Die unsichtbare Krise: Was ist uns der soziale Sektor wert?

Hände halten Herzen mit Care-Symbolen und bekommen wenig Geld dafür

Was passiert, wenn Kitas schließen und Pflegekräfte gehen? Die besorgniserregende Lage des sozialen Sektors und Lösungsvorschläge. Interview mit Joß Steinke, Teil 2 und Schluss.

In ihrer Studie "Vor dem Kollaps!?" werfen Joß Steinke, Jasmin Rocha und Christian Hohendanner ein Schlaglicht auf die alarmierende Lage des sozialen Sektors in Deutschland. Im ersten Teil des Interviews machte Steinke darauf aufmerksam, dass ohne sofortige Gegenmaßnahmen ein drastischer Abbau sozialer Strukturen droht, der viele Menschen ins Leere laufen lässt.

Im folgenden Teil des Interviews erklärt er, warum der "Care-Pay-Gap" noch immer eklatant hoch ist, wie Bürokratie und Misstrauen die Arbeit erschweren und welche Maßnahmen jetzt dringend notwendig sind, um den drohenden Kollaps abzuwenden.

Der Care-Pay-Gap

▶ In Ihrer Studie benutzen Sie den neuen Begriff "Care Pay Gap". Was ist das und wie hoch fällt er aus?

Joß Steinke: Beim Care-Pay-Gap haben wir durchschnittliche Löhne im sozialen Sektor mit durchschnittlichen Löhnen in allen anderen Branchen verglichen. Unter gewissen Einschränkungen ist das Ergebnis, dass das Gap 17 Prozent beträgt.

Die gute Nachricht ist, es hat sich über die letzten Jahre hinweg eher angeglichen, vor allem im niedrigeren Qualifikationsbereich. Hier sehen wir die Effekte der Einführung von Mindestlöhnen. Interessant ist aber auch, dass das Gap im höher qualifizierten Bereich immer noch sehr hoch ist, bei über 30 Prozent.

▶ Würden höhere Löhne das Problem des kollabierenden sozialen Sektors auffangen?

Joß Steinke: Höhere Löhne würden das Problem nicht einfach lösen. Das sehen wir ja zum Beispiel in der Pflege. Dort sind die Löhne ordentlich gestiegen. Aber das hat nicht dazu geführt, dass wir das Problem des Arbeitskräftemangels tatsächlich in den Griff bekommen haben.

Natürlich spielen höhere Löhne, die sich die Menschen in dem Sektor verdienen, grundsätzlich eine wichtige Rolle für die Attraktivität, gerade wenn wir das Ziel haben, auch neue Menschen für den sozialen Sektor zu gewinnen.

Höhere Löhne sind aber gleichbedeutend damit, dass die deutsche Gesellschaft auch bereit sein muss, mehr Geld für den sozialen Sektor aufzuwenden. Das ist eine notwendige Voraussetzung, damit das geschehen kann und wird manchmal in der Diskussion ein bisschen unterschlagen.

Warum der soziale Sektor an Attraktivität verliert ....

▶ Welche weiteren Faktoren sind im sozialen Sektor für die Arbeitszufriedenheit von besonderer Bedeutung?

Bild: © Nadine Stenzel Photography / DRK

Joß Steinke: Ein wesentlicher Faktor für die Arbeitszufriedenheit ist neben der Entlohnung die Vereinbarkeit des Berufs mit der eigenen Lebenssituation. Im Pflegebereich haben wir zum Beispiel Schichtdienst, der für viele eine große Herausforderung ist, gerade wenn jemand Kinder hat.

Das ist etwas, dem wir unbedingt Rechnung tragen müssen, auch auf betrieblicher Ebene. Wir müssen viel stärker tatsächlich Lösungen für die unmittelbare Lebenssituation der Menschen finden, sonst verlieren wir sie.

Bürokratische Belastung

Ein weiterer Punkt, den man möglicherweise mehr in den Fokus rücken muss, ist die bürokratische Belastung, die an vielen Stellen aus dem Ruder gelaufen ist. Auch da ist der Pflegebereich ein gutes Beispiel.

