Die neue Netzliteratur
Wo ist sie nur? Wo?
Weihnachtszeit, Lesezeit: Wann, wenn nicht jetzt, kommt man denn mal so richtig zum Lesen. In gedruckter Form, sprich: in Büchern, ist das Angebot derzeit überwältigend und wächst von Jahr zu Jahr immer weiter an. Aber im Internet tut sich Literatur seltsamerweise immer noch schwer. Warum nur?
Im Internet gibt es bekanntlich nichts, was es nicht gibt. Auf den ersten Blick gilt das auch für die Literatur. Jeder Verlag, der etwas auf sich hält und weiß, wie leicht es ist, im Netz unter Umgehung von Vertretern, Groß- und Einzelhandel Geld zu verdienen, hat seine eigene Website; bei Amazon und Ebay gehört der Verkauf von neuen oder gebrauchten Büchern längst zum Kerngeschäft; das Rezensionsfeuilleton, die Literaturfakultäten der Unis und selbst der traditionelle Buchhandel gehen in Scharen online.
Allein, wer genauer hinsieht, kommt dabei zu seltsamen Ergebnissen. Wer sich hierzulande aus literarischen Kreisen im Netz tummelt, nutzt deswegen noch lange nicht die Stärken und Möglichkeiten, die dieses Medium bietet: Aktualität, Schnelligkeit, technische Innovation, Subjektivität, Interaktion und vor allem: Vernetzung. Sehen wir uns doch einfach mal in der Literaturszene um, überprüfen wie sich Verlage, Autoren und Rezensenten online präsentieren und schauen, ob und wie die Literatur das Netz beeinflusst bzw. umgekehrt, ob und wie Literatur sich durch das Internet verändert.
Beginnen wir mit jenen, die den höchsten Stellenwert in der Literatur haben sollten: den Autoren. Da war doch mal was, es ist noch gar nicht so lange her. Rainald Goetz’ brillierte im Netz mit „Abfall für alle“, die jungen deutschen Literaten versammelten sich wahlweise Am Pool oder im „Forum der Dreizehn“ (vgl. Zwischendurch: neue, junge Literatur) (heute: Forum der 13:www.the-real-world.de/fd13/index.htm und wem das zu kollektiv war, der ließ sich vom Verlag ein so genanntes Writersblog einrichten.
Heute suchen Sie nach Goetz – nicht nur im Netz – vergeblich. „Am Pool“ wird fündig, wer ein Hotel mit Pool sucht, das „Forum der 13“ kommt nicht nur optisch grau in grau daher und zahlreiche Writersblogs sind längst wieder dicht oder wollten ohnehin nie eins sein. Haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Netz einfach nichts mehr zu sagen? Das kann nicht sein. Die Linkliste zu bloggenden deutschsprachigen Autoren auf blog.literaturwelt.de ist lang und, wie die Betreiber selbst schreiben, alles andere als vollständig. Sie reicht von A wie Alban Nikolai Herbst bis zum Y wie in yuniversum. Z entfällt ganz, weil Peter-Paul Zahl und Raul Zelik zwar eine eigene Webpage, aber kein Blog haben, und Feridun Zaimoglu ein liebenswerter Technikmuffel ist, der nicht mal seine Mails abruft.
Dabei stehen neue, auf die Netzbegleitung eines aktuellen Buches zielende Blogs wie Oliver Maria Schmitts Punkblog neben älteren Spezialistenblogs wie Jochen Schmidts regelmäßiger Proust-Lektüre, freie Autoren wie Bov Bjerg konkurrieren mit von Medien oder Verlagen unterstützten Literaturbloggern wie Jan Weiler oder Thomas Kapielski um die Aufmerksamkeit der Netzbesucher. Manche Schriftsteller mischen in weiteren kollektiven Blogs mit – was wäre die Riesenmaschine ohne Kathrin Passig und Wolfgang Herrndorf? -, einige bloggen gemeinsam und doch getrennt, andere führen ein verbissenes dichterisches Einzelkämpferdasein.
Was aber macht der Schriftsteller in seinem Blog?
Ist für ihn das Netz bloß eine Abwurfstelle für bisher unveröffentlichte Texte? Lässt er dort seinem Mitteilungsdrang – ungehindert von Lektoren, Lesern und Verkaufserwartungen – freien Lauf? Oder ist er im Gegenteil gehemmt, weil jede Veröffentlichung im Internet eine Veröffentlichung woanders weniger bedeuten kann, da Printmedien und Verlage immer noch Wert auf Exklusivität legen?
Nehmen wir ein Beispiel, das typisch und untypisch zugleich ist - typisch, wo es um die Inhalte geht, untypisch in der Form: Alban Nikolai Herbst wartet mit Aphorismen, Lyrik, Begriffsbestimmungen, Skizzen sowie selbstreferenziellen Passagen auf. Man muss ihn als Schriftsteller nicht mögen, um ihm doch ein gutes Gespür für das Schreiben im Netz zu bescheinigen. Seine Blogbeiträge lesen sich wie Vorarbeiten zu literarischen Texten, sie sind kurz, variabel im Tempo und halten eine adrette Balance zwischen der Subjektivität des Tagebuchs und einem gewissen Überschuss, den es manchmal braucht, um daraus Literatur werden zu lassen – prätenziöse Passagen inbegriffen.
Auch formal steht Herbst im Netz gut da. Viele Beiträge sind verlinkt, aktuelle Einträge werden gesondert aufgezeigt, es gibt Kommentar- und Suchfunktionen sowie RSS und ein Archiv, Hinweise zum sonstigen Werk des Autors sind vorhanden, aber dezent in die Seite eingearbeitet. Die Blogroll ist jedoch recht dürftig. Dass Herbsts stellenweise arg behäbiger Stil nicht recht zum Internet passt, kann man ihm zwar zum Vorwurf machen, das betrifft aber mehr den Schriftsteller und weniger den Blogger. Immerhin: Hier hat jemand begriffen, wie sich Literatur im Netz ansatzweise behaupten kann.
All das ist immer noch weit entfernt von einer Literatur im Netz, die das Wissen um den Publikationsort in sich trägt, die sich also allein dadurch verändert, dass sie im und fürs Internet geschrieben wurde. William Gibson und Neal Stephenson haben in ihren Werken sehr früh über das Netz geschrieben und das in einer Sprache, die sowohl buch- wie netzkompatibel war und somit beides – Literatur- und Netzsprache – nachhaltig beeinflusst und verändert hat. Beide haben sich in ihren jüngsten Romanen mehr oder weniger vom Internet abgewandt, sodass ähnlich wie in Deutschland nach Goetz eine Lücke entstanden ist, die derzeit niemand zu füllen in der Lage ist.
Niemand? Man sollte nicht den stets umtriebigen Dave Eggers vergessen. Zwar ist er weder Blogger noch war er je Cyberpunk, doch sein Internetauftritt und vor allem seine Schreibweise sind sehr avanciert. Jeder seiner Romane – auf Deutsch ist gerade „Ihr werdet (noch) merken, wie schnell wir sind“ erschienen – liest sich wie Literatur, die im und fürs Netz geschrieben wurde. Und doch sind sie dort nur in Auszügen vorhanden, wer sie ganz lesen will, muss zum Buch greifen. Wie unfair!
Im zweiten Teil: Deutsche Verlage und Literaturforen auf der Suche nach der Netzliteratur