"Die spanische Regierung muss sich an den Verhandlungstisch setzen"

Seite 2: "Szenario der demokratischen Anomalität" - Interview mit Roger Torrent

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Der 1979 geborene katalanische Politikwissenschaftler Roger Torrent ist seit fast zwei Jahren Präsident des katalanischen Parlaments. Er ist Mitglied der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC), die bei den spanischen Parlamentswahlen am 10. November erneut stärkste Kraft in Katalonien wurde.

In welcher Lage befindet sich Katalonien nach den harten Urteilen gegen Ihren Parteichef Oriol Junqueras und andere Ex- Mitglieder der katalanischen Regierung und Aktivisten zivilgesellschaftlichen Organisation und den spanischen Parlamentswahlen?

Roger Torrent: Wir befinden uns einem Szenario der demokratischen Anomalität. Es unmöglich zu akzeptieren, dass politische Akteure und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen mit bis zu 13 Jahren Gefängnis bestraft werden, weil sie friedlich demonstriert oder ein Referendum organisiert haben.

Die Mehrheit der Gesellschaft hat das als eine demokratisch nicht zu rechtfertigende Rache aufgenommen und mit massiven friedlichen Protesten reagiert. Über die Unabhängigkeitsbewegung hinaus macht sich die Idee breit, dass sich die spanische Regierung sich an einen Verhandlungstisch setzen muss.

Führende Mitglieder Ihrer ERC, wie Vizepräsident Pere Aragonès, erklären die Autonomielösung für tot und halten den Unabhängigkeitsweg für unumkehrbar. Wurden mit den Urteilen die letzten Brücken zwischen Barcelona und Madrid abgebrochen?

Roger Torrent: Das Urteil war der letzte Tropfen, der das Fass der Empörung zum Überlaufen gebracht hat. Ich möchte daran erinnern, dass die katalanische Gesellschaft seit 2010 ein Referendum fordert, um über die politische Zukunft selbst zu entscheiden.

Roger Torrent. Bild: Ralf Streck

Doch spanische Regierungen weigern sich stets in all diesen Jahren, darüber auch nur zu sprechen. Das hat nur zur Vertiefung des Konflikts geführt. Es ist klar, dass Repression gegen politische und zivilgesellschaftliche Vertreter sowie gegen die Bevölkerung nichts löst. Die einzige mögliche demokratische Lösung liegt in einem Referendum.

Die ERC hat nach den Wahlen im April versucht, Pedro Sánchez erneut zum Regierungschef zu machen, aber es gab dafür weder Gegenleistungen noch einen Dialog. Will die ERC das wiederholen? Die Sozialdemokraten (PSOE) sind erneut auf Ihre Stimmen angewiesen? Vielen Wählern gefiel das nicht. Ihre ERC verlor Stimmen, während die Formation von Ex-Präsident Carles Puigdemont, die sich verweigerte, zugelegt hat.

Roger Torrent: Das Szenario hat sich mit den Urteilen verändert und danach noch weiter mit dem repressiven Verhalten und den Drohungen, die die spanische Regierung gegenüber Katalonien aussprach. Die ERC hat längst gewarnt, dass sie gegen die Investitur von Sánchez stimmen wird, wenn der zu keinen Verhandlungen mit den katalanischen Institutionen bereit ist, um den Konflikt zu lösen. Ein Verhandlungstisch, an dem alle bereit sind, über alles ohne Vorbedingungen zu sprechen.

Wie kann man mit jemandem verhandeln, der nicht verhandeln will, der Urteile aus einem Verfahren beklatscht, das allseits als Schauprozess bezeichnet wird, der Begnadigungen, um die Lage zu entspannen, ablehnt?

Roger Torrent: Ehrlich gesagt, enttäuscht das Verhalten von Herrn Pedro Sánchez sehr. Er hat sich als unfähig gezeigt, sich von der Linie zu lösen, die von der reaktionärsten spanischen Rechten gezogen wird, die die Einheit des Landes über den Respekt vor der Demokratie stellt. Wir werden immer die Tür zum Dialog offenhalten.

