Die symbolische Bedeutung von Hochhäusern wird abnehmen

Gespräch mit dem New Yorker Stadtplaner Peter Marcuse über die Folgen der Terroranschläge für die Stadtentwicklung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Nichts wird so sein wie früher", heißt es seit den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center vom 11. September. Die Terrorangriffe hätten das Selbstverständnis der amerikanischen Bevölkerung in ihren Grundfesten erschüttert. Welche Auswirkungen im Bereich von Stadtplanung, Architektur und Urbanität zu erwarten sind, und was diese Entwicklungen mit staatlicher Politik zu tun haben könnten, darüber gab Peter Marcuse, Professor für Stadtplanung an der "Columbia University" in New York Auskunft. Marcuse ist Mitautor von "Globalizing Cities: A New Spatial Order ?" (Oxford: Blackwell 2000) und einer der führenden Globalisierungskritiker.

World Trade Center

Nach der Zerstörung des "World Trade Center" (WTC), das eines der höchsten Gebäude der Welt war, wird immer wieder vermutet und von manchen im Ausland auch gehofft, das Ende der amerikanischen "Gigantomanie" sei gekommen. Sehen Sie das auch so ?

Peter Marcuse: Ich finde nicht, dass es eine "amerikanische Gigantomanie" gibt, der eine bescheidene Restwelt gegenüberstünde. Wolkenkratzer und andere hohe Gebäude sind immer schon Symbole einer weltweiten Suche nach Macht und internationaler Größe gewesen. Es gibt heute Gebäude außerhalb der USA, die höher sind, in Kuala Lumpur oder in Schanghai. Doch das wird sich ändern. Denn die Suche nach Höhe und Größe erfolgte nicht aus wirtschaftlichen Gründen oder weil das maximale Effizienz versprochen hätte. Die Frage, ob sich das scheinbar grenzenlose Nach-oben-Bauen auch wirklich auszahlt, wird eine viel größere Rolle spielen.

Wird das WTC wieder aufgebaut werden?

Peter Marcuse: New York steht vor einem großen Problem. Ein WTC in seiner alten Größe - niemand würde die hohe Miete zahlen oder das Risiko, das jetzt empfunden wird, eingehen wollen. Ein aktuelles Beispiel ist der Sears Tower in Chicago, das höchste Gebäude in den USA. Die Verwaltung lässt die Angestellten und Arbeiter seit den Anschlägen ihr Mittagessen nicht mit nach oben nehmen, Taxis dürfen vor dem Gebäude weder warten noch parken und so weiter. Die Anschläge haben weitreichende ökonomische Konsequenzen, auch für Architekten.

Sind diese Sicherheitsvorkehrungen nicht doch eher kurzfristig angelegt ?

Peter Marcuse: Es gibt inzwischen auch eine Gegenbewegung, vor allem in New York, die sagt: Wir müssen jetzt zeigen, dass wir den Krieg nicht verloren haben. Aber diese Haltung ist kurzfristig. Auf lange Sicht sind die wirtschaftlichen Bedingungen dafür entscheidend, was gebaut wird und was nicht.

Wie wird die amerikanische Business-Welt architektonisch aussehen ?

Peter Marcuse: Eine starke Tendenz wird lauten: weg aus dem Stadtzentrum, hin zu den Grünflächen, Vorstädten und Stadträndern, die gute Verkehrsverbindungen ins Zentrum haben. An solchen Orten kann man anders bauen, weniger überfüllt und horizontaler. Große Bürogebäude werden niedriger gebaut werden. Insgesamt wird die symbolische Bedeutung von Hochhäusern und Wolkenkratzern abnehmen.

Satellitenbild nach dem 11. September, Space Imaging

Ist die Streuung von Bürogebäuden und Firmen auf weite Flächen - statt sie in einem Stadtzentrum oder Wolkenkratzer zu konzentrieren - auf lange Sicht effektiver?

