Katalonien: "Eine Begnadigung können sie sich sonst wohin stecken"
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung ist weiter auf der Straße und treibt den spanischen Regierungschef beim "Blitzbesuch" friedlich in die Flucht
Seit Samstag ist Schluss mit der Gewalt in den Straßen Kataloniens, jedenfalls von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung. Versuche, erneut Gewalt anzuzetteln, werden erfolgreich verhindert, wie auch die Wiener Zeitung als einige der wenigen darüber berichtet. So hatten hunderte Menschen am Samstag auf der großen "Via Laietana" eine Menschenkette gebildet, "um die gewaltbereiten Randalierer daran zu hindern, erneut mit Steinen, Glasflaschen und Feuerwerkskörpern die Beamten" vor der großen Wache der spanischen Nationalpolizei angehen.
"Wir haben uns mit erhobenen Händen vor die Absperrungen zwischen die Demonstranten und die Polizei gestellt", erklärt eine Aktivistin, die ihren Namen nicht veröffentlicht haben will. Die Aktion sei vor allem aus feministischen Kreisen getragen worden, berichtet sie gegenüber Telepolis und ist stolz darauf, dass es der Bewegung gelungen ist, die Gewalt aus den eigenen Reihen zu stoppen. Hitzköpfe aus den eigenen Reihen hätten sich, anders als bei der Staatsgewalt gegen das Referendum vor zwei Jahren, auf die Gewalt eingelassen, die von Seiten der Sicherheitskräfte nach den absurden Urteilen gegen 12 Anführer der Bewegung ausging.
Tatsächlich ist auf vielen Videos dokumentiert, wie die Polizei erneut wie verrückt auf friedlich am Boden sitzende Menschen eingeprügelt hat, von denen keinerlei Gefahr ausging, was an die Bilder am Referendumstag erinnert. Sofort wurde auch wieder mit verbotenen Gummigeschossen bei der Blockade am Flughafen auf die Menschen geschossen. Vier Menschen haben deshalb in den vergangenen Tagen deshalb ein Auge verloren. Angefacht wurde Gewalt zudem von eingeschleusten Provokateuren, die maskiert auch aus Fahrzeugen der spanischen Polizei strömen, wie Videos zeigen. Zum Teil wurden auch uniformierte Nationalpolizisten dabei gefilmt, wie sie Barrikaden bauten oder Müllcontainer abgefackelt haben.
Neu war allerdings, dass vor allem junge Leute, darunter auffällig viele junge Frauen, auf den Zug aufgesprungen sind. Sie verliehen so ihrer großen Empörung über die Gewalt der Sicherheitskräfte und die Urteile von bis zu 13 Jahren wegen eines erfundenen Aufruhrs Ausdruck. Deshalb sah Katalonien nun Gewaltszenen, wie es sie seit Jahren nicht gesehen hatte, da man einzelne infiltrierte Maskierte nicht wie früher isolieren konnte.
Allerdings konnte mit Initiativen, wie die der Feministinnen und mit Aufrufen auch von vielen in der Bewegung und den Gefangenen, die Gewalt gestoppt werden. In einem Interview hat sich am Dienstag auch der frühere Vorsitzende des großen Katalanischen Nationalkongress (ANC) aus dem Gefängnis erklärt: "Wir müssen die Gewalt ausmerzen und zurück zur Politik kommen." Jordi Sánchez hält es zudem für "exemplarisch", dass sich Menschen zwischen "Polizei und Demonstranten" stellen, die Gewalt ausüben wollen: "Das ist das Verhalten, das uns repräsentiert."
Dieses Verhalten konnte Telepolis in den Straßen Kataloniens über das Wochenende und auch am Wochenanfang feststellen. Auch wenn in den Medien im deutschsprachigen Raum kaum noch berichtet wird, gehen die Proteste weiter. Sie gingen, wie die vor allem friedlichen Massenproteste von Hunderttausenden am Generalstreiktag, in sensationsheischenden Bildern von brennenden Barrikaden. Dabei waren sie das eigentlich Spektakuläre. Hunderttausende Menschen sind über drei Tage zu Fuß aus dem ganzen Land in Richtung Barcelona gezogen und brachten den Verkehr um die Metropole und in Teilen Kataloniens zum Erliegen brachten. Und dabei blieb es völlig friedlich.
Dialogverweigerung des spanischen Ministerpräsidenten
Da nun keine Barrikaden mehr in Barcelona brennen, wird auch kaum noch berichtet. So fehlen auch Berichte über den "Blitzbesuch" des spanischen Ministerpräsidenten in der katalanischen Metropole am Montag. Der wurde angesichts seiner Dialogverweigerung allerdings friedlich in die Flucht geschlagen. So gab es neben diversen Demonstrationen von streikenden Schülern und Studenten auch einen Sitzstreik vor der Abordnung der spanischen Regierung in Barcelona, wo Pedro Sánchez einen Termin hatte. "Spain: sit an talk", wurde der Sozialdemokrat zum Dialog und Verhandlungen aufgefordert. Der Hashtag #SpainSitAndTalk war über fast 2 Stunden bei "trending topic" weltweit auf Platz 1 bei Twitter.
