Die offene Gesellschaft und ihre Wärter

Bild: Emu/Graz, Österreich / CC BY 1.0

In der Endlosschleife der Tugend: "Political Correctness" ist der Entlastungsdiskurs einer Gesellschaft, die an nichts mehr glaubt

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Um einen Fall von Columbusing handelt es sich immer dann, wenn weiße Menschen den Anspruch erheben, etwas entdeckt zu haben, was in Wahrheit vor ihnen bereits entdeckt worden ist, wie eben Amerika. Der politisch korrekte Weiße behauptet also nicht mehr, er habe da eine entzückende kleine Trattoria entdeckt, sondern er habe sie "columbused". ... Ungeklärt ist jedoch, wie man im umgekehrten Fall verfahren soll, wenn zum Beispiel Schwarze etwas entdeckt haben, das für Nicht-Schwarze ein alter Hut ist.

Wird diese Sache dann othelloed oder gar malcolmxed? Oder wäre das auch schon wieder rassistisch? Schließlich ist es bereits schwierig genug, sich zu einigen, wie eigentlich diejenigen genannt werden, die das neue Wort Columbusing erfunden haben. Schwarze? Afroamerikaner? Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund? Sagen wir doch einfach Einheimische. Das ist ungefähr so eindeutig wie Kolumbus’ Indianer, die er für Inder hielt, obwohl sie Amerikaner waren.

Christopher Schmidt, SZ, 28.6.14

Richtig "political correct" wäre es natürlich, den Begriff "political correct" gar nicht erst zu verwenden. Und viel bequemer wäre es auch. Aber welchen Begriff könnte man dann stattdessen nehmen? Vorschläge sind willkommen.

Womit könnte man das bezeichnen, was an Verhaltens-, Benennungs- und Denk-Vorschriften von den selbsternannten Sozialpädagogen unserer Gesellschaft, von Vätern am Wochenende und Müttern auf dem Kinderspielplatz, von Grünen-Politikern, Ökologie- und Ernährungs-Fundis, Religionsverstehern, Nachhaltigkeitsfetischisten und "kritischen Studierenden" aller Fächer, von der semantischen Polizei des "Syndikats für gerechte Sprache" und den Anti-Pragmatisten der "Gesellschaft für gutes Handeln" in den letzten drei Jahrzehnten in die Welt gesetzt wurde? Kokette Fladen, die in den Rändern der Gesellschaft vor sich hin dampfen.

Computerverbot im Café nach 20 Uhr

Was ist gemeint? Drei vollkommen unzusammenhängende Beispiele: In der SZ vom 19.01.2017 fällt Michael Stallknecht in seiner Rezension von Jan Assmanns Buch "Totale Religion" auf, dass dieser den latent totalitären Zug von Religion in einem Rückgriff auf die Totalitarismustheorie des Staatsrechtlers Carl Schmitt analysiert. Er nennt die "Parallele zwischen einer jüdischen Quelle und einem Theoretiker des Nationalsozialismus zu ziehen", "geschmacklich fragwürdig".

Im hessischen Limburg gelang es einer einzelnen Veganerin durch ihre Klage die Stadtverwaltung dazu zu bringen, das traditionelle Glockenspiel abzusetzen, das die Melodie des Kinderliedes "Fuchs Du hast die Gans gestohlen" intonierte. Erst nach massivem öffentlichem Widerspruch wiederum gegen diese Entscheidung wurde sie rückgängig gemacht.

In der Berliner Bar Haliflor, gelegen mitten im Berlin direkt an der Grenze zwischen hipper Mitte und Prenzlauer Berg, und eigentlich ein Ruhepol zwischen all den Hipster-und Touristen-Lokalen, gibt es jetzt seit ein paar Wochen ab 20 Uhr Computerverbot (draußen wie drinnen). Smartphones, Lesen und Schreiben auf Papier sind weiter erlaubt. Weil das wahrscheinlich irgendwie Jean-Paul-Sartre-mäßiger aussieht, wobei der heute bestimmt ein Notebook hätte.

Es ist aber vor allem ein Beispiel für das neue puritanische Reinheitswahn-Berlin und "very-Mitte": Hauptsache, irgendwas verbieten und fasten. In jedem Wiener Caféhaus könnten die Betreiber zuschauen und lernen, wie man seinen Gästen das Beste tut.

Das Prinzip Freiheitseinschränkung

In allen drei Fällen geht es um das Gleiche: Das Prinzip Freiheitseinschränkung. Nicht einfach Meinungsäußerung, sondern Einschüchterung. Mögliche oder tatsächliche Empfindlichkeiten Einzelner sollen zum Maßstab eines allgemeinen Verhaltens gemacht werden, und die Freiheit vieler anderer Einzelner wird eingeschränkt.

Richtig wäre es nicht den Befindlichkeiten Einzelner entgegenzukommen, sondern zu argumentieren: Ein Einzelner muss alles Mögliche, das ihn stört, in einer offenen Gesellschaft einfach aushalten.