Peter Marcuse: Streuung statt Konzentration hat es immer gegeben: ein Firmenhauptquartier oder Gebäude mit hochqualifizierten und spezialisierten Dienstleistungen im Zentrum bei gleichzeitig ausgelagerten Sekundärfunktionen. Ich denke, diese Tendenz wird allgemein zunehmen, wobei Überlegungen, die Hauptsitz-Funktionen ebenfalls zu dezentralisieren, mehr Gewicht bekommen werden. Die Konzentration auf einen einzigen Hauptsitz im Stadtzentrum dürfte als riskant eingeschätzt, aber nicht so sehr wegen des Terrorismus, sondern wegen Problemen mit Staus, Stromversorgung, Stürmen etcetera.

Welche Folgen wird die Dezentralisierung für das kulturelle Leben haben?

Peter Marcuse: Städtisches Zusammenleben, urbane Kultur und Aktivitäten werden sich aus den Stadtzentren heraus verlagern. Diesen Trend gab es aber schon vor dem 11. September. Vorstädte von New York haben inzwischen so viele Symphonieorchester wie die Stadt selbst, um ein Beispiel zu nennen. Die großen Broadway-Theater werden mit Sicherheit Kundschaft verlieren, ebenso wie der Tourismus und das Kulturspektrum in dieser Hinsicht schrumpfen werden. Weshalb soll ich zum New Yorker Times Square fahren, um in einem Disney-Geschäft einzukaufen, wenn es denselben Disneyladen genauso gut in Philadelphia gibt? Die weniger kommerzialisierte Mainstream-Kultur und die Subkulturen werden in New York trotzdem weiterblühen.

Petronas-Türme in Kuala Lumpur

Was bedeutet dies für das soziale Leben und für die "communities" in New York?

Peter Marcuse: Der Trend, der bereits besteht, wird sich beschleunigen: größere soziale Polarisierung, Trennung und sogar Segregation. Denn wer genug Geld hat, aus dem Stadtinneren oder aus den als "gefährlich" angesehenen Gegenden zu ziehen, wird das tun. Die Grundstückspreise werden sich ändern - zum Beispiel werden Wohnungen im Finanzdistrikt billiger werden. Aber nicht billig genug für Arbeitslose, Arbeitssuchende oder neü Pendler. Die Stadt entwickelt sich zu einer Ansammlung von Stadtvierteln entsprechend dem sozialen Status ihrer Bewohner: langfristig eine antiurbane und potentiell undemokratische Entwicklung, die mit dem "quartering of the city" einhergeht.

Sehen Sie in den USA eine Entwicklung weg von der großen Metropole hin zu kleineren Städten wie in etwa in Deutschland ?

Peter Marcuse: Die Tendenz zur Großtadt als Lebenszentrum gibt es nicht nur in den USA. Ich würde sogar sagen, dass Deutschland mit seinen Kleinstädten eine Ausnahme ist, sogar innerhalb Europas. Paris, London, Warschau oder Budapest ähneln heute viel eher New York, als Berlin oder Frankfurt am Main dies tun. New York wird weiterhin ein Zentrum der Banken, der Konzerne und der Kultur sein. Aber, wie gesagt, die Rolle des Städtischen darin wird sich ändern.

Dachten Sie so auch vor dem 11. September ?

Peter Marcuse: Ich beschreibe Ihnen Entwicklungen, die es schon vor den Anschlägen gab. Die Veränderungen sind jetzt transparenter. Dennoch wird es stadtplanerische Kehrtwenden geben , die direkt mit dem 11. September zu tun haben, zum Beispiel die Betonung von "Sicherheit". Staatliche und städtische Investitionen werden sehr viel mehr auf den Bau von Geschäftsgebäuden orientieren als auf die sozialen Bedürfnisse. Schon jetzt heißt es, für Schulen und Wohnungen sei nicht mehr so viel Geld zu erwarten, weil Sicherheitsmassnahmen Vorrang hätten, zum Beispiel die Verstärkung von Polizei und Feuerwehr. Die Nutzung öffentlicher Plätze und Gebäude steht zur Disposition. Schon vor dem 11. September wollte Bürgermeister Giuliani Versammlungen vor der City Hall verbieten. Jetzt ist auch die Opposition nicht mehr grundsätzlich dagegen.

