Die offene Gesellschaft und ihre Wärter

Seite 2: "Sie als Roma und Sinti"

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Es stimmt schon: Man muss heute nicht unbedingt "Neger" sagen, obwohl das eigentlich nur "Schwarze" auf Spanisch meint, und obwohl "der amerikanische Negerführer Malcolm X" viel viel besser klingt, als "der Vertreter der Afroamerikaner". Außerdem sind ja nicht alle Neger Afroamerikaner. Aber muss man deswegen auch die zu "Negerküssen" umkorrigierten "Mohrenköpfe" jetzt "Schokokuss" nennen?

Muss man "Tim und Struppi" und "Pippi Langstrumpf" in sprachbereinigten Ausgaben ("Südseeprinzessin" statt "Negerprinzessin") in die Welt bringen? Muss man "Länder des globalen Südens" statt "Dritte Welt" sagen? Einen Menschen mit Migrationshintergrund mit "Sie als Roma und Sinti" ansprechen, statt als "Zigeuner", obwohl er immer nur entweder Roma oder Sinti ist, nie beides zugleich, und die meisten Roma und Sinti sich selbst "Zigeuner" nennen und nicht wissen, ob sie Roma oder Sinti sind?

Stammen derartige und andere Wortverdrehungen nicht meist nur von den jeweiligen Interessenverbänden, nicht von den Menschen selbst?

Bemerkenswerterweise gibt es zwar viele Zuhörerinnen und Zuhörer, aber nie Faschistinnen und Faschisten, Mörderinnen und Mörder.

Die Idee hinter der politisch korrekten Sprache ist zutiefst unpolitisch, nämlich dass sich die Gefühlswelt eines Menschen seiner Sprache anpasst. So entsteht die "Euphemismustretmühle" wie der Brauch, statt von Ausländern, Zuwanderern und Flüchtlingen von Menschen "mit Migrationshintergrund" zu reden. Gemeint und gedacht ist aber doch: Südostzuwanderer arabischer oder afrikanischer oder osteuropäischer Herkunft. Zuwanderer aus Frankreich oder den USA würde man nie als Mensch mit Migrationshintergrund bezeichnen.

Der Diskurs der "Political Correctness" lässt der Sprache mehr Aufmerksamkeit zuteil werden als den Machtstrukturen, die eigentlich zu ändern wären. Dass Sprache selbst Macht sei, ist eine bequeme Lüge. Eine Lüge, die vom Handeln abhält vom politischen Handeln, das immer Machthandeln ist.

Die Identitären von Links?

Die Bundesrepublik ist eine Gesellschaft, die an nichts mehr glaubt - schon gar nicht ans Mundhalten, ans Nicht-Kommentieren, allenfalls an Dauerbetreuung durch Sozialpädagogen. "Political Correctness", das ist die Propaganda dieser neuen Moral nach dem Ende der Moral. Sie ist die Antwort der Verunsicherten, die die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in eine Vielzahl von Szenen und Milieus nicht ertragen, nicht damit umgehen können, dass jedes Milieu seinen jeweils eigenen Regelkanon definiert.

In dieser "neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) antworten auch linke und linksliberale Milieus mit einer neuen Sehnsucht nach Geborgenheit, nach "Leitkultur", neudeutsch "Identität". Daher die neue Attraktivität des Opferstatus: Jeder möchte ein Betroffener, ein Opfer von irgendetwas sein (die Täterdeutschen sowieso), dann verdient er Aufmerksamkeit, und dann kann er von anderen die Erfüllung bestimmter Verhaltensweisen einfordern.

Eine "infantile Kultur der Wehleidigkeit" (Robert Hughes) kennzeichnet die gegenwärtigen Verhältnisse. Sie bildet das Gegenüber und die logische Voraussetzung aller "Political Correctness". Wer weiß, was politisch geboten ist, vermeidet den Stress, sein Leben nachmetaphysisch, ohne die Krücken einer Tradition und Religion, täglich neu erfinden zu müssen.

Entlastungsdiskurse und Ersatzhandlungen

"Political Correctness" ist auch in ihren anderen Erscheinungsformen der Entlastungsdiskurs und Ersatzhandlung einer Gesellschaft, die in "transzendentaler Obdachlosigkeit" (Georg Lukacs) an nichts mehr glaubt, und der der Mut fehlt, um Werte und Macht zu streiten. Denn das hieße, sich moralisch die Hände schmutzig zu machen. Was die Gesellschaft der Wächter der "Political Correctness" aber will, ist Reinheit, Sauberkeit und ein blitzblankes Gewissen.

Mülltrennung machen wir daher schon lange, Pazifismus noch länger, denn wir sind ja nicht für Krieg oder den Weltuntergang. Den verhindern wir seit etwa fünf Jahren auch mit dem Konsum von Bio-Eis, dass zwar nicht mehr so lecker schmeckt wie Langnese, aber dafür ein starkes Statement für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ist. Unseren Porsche haben wir an einen Russen verkauft, das Rauchen aufgegeben, den Veggie-Day längst eingeführt.

Wir haben für unsere Mitbürger nur das Beste im Sinn. Unsere Putzfrau nennen wir jetzt Raumpflegerin, sie kommt aber immer noch aus Polen, und versteht das Wort sowieso nicht: "Putzen" sagt sie, nicht "Raum pflegen." Mit den Tierschutzverbänden verlangen wir das Menschenrecht für Affen, und wir reden nur noch "von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren".

"Political Correctness" ist daher auch "Kampf um Anerkennung" (Hegel) und um einen Platz in der ersten Reihe der Betroffenenlobbys. Beauftragte, Beraterstellen und Sozialarbeiterposten winken dem, der öffentlich gefördert wird. So ist heute die Moral des politisch Korrekten die schlagende Waffe zur Durchsetzung wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Ziele. Was auf der Strecke bleibt, ist die Freiheit

Pflaumenkuchen mit Ketschup - was heißt nochmal Toleranz?

Toleranz heißt nicht, dass jeder das tun darf, was er tun soll. Sondern genau im Gegenteil: Dass jeder das tun darf, was alle anderen ganz schlimm finden und ungesund und ihm selbst am meisten schadend. Er darf das, solange er nicht anderen damit aktiv schadet.

Und um "Schaden" handelt es sich in dem Zusammenhang noch nicht, wenn sie das nur ertragen oder mitansehen müssen. Pflaumenkuchen mit Ketschup zum Beispiel - ein fürchterlicher Gedanke. Wenn aber einer das essen will, dann ist das natürlich nur seine Sache. Toleranz heißt, dass jeder Mensch ganz schlimme Dinge tun darf.

Natürlich darf man Sachen verbieten, man sollte aber nur Sachen verbieten, die andere aktiv stören. (Mich persönlich stören zum Beispiel Leute mit hässlichen Tattoos, aber ich käme nie auf den Gedanken, diese zu verbieten). Daher gilt: Intoleranz nur für die Feinde der Toleranz. Im Zweifel für die Freiheit, nicht gegen sie.