Die neue, alte Bedrohung aus dem Osten

Seite 2: Die ungelösten Aufgaben der Gegenwart und Zukunft

Dafür bedarf es allerdings eines Deutschlands, das auch in der Lage ist, dieser seiner immensen Verantwortung, die es als Lehre aus der Vergangenheit für sich gefolgert hat, gerecht zu werden. Wie aber soll ein ohne alle Macht darnieder liegendes Deutschland dieser immensen historischen Verantwortung gerecht werden und andere Staaten, gar existierende oder zukünftige Weltmächte daran hindern, eigene Überlegenheit anzusteuern und womöglich mitten im blühenden Weltfrieden Krieg vorzubereiten und durchzuführen?

Es gibt nach Weizsäcker eine Lösung oder Erlösung aus diesem unbefriedigenden Dilemma, "wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten, nutzen".

Zum einen ist damit die eingangs gestellte Frage geklärt, warum der von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erinnerungsweckruf mit der Idee der erlösenden Befreiung des großen Ganzen erfolgreich die verbindlichen Leitlinien der Selbstbetrachtung und Selbstdarstellung des offenbar absolut "neuen" Deutschland ab 8. Mai 1945 bis auf heute bildet: Es sind die anerkanntermaßen "ungelösten Aufgaben, die auf uns warten", die immense außen-, geo- und weltpolitische Aufgabe, künftig ein "unübersehbares Heer von Toten" zu verhindern, und zwar weitab von dieser anempfohlenen Sichtweise: "Das Grauen überfordert uns bis heute (...)".

Nur dann kann das neue Deutschland den Schlussstrich ziehen, um sich, erlöst von der Last der Vergangenheit, den ungelösten Aufgaben in Gegenwart und Zukunft zuwenden: als zukünftige mitbestimmenden Weltfriedensmacht entgegen allen gegenwärtigen und zukünftigen Staaten oder Weltmächten dem Weltfrieden und der Weltfriedensordnung dienen. Diese Tat der Befreiung von der Vergangenheit hat der 8. Mai 1945 eingeleitet.

Allerdings ist zu bedenken: "Die Befreiung war 1945 von außen gekommen. Sie musste von außen kommen - so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes Unheil, in seine Schuld" (Steinmeier, 8. Mai 2020).

Doch die Erlösung von der offensichtlichen Verstrickung Deutschlands in sein eigenes Unheil und in seine eigene Schuld, in das absolute Böse, wie es auch diese alttestamentarisch-theologische Betrachtung der Vergangenheit dem Publikum nahebringen und ans Herz legen will, ist auch durch eine eigene Tat der Befreiung zum benannten Höherem möglich: "Befreiung ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue" (Steinmeier).

Das ist so, weil der Weg zu einer globalen, mitbestimmenden Weltfriedensmacht ein langer ist. Dazu ermahnt die Erinnerungskultur, das heißt: Erinnerung als ein Werkzeug mit dem geo- und weltpolitischen Inhalt, das wiederauferstandene Deutschland als künftig mitbestimmende Weltfriedensmacht sich vorzustellen und zu wünschen.

Denn: "Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft. Die Erinnerung fordert und verpflichtet uns!" (Steinmeier)

Der dritte Griff zur Weltmacht

So sagt, so will, so beansprucht es der politische Regisseur, der Subjekt und Dramaturg des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses sein will, "implantierte Erinnerungen". Dies ist dem von Theodor Heuss ins Leben gerufenen Erinnerungsweckruf ersichtlich relativ gut gelungen.

Auch wenn die Erinnerung in Gestalt des staatlich inszenierten Erinnerungs- und Erweckungsaufrufs, auch wenn die politisch "herrschende Meta-Erzählung" ihrer ständigen Aktualisierung gemäß der neu gestellten geo- und weltpolitischen Aufgabe bedarf, die sich die alte neue Staatsräson als mitbestimmende Weltfriedensmacht in der Gegenwart und für die Zukunft gestellt hat: Das zukunftsträchtige Projekt eines dritten Griffs zur Weltmacht ist seit dem 8. Mai 1945 nicht ohne Erfolg in Angriff genommen worden.

Unzweifelhaft hat Deutschland oder haben "wir" inzwischen einen gebührenden Platz an der Sonne in der höchsten Sphäre der Konkurrenz um Weltmarkt und Weltmacht erobert. Diesmal jedoch gilt, dass der dritte Griff zur Weltmacht "nie wieder allein" geschehen soll, geschehen kann, nolens volens angesichts der geltenden Pax Americana:

"Nie wieder!" - das haben wir uns nach dem Krieg geschworen. Doch dieses "Nie wieder!", es bedeutet für uns Deutsche vor allem: 'Nie wieder allein!' Und dieser Satz gilt nirgendwo so sehr wie in Europa. Wir müssen Europa zusammenhalten.

Frank-Walter Steinmeier, 8. Mai 2020

So gilt als deutsch-europäisch weltpolitische Maxime: "Eigene politische und militärische Macht strebte Deutschland auch nach der Wiedervereinigung nicht an, allenfalls im Kontext multilateraler Institutionen wie EU, Nato und UNO" (Der Spiegel, 8. Mai 2020)

Auf dieser erreichten Stufe des gelungenen, wenn auch unabgeschlossenen, dritten geo- und weltpolitisch relevanten Griffs zur Weltmacht, hat die alte neue Staatsräson im Verbund mit USA, Nato, UN-Beschlüssen und als europäische Führungsmacht seit 1945 einiges erreicht im längst erworbenen gewichtigen Mitspracherecht hinsichtlich des globalen Hausherrenrechts über den Globus.

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