Es geht ums Prinzip: Das Prinzip heißt Freiheit, Liberalität, Toleranz, Pluralismus der Lebensstile. Es geht um das simple "leben und leben lassen", nicht aber darum, übergriffig zu werden, und andere zum guten Leben zu zwingen. Heute wird der Pluralismus der Lebensstile herausgefordert durch Fundamentalismus aller Couleur. Und Political Correctness ist ein gefährlicher Fundamentalismus - die Haltung, einzugreifen in das Leben der anderen.

"Es sind vor allem die Rechten, die Reaktionären, die Verschwörungstheoretiker ..."

Wer gegen "Tugendterror" schimpft, das Dauermoralisieren der deutschen "Neo-Puritaner" beklagt und von Political Correctness genervt ist, gerät schnell in schlechte Gesellschaft. Denn natürlich wettern Faschisten in Nadelstreifen schon immer gern gegen politische Korrektheit. Von AfD Spitzenkandidatin Alice Weidel war zu hören, dass "die politische Korrektheit auf den Müllhaufen der Geschichte gehört". Ist Kritik an PC deswegen schon falsch? Oder gar selbst politisch unkorrekt?

Zumindest ist es ein vollkommen unsinniger Quatsch, wie es öfters geschieht, jedem, der "Political Correctness" kritisiert, gleich vorzuwerfen, das sei ja ein reaktionäres Argument und damit zu unterstellen, er sei mindestens blöd genug, den Rechten aufzusitzen, wenn nicht selbst gleich ein Reaktionär.

"Es sind vor allem die Rechten, die Reaktionären, die Verschwörungstheoretiker, die behaupten, es gäbe eine Verschwörung der linken Medien und Politik, die Meinungsfreiheit zu beschneiden - auch, weil sie sich nicht ausreichend gewürdigt und beschützt sehen, weil sie selbst nicht diskriminiert werden, zum Beispiel weil sie weiß, hetero und männlich sind.

Denn nur, weil eine diskriminierende Sprache heutzutage von vielen Seiten kritisiert wird, heißt das nicht, dass es eine Diktatur gibt (wo denn? wie denn?). Stattdessen gibt es allerorten Diskriminierung, weiterhin. Und Leute, die das kritisieren", schreibt Frédéric Jaeger auf critic.de im Zusammenhang mit dem Preisträger der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes, der genau deswegen ausgezeichnet wurde, weil er die "Diktatur der Political Correctness" kritisiere, so Jury-Präsident Pedró Almodóvar.

Wer so argumentiert, macht es sich nicht nur viel zu einfach, er baut selbst wieder ein Tabu auf, und erklärt die Kritik an "Political Correctness" selbst schon für politisch inkorrekt.

"Sie als Roma und Sinti"

Es stimmt schon: Man muss heute nicht unbedingt "Neger" sagen, obwohl das eigentlich nur "Schwarze" auf Spanisch meint, und obwohl "der amerikanische Negerführer Malcolm X" viel viel besser klingt, als "der Vertreter der Afroamerikaner". Außerdem sind ja nicht alle Neger Afroamerikaner. Aber muss man deswegen auch die zu "Negerküssen" umkorrigierten "Mohrenköpfe" jetzt "Schokokuss" nennen?

Muss man "Tim und Struppi" und "Pippi Langstrumpf" in sprachbereinigten Ausgaben ("Südseeprinzessin" statt "Negerprinzessin") in die Welt bringen? Muss man "Länder des globalen Südens" statt "Dritte Welt" sagen? Einen Menschen mit Migrationshintergrund mit "Sie als Roma und Sinti" ansprechen, statt als "Zigeuner", obwohl er immer nur entweder Roma oder Sinti ist, nie beides zugleich, und die meisten Roma und Sinti sich selbst "Zigeuner" nennen und nicht wissen, ob sie Roma oder Sinti sind?

Stammen derartige und andere Wortverdrehungen nicht meist nur von den jeweiligen Interessenverbänden, nicht von den Menschen selbst?

Bemerkenswerterweise gibt es zwar viele Zuhörerinnen und Zuhörer, aber nie Faschistinnen und Faschisten, Mörderinnen und Mörder.

Die Idee hinter der politisch korrekten Sprache ist zutiefst unpolitisch, nämlich dass sich die Gefühlswelt eines Menschen seiner Sprache anpasst. So entsteht die "Euphemismustretmühle" wie der Brauch, statt von Ausländern, Zuwanderern und Flüchtlingen von Menschen "mit Migrationshintergrund" zu reden. Gemeint und gedacht ist aber doch: Südostzuwanderer arabischer oder afrikanischer oder osteuropäischer Herkunft. Zuwanderer aus Frankreich oder den USA würde man nie als Mensch mit Migrationshintergrund bezeichnen.

