Die strategische Wahl der Nato: Warum Mark Rutte favorisiert wird

Mark Rutte auf Besuch bei niederländischen Soldaten in Litauen (NATO Enhanced Forward Presence), 2017. Foto: Niederländisches Verteidigungsministerium

Nachfolge von Jens Stoltenberg: Welche Gründe Joe Biden und Olaf Scholz für den niederländischen Ex-Premier als neuen Nato-Generalsekretär haben. Eine Einschätzung.

Das Einzige, was wohl am Langzeit-Premier der Niederlande (2010-2023) haftet, ist sein Spitzname: "Teflon-Mark". Den trägt Mark Rutte, weil bislang noch jede Krise und jeder noch so große Regierungsskandal an ihm abgeperlt sind. Beziehungsweise: Weil er dafür keine Haftung übernommen hat.

Nun wird der 57-jährige als Top-Kandidat für den Generalsekretär-Posten des größten Militärbündnisses der Welt gehandelt. Seine frühen Erfahrungen im multinationalen Konzernwesen und die demonstrative Loyalität gegenüber den anglo-amerikanischen Interessen bescheren ihm beste Aussichten.

Scholz zieht Rutte von der Leyen vor. Warum?

Eigentlich versprach der Entfesselungskünstler Rutte, der – "Houdini der niederländischen Politik", wie seine Biografin ihn einmal taufte – 2023, sich aus der Politik zurückzuziehen. Mit den Zerwürfnissen über eine Kontrolle der Migration und den eskalierenden Bauernprotesten schienen sich die Fesseln diesmal aber zu eng geschnürt zu haben.

Noch im Juli vergangenen Jahres hatte Rutte selbst Spekulationen über eine mögliche Amtsnachfolge auf den Norweger Jens Stoltenberg, dessen Amtszeit regulär im Oktober endet, zerstreut. Nun aber ist die Berufung Ruttes an die politische Spitze der Nato beinahe beschlossene Sache.

US-Präsident Joe Biden "ebnet den Weg" für Rutte, heißt es im US-Magazin Politico. Auch Großbritannien unterstützt den Vorschlag Presseberichten zufolge "mit Nachdruck". Die Haltung scheint unter den Nato-Mitgliedern Schule zu machen.

So sprechen sich nach Informationen von Politico mittlerweile zwei Drittel der Mitgliedsländer für Rutte aus. Exklusive der Türkei und Ungarn, an deren Politik Rutte Zeit seines Amtes Kritik übte.

Unter den Fürsprechern des Niederländers finden sich auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich in dieser Entscheidung wieder einmal nicht von Erinnerungen an die eigenen Anti-Nato-Jugendjahre beirren lässt.

Scholz soll Medienberichten zufolge Bedenken gegenüber der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geäußert haben, die lange als Stoltenbergs Nachfolgerin gehandelt wurde. Demzufolge sorgte sich der Kanzler in der Personalie von der Leyen um einen allzu kritischen Kurs gegen Russland. Das kann irritieren.

Denn mit Mark Rutte würde nicht nur ein überzeugter Freund von USA und UK der nächste Nato-Generalsekretär, sondern auch einer der schärfsten Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Vielleicht kann ein Blick auf Mark Ruttes Vita helfen, die Entscheidung einzuordnen.

Karriere beim Transatlantik-Lobbyisten Unilever

Der 1967 am Sitz des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag geborene Rutte wächst in einem christlichen Elternhaus als Sohn der Sekretärin Dirkje Cornelia Tekker und des Kaufmanns Izaak Rutte auf, der zunächst im Kolonialwarengeschäft in Niederländisch-Ostindien tätig ist.

Nach seinem Geschichtsstudium an der renommierten Universität Leiden und der mit seiner späteren Partei VVD eng assoziierten Kaderschmiede Jugendorganisation für Freiheit und Demokratie (JOVD) fängt Rutte 1992 als Personalmanager bei einem Subunternehmen des britischen Lebensmittel-Multis Unilever an.

Bei Unilever bleibt er bis 2002. Der teils miserable öffentliche Leumund perlt dabei an Teflon-Mark ab und steht seinem Aufstieg zum Premierminister nicht im Wege.

Der Großkonzern blickt auf eine lange Geschichte von Kontroversen zurück, die von Umweltschäden bis Greenwashing reichen (ironischerweise geht der verwandte Begriff des "Woke-Washing" auf Unilever selbst zurück).

Kritik an der Lobbyarbeit Unilevers

Kritik erntete der Konzern auch für seine rücksichtslose Wirtschaftspolitik, was sich etwa in der Kartellklage der EU von 2011 niederschlägt, besonders aber in der traditionellen Steuervermeidungsstrategie, die dem Gemeinwohl-Gedanken eher zuwiderläuft, den Unilever mit seinem öffentlichen Nachhaltigkeits-Bekunden transportiert.