Wir halten Verhandlungen für den einzigen Weg, um politische Probleme zu lösen. Die Wahlergebnisse vom 10. November werden Pedro Sánchez vermutlich dazu zwingen, sein Verhalten zu ändern. Er muss sich mit Vertretern aus Katalonien an einen Tisch setzen, wenn er eine minimal stabile Regierung bilden will.

Wie sollen die katalanische Regierung und die Parteien, die sie stützen, auf die Vorgänge der letzten Wochen reagieren? Sie haben den zivilen Ungehorsam gewählt und sehen sich einer Anklage wegen Ungehorsam ausgesetzt. Ist das der Weg?

Roger Torrent: Ich habe immer vertreten, dass der zivile Ungehorsam kein Ziel ist, sondern ein demokratischer Mechanismus, den wir benutzen müssen, wenn es darum geht, Grundrechte zu verteidigen. Ich habe nur die Meinungsfreiheit im Parlament verteidigt. Ich habe mich geweigert, dass das Parlamentspräsidium sich in ein Zensurorgan verwandelt. Das hat zuvor auch meine Vorgängerin getan. Carme Forcadell wurde dafür für mit 11,5 Jahren Haft bestraft.

Aber jeder Parlamentspräsident, der als solcher angesehen werden will, kann nicht anders handeln. Im Parlament muss über alles gesprochen werden können. Debatten zu unterbinden, weil sie eine Regierung stören, wäre ein Betrug am Parlament und würde die parlamentarische Demokratie pervertieren.

Die Sprecherin der katalanischen Regierung sagte, sie "teilt die Wut der Menschen" angesichts der harten Urteile und sie steht auch hinter "durchschlagende Aktionen, wie einen Kollaps einer so wichtigen Infrastruktur wie dem Flughafen del Prat". Unterstützen auch Sie wie Meritxell Budó die Aktionen von "Tsunami Democratic", gegen die Spanien wegen Terrorismus ermittelt?

Roger Torrent: Als Demokrat respektiere ich alle demokratisch vorgetragenen gewaltfreien Proteste. Es bereitet mir große Sorgen, dass man die spanische Regierung und staatliche Institutionen versuchen, die Menschen verfolgen und kriminalisieren, noch dazu als Terroristen. Deshalb teile ich im vollen Umfang den Leitspruch "Sit and talk", der von Tsunami Democràtic breit in die Öffentlichkeit getragen wird. Spanien muss den Weg der Repression verlassen und sich an einen Verhandlungstisch mit der katalanischen Regierung setzen.

Wie bewerten Sie, dass die Sozialdemokraten (PSOE) von Sánchez mit der Linkskoalition Unidas Podemos (Gemeinsam können wir es) plötzlich eine Vorvereinbarung für eine Koalitionsregierung erreicht hat?

Roger Torrent: Eine mögliche Koalitionsregierung zwischen PSOE und Podemos braucht die Unterstützung anderer Kräfte. Es liegt an diesen Parteien, ob sie sie bekommen. Dafür brauchen sie den Willen den politischen Konflikt hier demokratisch lösen zu wollen.

Haben Sie eine spezielle Botschaft an die internationale Gemeinschaft?

Roger Torrent: Ja. Die katalanische Bevölkerung braucht jede erdenkliche Unterstützung bei der Verteidigung von Freiheiten und Grundrechten, die vom repressiven und autoritären Verhalten des spanischen Königreichs bedroht werden. Das wurde sehr deutlich, als spanische Sicherheitskräfte Türen von Wahllokalen einschlugen und auf Bürger einprügelten, die am 1. Oktober 2017 abstimmen wollten.

Katalonien ist ein offenes und pluralistisches Land, das über seine Zukunft frei und demokratisch entscheiden will. In uns werden alle stets ein solidarisches Volk finden, das dem Frieden und dem Wohlstand aller Völker dieser Erde gegenüber verpflichtet ist.

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