Die politische Technologie der Pein
Seite 3: Selektive Waffen
Will man eine Epoche kennen lernen, dann sollte man sich nicht nur nach ihren Programmen und Manifesten umsehen, sondern nach ihren Schmerzen. Dort lernt man eine Zeit verstehen, wo sie ernst macht.
Hugo Loetscher “Schmerz ist nicht populär” DU 1959
In Szenario 2 erfahren wir von Doug Beason, wie das funktionieren kann. Wir schreiben den Herbst 2007. „Indien ist die zahlenmäßig größte Demokratie der Welt, zweifelsohne eine, die den USA freundlich gesonnen ist. Bislang. Ein renitenter Mob von unvorstellbarem Ausmaß flutet durch die von Müll verstopften Straßen. Plötzlich kippt die Stimmung, das Tempo steigt. Die Katastrophe beginnt mit der Zerstörung der Infrastruktur. Hoch schießt eine Fontäne aus einem Hydranten, aus dem Boden geschlagen, um das Chaos in Gang zu setzen. Innerhalb von Minuten brandet die vordere Krone der Welle an den Eisenzaun um die amerikanische Botschaft. Jemand schleudert die notorische erste Brandbombe über den Zaun. Stoisch stehen die Marines am Zugang zur Botschaft, die automatischen Feuerwaffen im Anschlag. Eine falsche Bewegung kann jetzt die Beziehungen zwischen Indien und den USA um 50 Jahre zurückwerfen. Alle erinnern den dramatischen Ausgang der Geiselnahme im Iran vor dreißig Jahren. Wie viel mehr Tote riskieren wir jetzt?
Vor dem Tor haben sich bewaffnete Radikale Frauen und Kinder als menschliche Schutzschilder geschnappt und drängen gegen die Posten an. Sie ahnen, dass die Marines keine Unschuldigen töten werden. Jetzt hängt die Beziehung zu Amerikas größtem Verbündeten an einem seidenen Faden. Einige Marines sind 19, 20 Jahre alt, gerade aus der Schule, wahrlich keine Diplomaten. Sie können nur schreien oder schießen. Doch ihr Kommandant hat ein Ass in der Hinterhand. Ein Jeep rückt vor. Ein tiefer Brummton umhüllt die Szene, während sich ein fremdartiges Gerät auf dem Dach des Jeeps entfaltet. Dann, ohne weitere Warnung, spüren die Krawallmacher einen unvorstellbaren Schmerz, so als habe jemand einen gewaltigen glühenden Ofen vor ihnen geöffnet. Sie schreien auf, lassen ihre Waffen fallen. Flucht ist ihr einziger Gedanke.”
Im Juli 2006 veröffentlichte der Luftwaffenoffizier Dr. Doug Beason sein jüngstes Buch “The E-Bomb: Changing the Way Future Wars Will Be Fought” in Europa, bei Perseus Press in Großbritannien. Man kommt im Kontext von Herrschaftstechnologie an mythischen Figuren wie Perseus, dem mit selbstfliegenden Sandalen gerüsteten Medusen-Vernichter und Traumhelden aller Piloten, nicht vorbei. Beason ist “Associate Director” des staatlichen Los Alamos National Laboratory, dort wo einst die Atombombe entstand. “Associate Director” bedeutet einerseits, dass er keinen wirklichen Führungsposten bekleidet, kein Mitarbeiter des Pentagon ist. Andererseits stammt der Begriff aus der Film- und Theaterbranche. Man muss sich folglich den ehemaligen Colonel der US Air Force wohl wie einen Szenografen des Militärs vorstellen. Einer der Bilder und Plots erdenkt. Eher ein Gestalter als ein Krieger. Für die Vermutung kreativer Energie bei Beason gibt es durchaus Belege: Er hat in einer Parallelkarriere viele Romane produziert. Beasons Freund Jerry Pournelle, amerikanischer Essayist, Korea-Krieg-Veteran und Autor des 70er Jahre Kultbuches “Strategy of Technology”, sagt über den Colonel: “Er ist Leiter eines der wichtigsten Forschungslabore im Land und schreibt verflixt gute Science Fiction Stories.”