Von besonderem (Wirtschafts-)Interesse ist auch Unilevers Mitgliedschaft bei den, wie der Verein Lobbycontrol schreibt, "einflussreichsten transatlantischen Lobbyorganisationen". Etwa beim Transatlantic Business Council (TBC), dessen Vorsitz Unilever 2004 hatte und der erstmals auf dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos 2013 zusammentrat.

Unilever, das vom WEF heute als "Strategic Partner" geführt wird, hatte als TBC-Mitglied wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung des umstrittenen US-europäischen Freihandelsabkommens TTIP.

Unilever sitzt außerdem im International Advisory Board des Atlantic Council, dem sich Telepolis in Bezug auf deutsche Staatshilfen kürzlich erneut widmete und den Lobbycontrol als "außergewöhnlich einflussreiche US-amerikanische Denkfabrik und Lobbyorganisation" beschreibt, "die von weltweit tätigen Konzernen und ehemaligen ranghohen Regierungsvertretern und Ex-Militärs gesteuert wird".

Nicht nur hier scheint eine gewisse Kontinuität zum scheidenden Nato-Generalsekretär Stoltenberg zu bestehen.

Schließlich wurde Norwegen unter Stoltenbergs Führung als Premier zum größten Geberland der sogenannten Impfallianz GAVI, einer public-private partnership, die 2000 beim WEF in Davos gegründet wurde. Zwischen seinen Stationen als Premierminister und Generalsekretär saß Stoltenberg konsequenterweise im Leitungsgremium von GAVI.

Auch Rutte scheint über die Fähigkeit zu verfügen, eine von der Großkonzerne-Lobby geprägte Vergangenheit auf geschmeidige (Teflon-)Weise in Einklang mit einem Auftritt als Verteidiger des Völkerrechts zu bringen. Das hat er auch bei den Vereinten Nationen bereits versucht, unter Beweis zu stellen.

Beschäftigt bei den UN und nah am Weltwirtschaftsforum

So wurde Rutte 2016 vom damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und dem Weltbank-Präsidenten Jim Yong Kim in das hochrangige Gremium für Wasserfragen berufen, um das Nachhaltigkeitsziel 6 der Agenda 2030 ("Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen", nachhaltige Wasserbewirtschaftung) voranzubringen.

Im Zuge der Bauernproteste in den Niederlanden 2022 haftete Rutte (dann doch) seine Position als "Agenda Contributor" des WEF an. Hatte er doch für dessen Pläne zur Transformation der Lebensmittelindustrie – unter Einbeziehung der "business community" – erst ein Jahr zuvor geworben.

Trotz seines entschiedenen Einsatzes für die Ziele des WEF leugnete Rutte im niederländischen Parlament 2022 seine Kenntnis des kontrovers diskutierten WEF-Buches "Covid 19: The Great Reset" (2020), die ihm anschließend – zusammen mit einem ausdrücklichen Lob – anhand eines Schriftwechsels mit WEF-Gründer Klaus Schwab nachgewiesen wurde.

Das rigorose Festhalten an der Agenda 2030 und ihren Nachhaltigkeitszielen für die Agrarwirtschaft versetzten Rutte schließlich den entscheidenden Schlag, welcher ihn veranlasste, seine politische Karriere zu beenden. Jedoch nur scheinbar, wie sich herausstellen sollte.

Es gibt noch mehr Vorfälle als den oben beschrieben im niederländischen Parlament, die darauf schließen lassen, dass es Teflon-Mark mit der Wahrheit und der demokratischen Rechenschaftspflicht nicht besonders genau nimmt.

Steuerskandale in beide Richtungen

Einer der größten Skandale, die der allzu glatte Niederländer unbeschadet überstand, war eine Enthüllung, die 2018 aus einer Anfrage nach dem US-Informationsfreiheitsgesetz (FOIA) folgte.

Demnach soll Rutte gegen den Willen der Mehrheit die niederländische Dividendensteuer auf Geheiß von Unilever und dem Öl-Riesen Shell abgeschafft haben, um die beiden Konzerne in den Niederlanden zu halten. Rutte hatte erst versucht, die Anfrage zu blockieren, und beteuerte dann, er könne sich an die vorgeworfene Absprache nicht erinnern.

Ein weiterer Steuerskandal, diesmal in umgekehrter Richtung, ereilte den Premier 2021. Damals erklärte die niederländische Regierung ihren Rücktritt, nachdem bekannt geworden war, dass Steuerbeamte Tausende von Eltern zu Unrecht des Betrugs beim Kinderbetreuungsgeld beschuldigt und viele Familien in eine Schuldenfalle getrieben hatten, wie der Guardian festhielt.

Über Ruttes Eignung als oberster politischer Repräsentant der Nato mag all das wenig aussagen.

Viel dagegen sagt seine Haltung gegenüber den Interessen des militärisch-industriellen Komplexes und seiner angeschlossenen Thinktanks in den Vereinigten Staaten aus, die das Militärbündnis mit dem Oberbefehlshaber (SACEUR) traditionell anführen.