Die seuchenbedingte Neuauflage des alten Fleischskandals …
Gute Nachrichten inmitten der Corona-Krise für Gewerkschafter, Tierfreunde, Verbraucherschützer und andere kritische Idealisten der Marktwirtschaft!
Seit Upton Sinclair vor 120 Jahren die Fleischfabriken von Chicago besucht und der Welt berichtet hat, wie verdorben eine profitlich betriebene Fleischverarbeitung in den modern times des technischen Fortschritts ausschaut, führen sie Beschwerde über die üblen Zustände in dieser Industrie.
Zwar hat kaum jemand ihnen und ihren frei gewählten, durchaus disparaten Gesichtspunkten je widersprochen, was sich an der Branche in Sachen Leiharbeit, Tierquälerei oder Gammelfleisch zu ändern hätte, damit sie Teil der besseren Welt sein kann, die sie sich vorstellen. Doch sie mussten stets die Erfahrung machen, dass die Nachfrage nach ihren Parolen gegen die "Ausbeutung von Mensch und Tier" sich doch arg in Grenzen hält, im praktischen Gang der Dinge auf jeden Fall nichts von ihren Einwänden abhängig gemacht wird.
Jetzt aber, in der Corona-Krise, erfahren sie eine ungeahnte Aufmerksamkeit, und alles Übel, das sie schon immer anprangern, wird quer durch Deutschlands Leitmedien zusammengetragen und als "Schweinesystem" (DER SPIEGEL 27/2020) abgeurteilt - weil es sich anlässlich der Ausbrüche bei Westfleisch, Tönnies, Wiesenhof usw. als epidemischer Seuchenherd, als eine Gefährdung der Volksgesundheit, herausstellt. Wenn ein paar Tausend von ihnen infiziert sind, ist das Schicksal einer aus Elendsgestalten rekrutierten, mies bezahlten und untergebrachten Belegschaft gut für einen mittelschweren Fleischskandal, nach dem es mit dem "brutalen Geschäft mit dem Billigfleisch" so nicht weitergehen kann: "Vielleicht ist es der eine Skandal zu viel." (Ebd.) Endlich wird ihren Beschwerden ein breites Interesse an Aufklärung und Skandalisierung zuteil; sogar bei der Instanz, die in der Demokratie für praktische Veränderungen zuständig ist.
Die schlechte Nachricht für alle guten Menschen folgt auf dem Fuße: Die angerufenen zuständigen Instanzen des Allgemeinwohls sind es dann auch, die die verbindlichen Vorgaben machen, was an der Branche und ihren Verfehlungen, die immerhin anlässlich einer Volksseuche in den Blick gerückt sind, zu korrigieren ist. Politik und Öffentlichkeit führen es vor, ganz gemäß der in der demokratisch regierten Klassengesellschaft herrschenden Arbeitsteilung.
1. Eine Herausforderung für die Sachwalter der Volksgesundheit
Als Erstes sind die Gesundheitsämter und ihre mit der praktischen Seuchenbekämpfung befassten Netzwerke gefragt. Die kriegen die ersten, kleineren Ausbrüche mit ihrem inzwischen gut eingespielten Krisenmanagement noch gut verdaut und tragen den betroffenen Unternehmen auf, die Hygiene zu verbessern, was die auch prompt tun. Sie verteilen Masken an die Belegschaft, nicht ohne präventiv darauf hinzuweisen, bei zu viel kostenintensiver Rücksicht auf ihre Arbeitskräfte die Produktion leider in jenes osteuropäische Ausland verlegen zu müssen, aus dem sie ihre Billigkräfte günstig entleihen.
Spätestens mit dem Großausbruch bei Tönnies allerdings, bei dem die Eingrenzung des Ansteckungsgeschehens auf das Milieu der Betriebsbelegschaft außer Kontrolle zu geraten droht, sind darüber hinaus einige Worte des politisch verantwortlichen Landesvaters nötig. Armin Laschet, der gerade mit Lockerungen in der Öffnungsdiskussionsorgie voranpreschen wollte, legt Wert auf die medizinfremde, dafür volksfreundliche Vorwärtsverteidigung, dass der Konzern mit seinen ausländischen Arbeitern das Virus, das wir schon so erfolgreich im Griff haben, zu uns wiedereingeschleppt hat, sodass die Krankheitsfälle eigentlich nicht gegen die Erfolgsbilanz der Seuchenbekämpfung sprechen.
So isoliert, wie die osteuropäischen Lohnsklaven nicht nur ihre Schichten abarbeiten, sondern auch untergebracht sind - sein Landesgesundheitsminister Laumann erklärt der besorgten Bevölkerung dazu gerne, dass diese Gestalten ohnehin nicht ins Restaurant gehen -, mag er epidemiologisch noch nicht einmal ganz Unrecht haben, es hilft aber nichts: Zum größten allgemeinen Ärger muss im Juni ein neuer, regionaler Lockdown her.
