Die regelbasierte Weltordnung und ihre Feinde

Seite 3: Streben nach atomarer Dominanz

Kernwaffen sind einzigartig.

Strategisches Konzept der NATO 2022 Madrid, 29.06.2022

Die Bewunderung und der Respekt, die hauptsächlich westliche Staatsoberhäupter und Militärs der Atomwaffe entgegenbringen, ist der "einzigartigen" Zerstörungs- und Vernichtungskraft dieser ultimativen Waffe geschuldet. Hiroshima und Nagasaki haben ihnen konkreten Anschauungsunterricht erteilt und endgültige Klarheit darüber verschafft, dass mit einem einzigen Nuklearschlag ein derartiges Maß an Zerstörung und Vernichtung von Umwelt, Infrastruktur und Menschenleben nachhaltig möglich ist.

Dem Feind bleibt nur die Kapitulation – will er nicht der totalen Vernichtung anheimfallen. Es sei denn, er verfügt seinerseits in annähernd gleicher Quantität und vor allem Qualität ebenfalls über diese so bewundernswert "einzigartige", ultimative Waffe.

Diese ganz besondere Waffe erfüllt also nur dann ihren Zweck, wenn sie sich ausschließlich in einer Hand befindet: Nur im Falle unbedingter, nicht relativierbarer Überlegenheit, nuklearer Asymmetrie oder Hegemonie kann diese Wunderwaffe die militärischen, diplomatischen und außen- und geopolitischen Zwecke und Erpressungsabsichten erfüllen, die der ausschließliche Besitzer dieser Wunderwaffe für seine Nation zu erfüllen gedenkt.

Deshalb war es für die aus dem Zweiten Weltkrieg als einzige Weltsupermacht hervorgegangenen USA die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", dass die UdSSR wenige Jahre nach der recht erfolgreichen nuklearen Einäscherung von Hiroshima und Nagasaki durch amerikanische B29-Bomber ihrerseits in den Besitz dieser Wunderwaffe gelangen konnte.

Ein garantiert siegreicher Atomkrieg gegen das bis heute bestehende "Reich des Bösen" (US-Präsident R. Reagan, 1983), die kalkulierbare Führbarkeit eines nuklearen Waffengangs gegen den in Moskau residierenden Hauptfeind, ein atomarer "Enthauptungsschlag" der UdSSR war für die USA nicht mehr ohne weiteres frei kalkulierbar.

Diese Relativierung und Infragestellung des jederzeit überlegenen amerikanischen Nuklearwaffenmonopols, die Umwandlung eines drohenden nuklearen Matts in ein gleichgewichtiges, symmetrisches nukleares Patt führte zu der aus Sicht der amerikanischen Weltordnung völlig unbefriedigenden Situation der "Mutual Assured Destruction (MAD)".

Das Ideal, die unbedingte nukleare Überlegenheit wieder herzustellen und praktisch wahrzumachen, war sich die Weltordnungsmacht USA schuldig und verpflichtender Auftrag zugleich – in Verantwortung ihres maßlosen Anspruchs gegenüber: "Es kann nur Einen geben." So gesehen macht die Atomwaffe nur dann "Sinn", wenn sie ohne jede bedrohliche nukleare Relativierung einem einzigen Herrn auf diesem Planeten dient.

Der praktischen Verwirklichung dieses nuklearen Ideals sind die USA in der kontinuierlichen Aufrüstung und Modernisierung ihres Nuklearwaffenpotentials insofern wieder näher gekommen, als sie heute, nicht zuletzt mit der Proklamation der neuen "National Defense Strategy 2022", selbstbewusst und ohne jede Scheu der Welt verkünden und drohen:

Das amerikanische Militär ist die stärkste Kampftruppe, die die Welt je gesehen hat. Amerika wird nicht zögern, Gewalt anzuwenden, wenn es notwendig ist, um unsere nationalen Interessen zu verteidigen... Die nukleare Abschreckung hat für die Nation weiterhin oberste Priorität und ist die Grundlage für eine integrierte Abschreckung.

Biden-Harris-National Security Strategy, October 2022

Einmal abgesehen von dieser erhellenden Klarstellung gegenüber der deutsch-europäischen und NATO-Kriegspropaganda, Putin sei derjenige auf diesem Planeten, der "Gewalt als Mittel der Politik einsetzt" und staatliche Gewaltanwendung in die gewaltfreie europäische und NATO-Welt-"Friedensordnung" einführt: Den Atomkrieg für die USA als "stärkste Kampftruppe, die die Welt je gesehen hat", definitiv wieder kalkulierbar und führbar zu machen, bleibt angesichts neuer Herausforderungen erklärtermaßen "oberste Priorität" der US- und NATO-Strategen und der sie beauftragenden Politik und ihrer gewählten Volksvertreter: "Unsere Konkurrenten und potenziellen Gegner investieren massiv in neue Kernwaffen." (Biden-Harris National Security Strategy, Oktober, 2022)

Umso mehr muss im Interesse der notfalls mit Nuklearwaffen zu verteidigenden regelbasierten Weltordnung das praktisch verwirklichte Ideal des "Global First Strike" und der "Full Spectrum Dominance" seiner Relativierung durch Russland oder andere geopolitische Konkurrenten, Rivalen, Gegner entzogen werden.

Die Welt soll also, beginnend mit Iran und Nordkorea, "atomwaffenfrei" (Barack Obama, 5.4.2009), denuklearisiert werden – unter strenger Aufsicht der atomar bewaffneten USA und des atomar bewaffneten Westens:

Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben. Das Ziel der NATO ist eine sicherere Welt für alle; wir streben danach, das Sicherheitsumfeld für eine Welt ohne Kernwaffen zu schaffen.

Strategisches Konzept der NATO 2022, Madrid, 29.06.2022

Dementsprechend heißt es in dem Papier weiter:

Wir werden die kollektive Reaktionsfähigkeit, Reaktionsschnelligkeit, Verlegbarkeit, Integration und Interoperabilität unserer Streitkräfte weiter erhöhen...und zwar auch für hochintensive dimensionsübergreifende Kriegsführung gegen gleichwertige Wettbewerber, die Kernwaffen besitzen.

Die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht erklärte zusammenfassend:

Die Ableitung ist klar: Wir Europäer, und damit ganz prominent wir Deutschen müssen also mehr tun, um selbst glaubhaft so viel militärische Stärke zeigen zu können, dass andere Mächte gar nicht erst auf die Idee kommen, uns anzugreifen.

Grundsatzrede zur kommenden Nationalen Sicherheitsstrategie, 12. 9.2022