Sears-Tower

Nach den berüchtigten Schul-Schiessereien in den USA hieß es, in den amerikanischen Vorstädten fehle die Voraussetzung für soziales Lernen. Was sehen Sie in dieser Hinsicht voraus, wenn die Ent-Urbanisierung voranschreitet?

Peter Marcuse: Die Gefahr für das soziale, politische und demokratische Leben ist allgemein groß. Wenn man hört, dass Piloten in Zukunft Waffen zur Selbstverteidigung tragen werden, dann spiegelt dies wieder, wie verkümmert die Gewaltdiskussion hierzulande ist. Menschen mit dunklerer Hautfarbe spüren die Veränderung des Klimas inzwischen direkt. In der Öffentlichkeit, in Zügen, Flugzeugen und Bussen haben Menschen zum Beispiel Angst davor, mit Menschen zu reisen, die nicht wie sie selbst aussehen. Seit dem 11. September herrscht hier ein Klima der Hysterie, die Angst vor dem Anderen. Dabei gab es auf der individuellen Ebene in der Vergangenheit ebensoviel Gewalt - Stichwort Columbine oder Oklahoma. Gewalt und Terror gingen von Weißen aus, und niemand dachte in der Folge daran, dass Weiße zu Routinekontrollen aus dem Auto geholt oder mitten auf der Strasse zur Personalienüberprüfung angehalten werden müssten, das berüchtigte "racial profiling", das gegen Nicht-Weißeangewandt wird und auf einmal nicht mehr kritisiert wird. Ich hoffe, dass diese Hysterie bald begrenzt und zurückgedrängt werden kann. Im Moment ist sie sehr stark.

Wird das politische System der USA dem Rechtstrend standhalten können?

Peter Marcuse: Auf der formalen Ebene von Institutionen und Gesetzen sowie der Verfassung ist die Einrichtung einer direkt autoritären Regierung in den USA nicht durchsetzbar. Was aber erreicht werden kann - und damit wäre der Begriff "Faschisierung" zutreffend -, ist die Herstellung des autoritären Staates mit formal demokratischen Mitteln. Gedankenkontrolle in den USA würde nicht mittels Massenverhaftungen oder Gewalt gegen kritisch sich äußernde Menschen ausgeübt werden, sondern zum Beispiel durch homogenisierte Medien und eine homogenisierte politische Führung. Ich denke, man kann alles erhalten, was man von einer autoritären Regierung zu befürchten hätte, ohne ein solche formal zu haben. Soziale Kontrolle wird heutzutage viel subtiler ausgeübt als unter dem Faschismus, aber oft mit denselben Auswirkungen.

Wir erleben gerade, wie sich die Antiglobalisierungsbewegung auf die neue Situation einzustellen beginnt. Aber wohin treibt sie, wenn sie wegen ihres Antikapitalismus als "unpatriotisch" abgekanzelt wird?

Peter Marcuse: Das ist sehr schwer zu beantworten. Wer in der Antiglobalisierungsbewegung glaubte, Sachbeschädigungen und Konfrontationen mit der Polizei seien sinnvolle Protestformen, wird sich warm anziehen müssen. Zum einen werden diese Kräfte von sich aus schwächer werden, zum anderen werden sie noch heftiger mit Repression überzogen werden als dies bereits der Fall war. Ich glaube, dass die Sicherheitsmassnahmen bei jeder öffentlichen und kritischen Versammlung zunehmen werden, was die Organisation von Massendemonstrationen erschweren wird. Strategiediskussionen zu diesem Thema sind zwingend.

Werden Sie in New York bleiben ?

Peter Marcuse: Ganz sicher.