Friedlich blieb es auch am Abend in den Straßen Barcelonas und auch beim "Luftballon-Protest" vor dem katalanischen Innenministerium, zu denen die Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) aufgerufen hatten. Nur ein paar Eier und mit Farbe gefüllte Luftballons wurden in Richtung der Polizei geworfen. Der wurde mit blanken Hintern auch gezeigt, was man von ihr hält.
Da Dialog bekanntlich nicht die Stärke Spaniens und auch nicht die des Sozialdemokraten Sánchez ist, lehnte er vor seinem Besuch ab, mit dem katalanischen Regierungschef Quim Torra zu sprechen. Diverse Anrufe von Torra nahm er nicht an. Er verhält sich wie sein rechter Vorgänger Mariano Rajoy, dabei hatte Sánchez genau das Gegenteil versprochen. Doch seine Dialogunfähigkeit, die er auch auf spanischer Ebene zeigt, führte dazu, dass er erneut keine Regierung bilden konnte und im Dezember die zweiten Wahlen in diesem Jahr und die vierten in nur vier Jahren abgehalten werden müssen. Politik sieht anders aus.
So hat Sánchez in Barcelona nur Wahlkampf versucht. Aus Angst davor, er könnte mit einem Dialog Stimmen an die drei spanischen Rechtsparteien verlieren, lehnte er jedes Gespräch mit Vertretern der katalanischen Regierung ab. Vor dem kurzfristig angesetzten Besuch hatte aber in einem Brief Torra scharf kritisiert und ihn auf seine "Aufgabe" hingewiesen, die öffentliche Sicherheit sowie das harmonische Zusammenleben in Katalonien zu garantieren. Torras Vorgehen ginge "genau in die umgekehrte Richtung", meint Sanchez.
Ob es zum Zusammenleben beiträgt, dass spanische Sicherheitskräfte Gewalt anzetteln, friedliche Bürger verprügeln, Barrikaden bauen und anzünden, hat Sánchez nicht erklärt. Sein Besuch wurde letztlich in Katalonien zum Rohrkrepierer, da seine Dialogunfähigkeit erneut zu Tage trat und er stets von Protesten begleitet wurde. Das Personal in einem Krankenhaus, wo er einen verletzten Polizisten besucht hat, begleitet ihn mit Sprechchören für die Freiheit der politischen Gefangenen. Letztlich musste er durch die Hintertür eiligst das Weite suchen. Der Besuch hat nur noch mehr Menschen empört, da inzwischen fast 1000 Menschen durch die Sicherheitskräfte verletzt wurden und sich Sánchez nicht bei einer der Personen zeigte, die sogar ein Auge verloren haben.
Kritik an Vorgehen der spanischen Polizei gegen Journalisten
Empört ist man inzwischen auch auf Seiten von spanischen Pressevertretern und Verbandsorganisationen, wie gewalttätig und willkürlich spanische Sicherheitskräfte auch mit Journalisten umgehen. Bis in den Europarat hat es schon der Fall des Fotojournalisten Albert Garcia geschafft. Er arbeitet für die große spanische Zeitung El País und wurde am vergangenen Freitag willkürlich und brutal festgenommen, weil er filmte, wie brutal die Polizei Demonstranten festgenommen hat.
Der Europarat kritisiert erneut Spanien scharf. Verwiesen wird auch darauf, dass andere Journalisten bedroht wurden, die die Freilassung des Kollegen forderten, der sich unter anderem durch eine Armbinde als Pressevertreter kenntlich gemacht hatte. "Wir sind Polizisten und können machen, was wir wollen", nimmt der Europarat die Aussagen der Kollegen über die Vorgänge auf. Sogar Die Zeit stellt fest, dass es unter den Verletzten viele Journalisten gibt, wie Telepolis längst berichtet hatte: "Was auffällt: Unter den Verletzten sind besonders viele Journalisten. Nach einer Statistik des Medienkollektivs Mediacat wurden in der vergangenen Woche 65 Journalisten verletzt, 37 von der Polizei durch Schlagstöcke oder Gummi- oder Foamgeschosse", heißt es in dem Zeit-Artikel.
