Die soziale Krise sollte alle Alarmglocken läuten lassen
Seite 2: Naheliegende Vorschläge zur Krisenlösung werden übergangen
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Das Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr ist seit September dagegen ausgelaufen, das vor allem denen zugutegekommen ist, die über weniger Einkommen verfügen und auf Busse und Bahnen angewiesen sind. Die finanzielle Erleichterung für sie hatte Finanzminister Lindner abfällig mit "Gratismentalität" in Verbindung gebracht.
Die soziale Krise, die Deutschland und anderen europäischen Ländern droht, ist keineswegs unausweichlich, während die Härten vor allem für die, die sich am Rand der Gesellschaft befinden, getragen werden müssen, die kaum über Spielräume verfügen. Denn wie Ines Schwerdtner auf Jacobin in Deutschland richtig feststellt:
Der kalte Wind, der uns im kommenden Herbst ins Gesicht wehen wird, ist kein unausweichliches Resultat höherer Umstände wie Krieg und Ressourcenmangel. Er ist Ergebnis der systematischen Privilegierung der Interessen der Oberen auf unsere Kosten. Banken und Unternehmen werden gerettet, wo immer es nötig ist, doch statt im Gegenzug ihre Gewinne und Dividenden anzutasten, wird die Rechnung an die Menschen weitergereicht, an alle, die die Konzerne reich machen, indem sie zur Arbeit gehen, ganz gleich, wie die pandemische und geopolitische Lage gerade ist.
Natürlich könnten Profite, Luxusartikel, große Erbschaften und Vermögen ernsthaft besteuert oder Steuersümpfe trocken gelegt werden. Es mangelt nicht an Geld, um soziale Programme aufzulegen. Deutschland schwimmt förmlich in Reichtümern, die in den letzten Jahrzehnten angehäuft worden sind.
Aber im politischen Normalbetrieb, ganz unabhängig von den gerade regierenden Parteienkonstellationen, scheint es unmöglich, die Mittel für den sozialen Ausgleich zu verwenden – selbst in einer schweren Krise wie jetzt. Das ist nicht neu. Die soziale Unfähigkeit der Politik konnte man schon in der Finanz- und Bankenkrise oder der Pandemie beobachten.
Selbst naheliegende Vorschläge, die die Lage entschärfen könnten, werden nicht diskutiert. Schuldenaufnahme, um soziale Programme aufzulegen, was auch der Wirtschaft über den Winter helfen würde: Finanzminister Lindner ist strikt dagegen. Viele Mieten steigen in der gegenwärtigen Krise, da Indexmietverträge vor allem in den Städten an die Inflation gebunden sind. Forderungen, diese automatisierten Mietsteigerungen im "Winter der Verzweiflung" einzufrieren bzw. Indexmietverträge gänzlich zu unterbinden, tropfen an der Bundesregierung ab.
Die Partei Die Linke forderte bei ihrer Klausurtagung am Wochenende zudem, Energiekonzerne, die ohne die starken Interventionen des Staates auf den Märkten nicht überleben könnten, zu enteignen und damit unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Der Markt regele bei der öffentlichen Daseinsvorsorge "einfach gar nichts", sagt Co-Chef Martin Schirdewan. All das verhallt nicht nur im politischen, sondern auch medialen Nirwana.
Die soziale Schieflage wie die Unfähigkeit der Politik, darauf angemessen zu reagieren, während Heftpflaster für viele Bürger:innen verteilt werden – wobei jene mit viel Lobbymacht gerettet und ihre Reichtümer nicht angetastet werden, um die sozialen Härten zu mildern –, speisen eine Fruststimmung in ganz Europa.
In Großbritannien gehen die seit einiger Zeit andauernden Arbeiter:innen-Streiks nun in eine breitere gesellschaftliche Protest-Kampagne über. Ihr Slogan lautet: "Enough is Enough" ("Genug ist Genug"). Auch in Deutschland wird ein "heißer Herbst" erwartet. Am Sonntag hat sich in Erfurt ein Protestzug formiert unter dem Motto: "Nicht mit uns! – Wir frieren nicht für Profite!". Organisiert wurden die Proteste vom Deutschen Gewerkschaftsbund zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt und Klimaschützer:innen Fridays for Future.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, sich nicht dem Glauben hinzugeben, dass die Proteste ein Randphänomen bleiben und mit weiteren Minipaketen besänftigt werden können. Die soziale Krise in Deutschland reicht deutlich tiefer, als dass sie mit 300 Euro brutto Energiepauschale aus der Welt geschaffen werden kann.