Die mörderischste Terror-Kampagne der Gegenwart
Im Schatten der Weltöffentlichkeit morden in Afghanistan weiterhin Drohnen. Allein im Juni fanden mindestens zwanzig Angriffe statt, Tendenz steigend
Am 7. Oktober 2001 begann in Afghanistan die Geschichte des US-amerikanischen Drohnen-Krieges. An jenem Tag, kurz nach den Anschlägen des 11. Septembers, hatten US-Piloten im Combined Air Operations Center (CAOC) in Saudi-Arabien eine Menschenmenge im südafghanischen Kandahar, dem Machtzentrum der damaligen Taliban-Regierung, im Visier. Auch im Pentagon sowie in der CIA-Zentrale in Langley wurde das Geschehen mitverfolgt. Das Ziel der Operation war der Führer der Gruppierung, Mullah Mohammad Omar.
Plötzlich drückte jemand auf den Knopf und eine Hellfire-Rakete schoss in die Menge. Menschen wurden zerfetzt, Körperteile flogen durch die Luft, wie viele starben, war unklar. Währenddessen konnte Omar fliehen und ist bis heute verschwunden. Und wer genau für den ersten US-amerikanischen Drohnen-Angriff der Geschichte verantwortlich war, sprich, wer auf den Knopf gedrückt hat, ist bis heute unklar. "Who the fuck did that?", war die erste Reaktion eines hochrangigen Militärs.
Seitdem gehören Drohnen-Angriffe zum Alltag des Krieges in Afghanistan. Laut dem Bureau of Investigative Journalism (TBIJ), einer in London ansässigen Journalisten-Organisation, ist das Land am Hindukusch das am meisten von Drohnen bombardierte Land der Welt. Allein im Zeitraum 2001 bis 2013 fanden in Afghanistan mindestens 1.670 Drohnen-Angriffe statt. Im Vergleich zu den Ländern, die oft mit dem Drohnen-Krieg der USA in Verbindung gebracht werden (Pakistan: 381 Angriffe zwischen 2004 und 2013; Jemen: 64 Angriffe in 2002, 2011 - 2013; Somalia: 8 Angriffe zwischen 2011 und 2013) ist diese Zahl erschreckend hoch.
Wie viele Menschen durch diese Angriffe bis jetzt getötet wurden, ist unklar. Vor kurzem wurde bekannt, dass mindestens 6.000 Menschen Opfer des Drohnen-Krieges wurden. Dank Recherchen von Organisationen wie TBIJ oder Reprieve, einer in Großbritannien ansässigen Menschenrechtsorganisation, wusste man zuvor, dass rund 3.000 dieser Opfer aus Pakistan (dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, um genau zu sein), dem Jemen und Somalia stammen. Demnach kann man davon ausgehen, dass die 3.000 weiteren Opfer hauptsächlich Afghanistan zuzuordnen sind. Genau sagen lässt sich das jedoch nicht. Daten aus Afghanistan sind praktisch kaum vorhanden. Es existieren so gut wie keine Zahlen und Namen, geschweige denn ein mediales oder politisches Interesse daran.
Jeder ist ein Terrorist
Dieses Desinteresse hat mehrere Gründe. Einerseits will man im Weißen Haus und anderswo weiterhin den Eindruck vermitteln, Drohnen würden präzise Waffen seien, die ausschließlich Terroristen töten. Andererseits will man medial weiterhin ein simples Schwarz-Weiß-Bild, das Konstrukt vom guten Kampf gegen das Böse, aufrechterhalten, um weitere Aggressionen in den jeweiligen Gebieten zu rechtfertigen. Dass an dieser Illusion nicht viel dran ist, liegt mittlerweile jedoch auf der Hand.
Vor einiger Zeit hat der Journalist Noor Behram durch Gespräche mit Journalisten aus der pakistanischen Hauptstadt Islamabad in Erfahrung gebracht, nach welchen Kriterien vorgegangen wird, um Drohnen-Opfer als "Militante" oder "Terrorverdächtige", wie sie oft in zahlreichen Medien beschrieben werden, zu identifizieren. Behram stammt aus Waziristan, dem berühmt-berüchtigten afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, und sucht dort regelmäßig Drohnen-Tatorte auf, um das Geschehen zu dokumentieren.