Beason wiederum wirbelt in seinem zuvor erwähnten Sachbuch wild mit Wissensbrocken herum. Mit der Wahrheit und den Bildungsgütern nimmt er es dabei nicht besonders genau. So lobt er den ADS-Strahler als “Maxwellschen Teufel”. Es scheint sich hierbei um eine Weiterentwicklung des bekannten “Maxwellschen Dämons” zu handeln, der nun keine Moleküle mehr trennt, sondern böse von guten Demonstranten. Die laut Beason “selektive” Waffe kann “Unschuld von feindlicher Intention unterschieden”. Beason hat dabei vermutlich Abt Arnaud-Amaury, den geistlichen Führer der päpstlichen Armee gegen die französischen Katharer im Jahr 1209 im Sinn gehabt. Dieser soll, als sich die Häretiker zum Schutz in eine katholische Kirche in Beziers geflüchtet hatten, den Befehl gegeben haben, die Türen der Kirche zu vernageln und alles und alle anzuzünden. Seine Worte “ Caedite eos! Novit enim Dominus qui sunt eius (“Tötet sie alle! Denn Gott kennt die Seinen”) sind in die Geschichte eingegangen.
In der Tradition eines Kreuzzuges, diesmal gegen die Feinde der Demokratie, möchte wohl Beason das technische Wunderwerk ADS, den stillen Wächter der richtigen Auffassung, zur Gottesmaschine erklären, die automatisch “hostile intent” von “innocence” scheidet. Weder aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, für dessen Probleme der Maxwellsche Dämon ein Sinnbild ist, noch aus Maxwells Forschungen zu elektrischen und magnetischen Feldern lässt sich ableiten, wie die Strahlen des ADS “kurioserweise” (Beason) in der Lage sein könnten, “die Kinder und Frauen im Mob” zu schonen und nur Leute mit Waffen in der Hand zu strafen. Solche Behauptungen sind schlicht gefährlicher Unsinn und in Sachbüchern und Militärmagazinen – selbst als Jux – fehl am Platz. Dennoch hält sich – insbesondere je häufiger sich Konflikte an religiösen Differenzen entzünden – hartnäckig solcher Irrglaube. Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts gab es in England phantasievolle Angebote zur Lösung von Glaubensunterschieden und den dahinter vermuteten biologischen Differenzen, wie z.B. “ein Projekt für ein subtiles Maschinengewehr, das runde und rechteckige Munition verschießen konnte, je nachdem ob der Feind ein Christ oder Muselmann war “ Dies berichtet John Kenneth Galbraith in seinem Buch „Finanzgenies. Eine kurze Geschichte der Spekulation.”
Wenn wir den aus vorsätzlicher Läsion resultierenden spontanen Schmerz als politisches Mittel zur Ruhigstellung, Fixierung, Vertreibung oder Entwaffnung genauer untersuchen, erkennen wir in ihm – neben einer selektiven oder auch rassistischen Idee – ein Mittel der Isolation oder Exklusion. Es kommt zur individuellen Auswahl (Selektion des zu Bestrafenden und seine negative Hervorhebung gegenüber den straffrei Ausgehenden) und zur Ausschließung, die mit dem erklärten Wunsch des Handelnden einhergeht, anstelle des Behandelten leben zu wollen, also am selben Ort wie er, nur ohne ihn. Der von seinem Platz Verdrängte wird mit Schmerz stumm gemacht und methodisch in die Asozialität gezwungen, die ihm sein Leiden ohnehin schon vorgibt. Solange der Schmerz anhält, will der ihn Empfindende von nichts anderem wissen.
Der Polizist oder Soldat, der mit spezifischen “State-of-the-art”-Methoden, wie einen unvorstellbaren Schmerz auf Distanz zu übertragen, das Verhalten seines Gegners wandelt (ob der nun „auspacken” (reden), von etwas ablassen oder einfach verschwinden soll), vertreibt ihn aus einem Gebiet, das er selbst mit seiner Technik besetzt. Die Idee der räumlichen Beschneidung der Freiheit durch Schmerz ist bereits seit Jean Paul in der Sprache verankert. Jean Paul spricht davon, dass ein (seelisches) Terrain mit einem Damm aus Schmerzen umgeben wird. Sein Baumeister ist selbst eine Art Naturgewalt.