Der hohe Aufwand an Dokumentation überlagert zu häufig die eigentliche Pflegetätigkeit. Das haben wir in vielen anderen sozialen Berufsfeldern so oder in ähnlicher Weise und das macht den Job weniger attraktiv.

Druck durch Unterbesetzung

Und der Druck aufgrund der häufig existierenden Unterbesetzung ist an vielen Stellen zu hoch. Oft bleibt nur Zeit, dass Nötigste zu tun und die eigentliche Beziehung zu den Menschen, für die man diesen Job macht, leidet darunter. Das wird sich leider eher noch zuspitzen.

... und warum er vielen dort Tätigen am Herzen liegt

Positiv wirkt sich dagegen aus, dass die Angestellten im sozialen Sektor häufig viel Neues lernen, Gutes tun und Probleme lösen können.

Vielen Menschen aus dem sozialen Sektor liegt ihr Job und die Menschen, für die sie arbeiten, am Herzen. Die Motivation ist also häufig sehr groß, und das ist sicher ein Fundament, auf dem aufgebaut werden kann.

Aktuell haben trotz der genannten positiven Aspekte aber viele Mitarbeitende das Empfinden, dass das, was sie leisten, in eine Schieflage zu dem geraten ist, was sie bekommen. Das muss sich dringend ändern.

Das Misstrauen des Staates

▶ In Ihrer Studie sprechen Sie von einem "gewachsenen Grundmisstrauen des Staates gegenüber den Beschäftigten im sozialen Sektor". Die Folge ist ein hoher Bürokratieaufwand, was Zeit kostet und worunter die Arbeit leidet. Wie ist es zu erklären, dass gerade in dem Sektor, wo die intrinsische Arbeitsmotivation besonders hoch ist, wo Menschen anderen Menschen helfen wollen, das Misstrauen des Staates besonders ausgeprägt ist?

Joß Steinke: Die Frage, warum man genau hier so extrem auf Steuerung und Kontrolle setzt, kann ich nicht beantworten. Ich verstehe es nicht und habe keine wirklich umfassende Erklärung für dieses spürbare Misstrauen. Da müssen Sie eher die politischen Verantwortlichen befragen.

Die Folgen daraus sind jedenfalls absolut nachteilig. Denn viele im sozialen Sektor klagen über diese sehr hohe Reglementierung und Kontrolle, die nach meiner Einschätzung auch tatsächlich seinesgleichen sucht.

Viele fragen sich, warum das eigentlich so ist, warum das Vertrauen so niedrig ist. Das ist in keiner Weise gerechtfertigt, verletzt die Menschen und führt zudem, ganz praktisch gesehen, dazu, dass Menschen nicht das tun können, wofür sie eigentlich mal angetreten sind, sondern dass sie stärker damit beschäftigt sind, bürokratische Dinge zu verrichten.

Ökonomie: "Abgerechnet wird oft kleinteilig und 'spitz'"

▶ Welche Bedeutung hat die Ökonomisierung für die gefährliche Entwicklung des sozialen Sektors?

Joß Steinke: Der soziale Sektor ist höchstens ein teil-ökonomisierter Sektor. Am Ende werden die Rahmenbedingungen in der Regel immer noch, häufig bis ins Detail, staatlich festgelegt und die Kosten zumindest anteilig von Kommunen oder Sozialversicherungsträgern getragen.

Aber über die Jahre hat man ökonomische Prinzipien wie stark preisorientierte Ausschreibungen im sozialen Sektor eingeführt, die an der einen oder anderen Stelle zu Effizienzgewinnen geführt haben.

Abgerechnet wird oft kleinteilig und "spitz". Aber das hat auch zu kritischen Entwicklungen geführt. Ist es zum Beispiel richtig, dass die Angestellten für Schulsozialarbeit häufig in den Ferien keine Jobs haben und immer wieder neu angestellt werden? Das ist dann genau das Modell, dass alles möglichst effizient ökonomisch erbracht werden soll und man dadurch etwas Geld spart.