"Die Presse ist eindeutig zum Ziel geworden", wird die Mediacat-Sprecherin Elisenda Rovira zitiert. Eine französische Journalistin wurde sogar Opfer von zwei Prügelorgien, als sie filmte, wie Polizisten mit Gewalt versuchten, eine Blockade aufzulösen. Auch sie hatte sich als Journalistin ausgewiesen und auf ihre orangene Armbinde gezeigt. "Ja, es wirkte so, als ob sie auf mich eingeschlagen hätten, weil ich zuvor gefilmt hatte", wird die Französin zitiert.
Ein solches Vorgehen gegen Anwälte ist man nur aus der Türkei und Mexiko gewohnt
International in der Kritik steht Spanien auch wegen des erneuten Vorgehens gegen Anwälte. Es ist aus dem Baskenland wahrlich bekannt, dass auch unbequeme Verteidiger mit absurdesten Verfahren überzogen werden, um sie mundtot zu machen oder zu inhaftieren. Dieses Schicksal trifft nun auch den Anwalt des ehemaligen katalanischen Regierungschefs Carles Puigdemont. Die Wohnung und das Anwaltsbüro von Gonzalo Boye wurde am Montag 15 Stunden lang durchsucht.
Er muss nun wegen angeblicher "Geldwäsche" am Mittwoch vor dem spanischen Sondergericht Nationaler Gerichtshof in Madrid antanzen. Boye hatte auch federführen an der Schlappe bei der abgelehnten Auslieferung wegen angeblicher Rebellion und Aufruhr von Puigdemont aus Deutschland mitgewirkt. Er spricht von einer "absurden Anschuldigung" und hofft, dass auch das Gericht das erkennt und es sich nicht um eine "politisch-juristische Operation" handelt.
Der European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) ist entsetzt über das Vorgehen. "Aus Sicht des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und anderer internationaler Kollegen fand die Durchsuchung unter falschem Vorwand und mit dem Ziel statt, Herrn Boye als Anwalt zu diskreditieren", schreibt der ECCHR in einer Pressemitteilung. Der ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck meint, dass man ein "solches Vorgehen nur aus der Türkei und Mexiko gewohnt ist". Kaleck schockiert, dass derlei nun auch in Spanien passiert.
"Die spanischen Behörden haben Boyes Arbeit als Anwalt massiv angegriffen. Das ist völlig inakzeptabel. Die Unabhängigkeit von Anwälten ist für jede Demokratie von grundlegender Bedeutung", heißt es in der Erklärung weiter. "Die Durchsuchung dient dazu, Boyes Ruf und seine berufliche Existenz zu beschädigen. Es ist schockierend, dass so etwas in Spanien passiert." Man habe eine "communication (Beschwerde)" beim UN-Sonderberichterstatter für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten eingereicht. Gefordert wird, dass der Sonderberichterstatter die spanische Regierung auffordert, die Neutralität der spanischen Justiz zu gewährleisten und Maßnahmen gegen derartige Angriffe auf die freie Anwaltstätigkeit zu ergreifen. Was Spanien von solchen Vorgängen hält, hat es schon deutlich gemacht, als die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen die Freilassung der katalanischen politischen Gefangenen gefordert hat.
Neue Proteste angekündigt
Klar ist, dass der Konflikt nicht schnell von der Straße verschwinden wird. Die Studenten und Schüler haben einen neuen Streik für den 30. und 31. Oktober angekündigt. Tsunami Democratic bereitet nach der Flughafenblockade gerade die nächste Großaktion vor. Am Samstag wird Barcelona erneut von Menschenmassen im Rahmen einer Großdemonstration geflutet. Und, sollte der spanische Regierungschef Sánchez darauf hoffen, nach den Wahlen das Problem der Gefangenen nach dem Urteil mit einer Begnadigung lösen zu wollen, haben die ihm schon eine Absage erteilt. Darüber hatte Sánchez schon mit dem Podemos-Chef gesprochen, dessen Unterstützung in einer Koalition er bisher abgelehnt hat.
In einem Interview erklärt der inhaftierte Chef der Republikanischen Linken (ERC) deutlich: "Eine Begnadigung können sie sich sonst wohin stecken." Die Anträge dazu müssten die Gefangenen stellen und damit auch ihre Schuld anerkennen. "Das Gefängnis ist auch eine Art, einen Keimling zu setzen", erklärte Oriol Junqueras, der mit 13 Jahren die Höchststrafe erhalten hat. Die ERC und ihr Chef gehören im Unabhängigkeitslager zu denen, die den Sozialdemokraten besonders weit entgegengekommen sind. Sie wollten Sánchez ohne jede Gegenleistung zum Regierungschef machen. "Es ist eine Möglichkeit, der Welt diesen Konflikt zu erklären", erklärt Junqueras zu seiner Inhaftierung. Ihm sei von Beginn an bewusst gewesen, dass er für sein Vorgehen hinter Gitter landen werde, und er ist "stolz darauf", dafür zu sitzen, "weil wir Wahlurnen aufgestellt haben".