Regeln halten müssen. Aber der Binnenmarkt bevorzugt kleine Länder mehr als große. Also müssten wir dafür sein. Das sind Diskussionen, die zum Teil sehr schwierig sind. Weil Regierungen, die einen besseren Zugang zu Medien haben, wie das in Österreich der Fall ist, sich leichter tun mit ihren flapsigen Formulierungen: "Die EU ist schuld und die Kommission ist schuld!" Wir müssen dann aufklären und sagen: Moment, so ist es nicht! Gott sei Dank gibt es eben den Binnenmarkt und wir müssen mit dem Binnenmarkt richtig umgehen, zu unserem Vorteil.

Da müssten die Medien auch kritischer sein und nicht diese flapsigen Anmerkungen abdrucken!

Helmut Brandstätter: Ja, das stimmt. Da sind wir bei einem ganz heiklen Thema. Das ist in Deutschland nicht so dramatisch wie in Österreich. Die Finanzierung von klassischen Medien, wie Radio, Fernsehen und Zeitung, wird immer schwieriger. Ein großer Kuchen des Werbegeldes geht natürlich in die sozialen Medien. Damit verdienen überwiegend amerikanische Konzerne. Das, was Journalisten brauchen: Zeit zu recherchieren und Zeit zum Nachdenken, wird immer schwieriger, weil ja Redaktionen, die kleiner werden, nicht mehr so viel Kapital zur Verfügung haben.

Die Apparate der Regierungen werden dahingegen immer größer. Im Wiener Bundeskanzleramt gibt es 59 Beamte und Vertragsbedienstete, die nichts anderes zu tun haben, als Public Relations für den Bundeskanzler zu machen. Bei der großen innenpolitischen Redaktion einer österreichischen Zeitung arbeiten vielleicht zehn bis zwölf Leute. Die Übermacht der Medienleute nicht nur von Unternehmen, sondern auch von der Regierung ist geradezu beschämend. Das ist demokratiezersetzend. Das ist eines der großen Probleme, die wir hier haben, dass die PR-Abteilungen der Regierungen wachsen und die journalistischen Unternehmen unter einem sehr großen Druck stehen.

Wie in Polen, wo gewisse Medien der Regierung sehr nahestehen.

Helmut Brandstätter: Ja, in Ungarn ist es sogar noch schlimmer, weil durch die staatliche Medienstiftung Medien aufgekauft und zusammengeführt wurden. Da sind wir eigentlich beim Ausgangspunkt des Gespräches: Wie kann es möglich sein, dass in Ländern, wo sich die Menschen die Freiheit zum Teil wirklich erkämpft haben, diese Freiheit fallen lassen, dass Medien schreiben müssen, was die Regierung sagt, oder - wie in Polen - dass die Justiz der Regierung untergeordnet wird?

Ich möchte nochmals auf ein wichtiges Element in Europa zurückkommen: die Sprache. Frau Tsiklauri, Sie sind in Ungarn aufgewachsen und sprechen die Sprache auch fließend?

Nini Tsiklauri: Ja, es war meine erste Muttersprache. Ich verstehe Ungarisch, spreche es aber mit einem starken deutschen Akzent (lacht). Meine Familie hat noch viele Bekanntschaften dort. Sie waren diejenigen, die uns Mitte der neunziger Jahre geholfen haben, ein Leben aufzubauen. Natürlich haben wir auch andere Erfahrungen gemacht. Über diese Bekannten bekommen wir ein wenig mit, was da eigentlich los ist. Alles konzentriert sich auf Budapest und der Rest ist Provinz. Da denken Menschen oft ganz anders, als man das jetzt in größeren Städten annehmen würde. Das ist sehr schwierig.

Rassistische Stereotype fangen häufig schon in der Volksschule an, mit Liedern, in denen Elemente vorkommen, die sehr fragwürdig sind. Sie sprechen das äußere Erscheinungsbild des Menschen an und werten es ab. Es gibt auch das Problem, dass man Menschen mit einem dunklen Erscheinungstyp (dunkle Haare, dunkle Haut) in einen Topf wirft. Gerne auch "Zigeuner" nennt. Das ist mir passiert. Ich konnte nie verstehen, warum. Als Kind konnte ich das alles gar nicht nachvollziehen. Erst in meiner Jugend, als ich mich damit zu beschäftigen begann, habe ich realisiert, was in den Schulen alles passiert ist. Ich habe deswegen mehrere Schulen wechseln müssen, weil es einfach schwierig war. Ich konnte mich nur schlecht integrieren, obwohl ich fließend Ungarisch gesprochen habe. Also die Sprache ist oft gar nicht so sehr der Schlüssel.

Wie sieht es momentan in Ungarn aus?

Nini Tsiklauri: Ich glaube, dass es in Ungarn viele Menschen gibt, die Angst haben, pro-europäische Ansichten zu vertreten und aktiv dafür einzustehen. Unsere Kolleg*innen von Pulse of Europe hatten am Anfang noch wöchentlich in Ungarn Demos veranstaltet. Diese wurden dann aber ganz schnell aufgelöst, beziehungsweise haben meine Kolleg*innen aus Ungarn berichtet, sie hätten ganz viele Menschen um sich herum bemerkt, die notierten, was sie machen und sie verfolgen. Dann bekamen sie Angst, auf diesen Plätzen zu stehen. Sie stehen da mit großen Europaflaggen und Leute gehen an ihren Ständen vorbei und schimpfen. Sie haben so viel Angst bekommen, dass sie das nicht mehr machen konnten. Das war sehr traurig. Genauso wie Freunde, die Journalisten sind, die sich ein Pseudonym zulegen mussten, weil sie Angst haben, mit ihrem Realnamen regierungskritische beziehungsweise pro-europäische Artikel zu verfassen. So weit ist es dort schon gekommen. Das ist schleichend vor sich gegangen. Ich habe wirklich Angst davor, dass es noch in eine viel schlimmere Richtung geht.

Welche Aussicht hat die EU momentan? Kurz und knapp, bitte.

Nini Tsiklauri: Wir müssen mehr für die EU tun. Die liberale Demokratie, in der wir hier leben, bekommt langsam, aber sicher Risse. Dadurch, dass wir nicht miteinander reden! Daher ist zivilgesellschaftliches Engagement so wichtig.

Helmut Brandstätter: Die letzten Tage müssen uns leider wieder skeptisch stimmen. Wenn Ungarn und Polen Rechtsstaatlichkeit ablehnen und de facto die Corona-Hilfszahlungen verzögern, dann müssen wir ernsthaft darüber reden, ob diese beiden Länder zur EU gehören sollen. Eine EU ohne die zentralen Werte hat auf Dauer keine Existenzberechtigung!

Helmut Brandstätter: Letzter Weckruf für Europa, Wien 2020: Kreymayr & Scheriau.

Nini Tsiklauri: Lasst uns um Europa kämpfen. Mit Mut und Liebe für eine starke EU, Wien 2020: edition a.