2. Eine Glanzstunde für die Betreuer des gesunden Volksempfindens
Wo die Erfolge der Eindämmungspolitik derart infrage stehen, trumpft die Öffentlichkeit mit der geistig-moralischen Weiterverarbeitung des Fleischskandals auf, indem sie die Frage stellt und beantwortet, wer an dem ganzen Schlamassel schuld ist. Im Namen der braven Bürger, die wegen der weitgehend klaglos ertragenen Strapazen des Lockdowns ihr Recht auf staatliches Durchgreifen gegen alle außerhalb des Reigens der Anständigen stehenden Virenschleudern einfordern, wird sie bei der märchenhaften Figur des gierigen Chefs fündig. In Übereinstimmung mit demonstrativ stinksauren CDU-Landespolitikern und aufgebrachten Eltern, die wegen Kitaschließungen eine Mahnwache vor dem Werkstor halten, erhebt sie Anklage gegen den "Kotelett-Kaiser" (Der Spiegel), demaskiert hinter der Selbstherrlichkeit des "Fleischbarons" (Tagesschau) eine Kultur der gelebten Verantwortungslosigkeit, die sie bis in die Fehden der Familiensippe zurückverfolgt.
Natürlich werden dann von überall Forderungen nach Konsequenzen laut, Herr Tönnies möge für den Skandal persönlich zur Verantwortung gezogen werden: Er soll gefälligst die Corona-Tests aus eigener Tasche zahlen. Und vor allem soll er sich nicht so schamlos aufführen und auch mal an die seinetwegen weggesperrten SeniorInnen und Kinder denken.
Na bitte! So billig ist für Abhilfe zu sorgen, wenn die Vorwürfe an die Fleischindustrie erst einmal zum veritablen Shitstorm gegen den verantwortlichen Chef fortentwickelt sind. Und auf der Basis kommt dann noch ein klassischer Winkelzug der Skandalbewältigung in Betracht: der Rücktritt - wenn auch nicht beim Fleischkonzern, sondern bei Schalke, womit noch einer ganz anderen Beschwerdekultur über die rassistischen Entgleisungen peinlicher Fußballmäzene Genüge getan wäre.
3. Eine Lerneinheit über die Logik von Sozialpolitik
Auch der Bundesarbeitsminister reklamiert früh seine Zuständigkeit für den Fall und bringt seinen amts- und parteigemäßen Gesichtspunkt ein: Das hochansteckende Geschehen in "Europas größter Fleischfabrik" (Tagesspiegel) und in den Massenunterkünften führt ihm vor Augen, dass nicht nur in Sachen Reinemachen, sondern auch in Sachen Arbeits- und Sozialverhältnisse in der Branche endlich etwas zu unternehmen ist - ein klassischer Übergang von Hygienefragen zur Sozialpolitik, dem das Proletariat manches historisch-moralische Element seines Lebensstandards zu verdanken hat.
Bereits seine Ankündigung, in der Branche demnächst "aufzuräumen", zeitigt Wirkung; und der entsprechende Gesetzesvorschlag lässt dann auch nicht lang auf sich warten. Der Änderungsbedarf des Sozialdemokraten an den üblen Arbeitsbedingungen in der Branche geht dabei explizit auf die Form der Beschäftigung: Die außer-ordentliche Leiharbeit samt Werkverträgen, mit denen die Konzerne unter dem Rechtssegen der europaweiten Arbeitnehmerfreizügigkeit bislang die Ausbeutung der Arbeit in ihren Betrieben organisiert haben, will der Minister ihnen künftig verbieten.
Das ist schon die ganze Korrektur, die es braucht, damit das Schmuddelkind der modernen Arbeitsindustrie sich in die bundesdeutsche, sozialmarktwirtschaftlich geregelte Arbeitswelt einfügt: Ihr osteuropäisches Elendspersonal sollen die Konzerne künftig gefälligst selber anstellen und dann zum gesetzlichen Mindestlohn ihren Schlachtbänken und Fließbändern zuführen. Und das wird künftig auch schärfer kontrolliert! So stellt der Sozialstaat seine Zuständigkeit und Kontrolle auch für die dort beschäftigten Kreaturen sicher.
Dem Minister ist eben klar, dass eine ordentliche, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung einfach das größte Glück ist, das einem modernen Arbeitnehmer widerfahren kann. Natürlich muss die Arbeit in so einem "arbeitsintensiven Industriezweig" lang, hart und billig sein, damit Deutschlands Fleischkonzerne den europäischen Kontinent mit ihren Leckerbissen beliefern können - aber dieser sozialstaatliche Segen ist auch für die dort Beschäftigten möglich.