Nicht von ungefähr ist ein ähnlicher Gedanke beim ADS bereits in den Namen eingetragen: die “Versiegelung einer Sicherheitszone gegen Eindringlinge”, wie man “Area Denial System” frei übersetzen könnte (wörtlich “System zur Verweigerung des Gebietes”), behauptet zwar die umgekehrte Konstellation. Man konstruiert, das Gerät richte sich nicht gegen Personen, sondern sichere eine Zone. Diese Tendenz ist allen NLWs gemein. Sie wollen weder Waffe sein, noch sich so nennen.
Diese Denkfigur kehrt im Zusammenhang mit NLWs häufig wieder: So schreibt Sid Heal vom Los Angeles Sheriffs Department in einer Email vom Mai 2007 an den Autor, dass er „sticky foam” niemals gegen Personen eingesetzt habe, auch nicht in Angola, sondern er habe ihn nur auf den Boden gesprüht, um eine UN-Essensausgabe zu sichern. Dass dann die andrängenden Menschen darin kleben blieben, mache Sticky Foam nicht zur Waffe. Ein anderes Beispiel: TASER stellen derzeit ein neues Modell vor, das auf einem Dreifuß sitzt und in alle Richtungen Pfeile abfeuern kann. Es heißt T-RAD remote area denial. Zur Klassifizierung schreibt Horst G. Sandfort, der deutsche „Botschafter” von TASER, ebenfalls per Email an den Autor vom Juni 2007:
Das heutige “Problem”, dem sich TASER ausgesetzt sieht und einen “dicken Hals” bei Tom und Rick Smith, den Firmengründern hervorruft, ist die Einstufung des Electronic Control Device als “WAFFE”. “Waffen” beinhalten die Assoziation “Krieg” und “töten”, genau das, was der TASER durch seine Wirkung und seinen Einsatz verhindern soll. Außerdem ist der Begriff “Elektroschocker” als Einstufung inzwischen zu “simpel”, da es diese Geräte auf dem Markt “frei” zu kaufen gibt, sie aber keiner festgelegten und gültigen “Norm” unterliegen, die eine sachdienliche Unterscheidung zum TASER möglich macht.
In der Tat ist die Anwendung eines „area denial systems” jedoch eher so zu verstehen, dass beispielsweise eine bereits genutzte, öffentliche Zone als “besetzt” definiert wird, weil man ihre Nutzung plötzlich im Widerspruch zu den offiziellen politischen Interessen empfindet. Die Errichtung eines Zaunes für die Sicherung des G8 Gipfels in Heiligendamm und die beigestellte Schutzgruppe, zu der auch mit TASER ausgerüstete SEK-Einheiten gehörten, hat dies deutlich sichtbar gemacht.
Zudem will man aus rechtlichen Gründen mittels neuester Technik sauber trennen, die „Mischung” der Feinde filtern können. Wenn die eingesetzte Technik verspricht, die garantiert zu leisten, erspart das politische und einsatzstrategische Abwägungen, die im fall, dass lediglich konventionelle Bewaffnung vorhanden ist, z.B. zum Abbruch des Einsatzes führen könnten. Wer also aus politischen Gründen durchgreifen will, muss über Verfahren oder Geräte zur Selektion verfügen
Das bislang jedoch unerreichte Ideal ist die Maschine, die ohne Sentiment und nur nach ihren vorgegebenen Mustern entscheidet, wer Feind ist und wer zufällig ohne schlechte Intention auf derselben Fläche herum steht. Noch ist eine solche Maschine nur als Propaganda oder im Marketing vorhanden. Es geht bei ihrer „Erfindung” auch nicht in erster Linie um die Verteidigung eines “Areals”, sondern vielmehr um seine gesellschaftliche Reinigung.
In einer Welt, die größte Mühe darauf verwendet, die gesamte Lebenszeit möglichst schmerzfrei zu gestalten, ist ein “unpopuläres Gefühl” wie Schmerz das adäquate Mittel, um zu signalisieren, dass wer ihn fühlt, falsch denkt und lebt. Der Schmerz, der eine Zone versiegelt, ist somit der Vorbote einer anderen schmerzlichen Erfahrung, der Exklusion: der aufgezwungenen Unfreiheit im Gefängnis oder Lager. Zäune, Bewachungstechnologie und Bewegungsverbote zählen zum Standard des Freiheitsentzuges.