Der Diskurs der "Political Correctness" lässt der Sprache mehr Aufmerksamkeit zuteil werden als den Machtstrukturen, die eigentlich zu ändern wären. Dass Sprache selbst Macht sei, ist eine bequeme Lüge. Eine Lüge, die vom Handeln abhält vom politischen Handeln, das immer Machthandeln ist.

Die Identitären von Links?

Die Bundesrepublik ist eine Gesellschaft, die an nichts mehr glaubt - schon gar nicht ans Mundhalten, ans Nicht-Kommentieren, allenfalls an Dauerbetreuung durch Sozialpädagogen. "Political Correctness", das ist die Propaganda dieser neuen Moral nach dem Ende der Moral. Sie ist die Antwort der Verunsicherten, die die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in eine Vielzahl von Szenen und Milieus nicht ertragen, nicht damit umgehen können, dass jedes Milieu seinen jeweils eigenen Regelkanon definiert.

In dieser "neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) antworten auch linke und linksliberale Milieus mit einer neuen Sehnsucht nach Geborgenheit, nach "Leitkultur", neudeutsch "Identität". Daher die neue Attraktivität des Opferstatus: Jeder möchte ein Betroffener, ein Opfer von irgendetwas sein (die Täterdeutschen sowieso), dann verdient er Aufmerksamkeit, und dann kann er von anderen die Erfüllung bestimmter Verhaltensweisen einfordern.

Eine "infantile Kultur der Wehleidigkeit" (Robert Hughes) kennzeichnet die gegenwärtigen Verhältnisse. Sie bildet das Gegenüber und die logische Voraussetzung aller "Political Correctness". Wer weiß, was politisch geboten ist, vermeidet den Stress, sein Leben nachmetaphysisch, ohne die Krücken einer Tradition und Religion, täglich neu erfinden zu müssen.

Entlastungsdiskurse und Ersatzhandlungen

"Political Correctness" ist auch in ihren anderen Erscheinungsformen der Entlastungsdiskurs und Ersatzhandlung einer Gesellschaft, die in "transzendentaler Obdachlosigkeit" (Georg Lukacs) an nichts mehr glaubt, und der der Mut fehlt, um Werte und Macht zu streiten. Denn das hieße, sich moralisch die Hände schmutzig zu machen. Was die Gesellschaft der Wächter der "Political Correctness" aber will, ist Reinheit, Sauberkeit und ein blitzblankes Gewissen.

Mülltrennung machen wir daher schon lange, Pazifismus noch länger, denn wir sind ja nicht für Krieg oder den Weltuntergang. Den verhindern wir seit etwa fünf Jahren auch mit dem Konsum von Bio-Eis, dass zwar nicht mehr so lecker schmeckt wie Langnese, aber dafür ein starkes Statement für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ist. Unseren Porsche haben wir an einen Russen verkauft, das Rauchen aufgegeben, den Veggie-Day längst eingeführt.

Wir haben für unsere Mitbürger nur das Beste im Sinn. Unsere Putzfrau nennen wir jetzt Raumpflegerin, sie kommt aber immer noch aus Polen, und versteht das Wort sowieso nicht: "Putzen" sagt sie, nicht "Raum pflegen." Mit den Tierschutzverbänden verlangen wir das Menschenrecht für Affen, und wir reden nur noch "von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren".

"Political Correctness" ist daher auch "Kampf um Anerkennung" (Hegel) und um einen Platz in der ersten Reihe der Betroffenenlobbys. Beauftragte, Beraterstellen und Sozialarbeiterposten winken dem, der öffentlich gefördert wird. So ist heute die Moral des politisch Korrekten die schlagende Waffe zur Durchsetzung wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Ziele. Was auf der Strecke bleibt, ist die Freiheit

Pflaumenkuchen mit Ketschup - was heißt nochmal Toleranz?

Toleranz heißt nicht, dass jeder das tun darf, was er tun soll. Sondern genau im Gegenteil: Dass jeder das tun darf, was alle anderen ganz schlimm finden und ungesund und ihm selbst am meisten schadend. Er darf das, solange er nicht anderen damit aktiv schadet.

Und um "Schaden" handelt es sich in dem Zusammenhang noch nicht, wenn sie das nur ertragen oder mitansehen müssen. Pflaumenkuchen mit Ketschup zum Beispiel - ein fürchterlicher Gedanke. Wenn aber einer das essen will, dann ist das natürlich nur seine Sache. Toleranz heißt, dass jeder Mensch ganz schlimme Dinge tun darf.

Natürlich darf man Sachen verbieten, man sollte aber nur Sachen verbieten, die andere aktiv stören. (Mich persönlich stören zum Beispiel Leute mit hässlichen Tattoos, aber ich käme nie auf den Gedanken, diese zu verbieten). Daher gilt: Intoleranz nur für die Feinde der Toleranz. Im Zweifel für die Freiheit, nicht gegen sie.