Bei seiner Abwägung zwischen Arbeitnehmerschutz und Resilienz der Geschäftsrechnung ist der Minister zu dem Ergebnis gekommen, dass die Konzerne diesen Einschnitt allemal verkraften. Sie machen doch so viel Gewinn, dass sie noch nicht einmal die Fleischpreise erhöhen müssen. Und falls nicht, stehen von Anfang an Ausnahmen und Öffnungsklauseln für kleinere Betriebe in Aussicht. Auch diese Seite seiner Abwägung findet im Sinne seiner sozialstaatlichen Klientel statt: Zur sozialen Betreuung der Arbeitswelt gehört - neben der Sozialversicherungspflicht - als komplementärer Fetisch der des "Arbeitsplatzes" ebenso notwendig dazu. Was sollen die Arbeitskräfte auch mit der schützenden Hand des deutschen Sozialstaates anfangen, wenn sie dafür arbeits- und einkommenslos werden?
4. Eine Runde Muh im Kuhstall
Das mit den Fleischpreisen übernimmt die Politik. Denn auch Frau Julia Klöckner, die zuständige Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bleibt selbstverständlich nicht untätig. Sie kümmert sich um das Wohl der "armen Schweine" (Der Spiegel), womit in ihrem Fall wirklich mal die Schweine und nicht die Arbeitskräfte gemeint sind - ganz pragmatisch, indem sie dem Tierwohl die Preisform verpasst: "Die landwirtschaftliche Tierhaltung soll bis 2040 unter anderem durch eine geringfügige 'Tierwohl-Abgabe' im Cent-Bereich auf Fleisch, Käse und Milch verbessert werden." (peta.de)
Ein genialer Vorschlag, der allen in der Bezeichnung des Ministeramts verankerten Gesichtspunkten Rechnung trägt: Wenn die Politik ihre 40 Cent pro Kilo direkt beim Verbraucher an der Supermarktkasse einsackt, kann sie damit Tierwirte subventionieren, die damit vielleicht ihre Ställe upgraden. Eine Investition in die Zukunft der Landwirtschaft im Namen der Tiere und der gesunden Ernährung, die noch dadurch beschleunigt wird, dass bereits in acht Jahren Schweine nicht mehr zeitlich unbegrenzt im Kastenstand gehalten werden dürfen.
5. Klassengesellschaftlicher Alltag eben
Wenn die eingangs aufgerufene "Systemfrage" (Der Spiegel) erst einmal derart mundgerecht zerlegt und auf konkrete politische Maßnahmen und Neuregelungen heruntergebracht ist, ist sie auf dem Boden der bundesdeutschen demokratisch-marktwirtschaftlichen Realität angekommen. Das ruft die diversen partikularen Interessen der Klassengesellschaft auf den Plan, die sich betroffen, eingeschränkt oder schlecht bedient sehen.
Sie treten mit dem ihnen jeweils gemäßen Standesbewusstsein an: Die Fleischkapitalisten drohen mit Auswanderung, denn ihre Arbeitskräfte besser zu bezahlen oder anständig unterzubringen lassen sie sich nicht zumuten. Gleichzeitig machen sie sich, Marktführer Tönnies vorneweg, mit dem ganzen Erfindungsreichtum ihres ökonomisch herrschenden Interesses daran, die arbeitsrechtlichen Neuregelungen in ihrem Sinne zu unterlaufen.
Das gibt den Gewerkschaften für die gedeihliche Ausgestaltung des Gegensatzes von Lohnarbeit und Kapital auch in Zukunft viel zu tun; und weil sie darüber genauso denken wie der Arbeitsminister, appellieren sie an die Politik, ihre Sache ja nicht zu langsam zu machen.
Die Bauern jammern wie gewohnt, dass die Romantik eines Streichelzoos sie teuer zu stehen kommt. Wenn im fernen Berlin niemand auf sie hört, stellen sie eben weiter Kreuze auf und sterben aus.
Und alle zusammen kommen auf die Schlüsselrolle des Verbrauchers zu sprechen, der gefälligst bereit sein müsste … was wohl! Was diese reihum bemühte, taubstumme Berufungsfigur selbst angeht - die tut derweil, was sie immer tut: Sie zahlt den Preis, der von ihr verlangt wird, und isst, was auf den Tisch kommt.
So ist am Ende aller schlechter Nachrichten eines gewiss: Die Beschwerdegründe bleiben allen guten Menschen garantiert erhalten.
Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GEGENSTANDPUNKT. Dort erscheint dieser Artikel im Rahmen einer Artikelreihe zur Corona-Pandemie. Weitere Kapitel sind auf GegenStandpunkt nachzulesen.