Den Aussagen der Journalisten zufolge reichen ein Bart, etwas längere Haare und ein Turban oder ein Pakol, eine typisch paschtunische Kopfbedeckung, aus, um als mutmaßliches Al-Qaida- oder Taliban-Mitglied in diversen Zeitungen und Nachrichtenagenturen angeführt zu werden. Im Falle von afghanischen, in Kabul ansässigen Medien ist Ähnliches der Fall. Hier spielt noch die Tatsache eine Rolle, dass die meisten dieser Medien kurz nach dem US-Einmarsch mit diversen US-amerikanischen oder anderen ausländischen Hilfsgeldern gegründet wurden, um die jeweilige Propaganda zu verbreiten. All diese lokalen Meldungen werden auch von internationalen Agenturen wie Reuters oder Associated Press aufgenommen und weiter verbreitet. Das Problem ist jedoch die Tatsache, dass die genannten Merkmale auf praktisch jeden männlichen Paschtunen in diesen Gebieten, egal ob in Pakistan oder in Afghanistan, wo Paschtunen die Bevölkerungsmehrheit bilden, zutreffen. Demnach sind alle männlichen Drohnen-Opfer in dieser Region potenzielle "Terroristen".
Unabhängig davon kam TBIJ vor wenigen Monaten zum Schluss, dass lediglich zwölf Prozent der bekannten Drohnen-Opfer in Pakistan und im Jemen tatsächlich militante Kämpfer waren. Nur vier Prozent aller Opfer konnten auf Al-Qaida zurückgeführt werden. Das Bild der präzisen Drohne existiert demnach nur in den Köpfen westlicher Politiker.
400 Tote in sechs Monaten
"Der Drohnen-Krieg ist die mörderischste Terror-Kampagne der Gegenwart", beschrieb Noam Chomsky, einer der bedeutendsten politischen Denker der Gegenwart sowie Koryphäe der Linguistik, den Drohnen-Krieg seines Landes vor kurzem.
In Afghanistan geht diese Terror-Kampagne weiter und das womöglich heftiger als in allen anderen Gebieten, die von den "Todesengeln", wie die Paschtunen die Drohnen nennen, heimgesucht werden. Allein im Juni fanden mindestens zwanzig Drohnen-Angriffe statt. Dabei wurden über einhundert Menschen getötet. Anfang Juni traf die Hellfire-Rakete einer Drohne eine Nomadengruppe in Khost im Osten Afghanistans. Die Menschen hatten die Beerdigung eines Stammesältesten besucht und waren auf dem Heimweg.
Über dreißig Menschen wurden bei dem Angriff, der in westlichen Medien kaum Beachtung fand, getötet. Anfangs sprach man - wie gewohnt - von getöteten Taliban-Kämpfern, welche die Beerdigung eines ihrer Kommandanten aufgesucht hatten. Erst im Nachhinein kamen die wahren Hintergründe ans Licht. Doch auch in diesem Fall wurde das Lexikon der Drohnen-Anhänger deutlich. Aus Nomaden wurden Taliban-Kämpfer. Der Stammesälteste wurde zum militanten Kommandanten. Die Beerdigung wurde mehr oder weniger zu einer extremistischen Versammlung umgeschrieben. Das geschah in Afghanistan nicht selten auch mit Hochzeiten, nachdem sie bombardiert wurden.
In den letzten Monaten haben die Drohnen-Angriffe in Afghanistan zugenommen. Mindestens vierhundert Menschen sollen seit Beginn des Jahres getötet worden sein. Ein Umstand, der von der Regierung in Kabul vollkommen ignoriert wird. Dies ist nicht verwunderlich. Ähnlich wie die pakistanische Regierung nimmt man in Kabul jegliches Vorgehen seitens der USA in Kauf.
In Washington weiß man mittlerweile, dass auf Präsident Ashraf Ghani, der im vergangenen Jahr nach einem monatelangen Wahltheater seinen Vorgänger Hamid Karzai beerbt hat, Verlass ist. Kurz nach seinem Amtsantritt unterzeichnete Ghani ein umfassendes Bilaterales Sicherheitsabkommen (BSA) mit den USA. Seitdem gehören Drohnen-Angriffe, Bombardements sowie nächtliche Hausdurchsuchungen, die nicht selten mit einem Massaker enden, wieder mehr zum Alltag der Afghanen.
Unter Hamid Karzai waren diese Praktiken verpönt. Immer wieder erließ er Dekrete, um sie zu verbieten, auch wenn sie meistens ignoriert wurden. Karzais anti-amerikanische Haltung und seine Verweigerung der Unterzeichnung des BSA verschlechterten die amerikanisch-afghanischen Beziehungen in den letzten Monaten seiner Amtszeit erheblich. Doch dies gehört der Vergangenheit an. Ashraf Ghani empfängt regelmäßig hochrangige US-Militärs und trinkt mit ihnen Tee. Währenddessen vermehren sich die Todesengel über den Himmel am Hindukusch und morden hemmungslos weiter.