Aber das ist eben eine sehr enge Sicht auf Dinge. Das kann man sich so, wenn man auf das Beschäftigungsthema schaut, im Prinzip eigentlich nicht mehr erlauben. Es bleiben ein paar Menschen übrig, denen ihr Job so wichtig ist und die ein großes Herz für die Schülerinnen und Schüler haben, aber das geht eigentlich nicht und so werden wir auch kaum neue Kräfte gewinnen.

Auch die spezifische Art der Ökonomisierung im sozialen Sektor führt also dazu, dass gemeinnützige Träger ihr Angebot einschränken müssen und nicht in der gleichen Qualität anbieten können.

"Der drohende Kollaps war schon lange absehbar"

▶ Es war mehr als absehbar, wie eine Reihe von Experten gewarnt haben, dass durch die Corona-Krise die Anzahl von Menschen, die Hilfe im sozialen Sektor suchen werden, deutlich steigen wird. Was hat die Politik unternommen, um diesem absehbaren Kollaps entgegenzuwirken?

Joß Steinke: Im Prinzip war der drohende Kollaps schon lange absehbar. Der demografische Wandel ist beispielsweise etwas, was wir schon wirklich sehr lange wissen, und auch was er für Folgen hat.

Doch es ist tatsächlich relativ wenig in politisches Handeln umgemünzt worden, sonst hätte man sich viel früher auch die Gedanken machen müssen. Stattdessen hat man Gehaltserhöhungen für den Pflegebereich ohne Gegenfinanzierung beschlossen, die Kosten in hohem Maße den Pflegebedürftigen aufgebürdet und Rechtsansprüche ins Leben gerufen. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist beides an sich wichtig und gut.

Aber ich kann nicht einen Rechtsanspruch beispielsweise auf Ganztagesbetreuung beschließen, wenn parallel das Personal dafür gar nicht da ist und dann auch noch weitgehend die Hände in den Schoß legen und zuschauen, wie die Träger damit irgendwie zurechtkommen. Das ist für mich weder eine ehrliche noch eine verantwortungsvolle Politik.

Bündel an Gegenmaßnahmen

▶ Welche Maßnahmen sind notwendig, um den drohenden Kollaps des sozialen Sektors aufzufangen und abzuschwächen?

Joß Steinke: Wir haben in unserer Analyse ein richtiges Maßnahmenbündel vorgeschlagen, von denen ich ein paar exemplarisch aufführen kann. Angefangen von den Versorgungslücken, die existieren, aber bisher nicht erfasst werden.

Aktuell werden Angebote einfach gestrichen und dann wird möglichst darüber geschwiegen, was die Folgen davon sind. Aber genau diese Folgen betreffen die Menschen vor Ort in ihrem Alltag, mitunter knallhart.

Darüber müssen wir sprechen und schauen, ob und gegebenenfalls wie wir gegensteuern können. Ich finde, die Menschen sollten sich auf eine gewisse soziale Infrastruktur verlassen können.

Wir brauchen auch einen Blick über den gesamten Sektor, um zu einer wirklichen Besserung zu kommen. Also hier mal ein bisschen was, da mal ein bisschen was, da kommen wir nicht weit. Wir sehen immer wieder, dass wenn man an einer Stellschraube die Arbeitsbedingungen verbessert, dann führt das meistens zu Problemen an anderer Stelle.

Ich fand es immer sehr spannend, wie man sich zum Beispiel auch seitens der Bundesregierung mit viel Engagement der Frage zugewandt hat, wie man die sogenannten Mint-Berufe stärkt. So eine gemeinsame, große Initiative für Beschäftigung im sozialen Sektor mit allen Beteiligten, mit der Bundesagentur für Arbeit, mit den Ministerien, mit den Ländern usw. das bräuchte es dringend, auch für die Anerkennung dessen, was hier viele Menschen Tag für Tag leisten.

Wir brauchen dringend einen Bürokratieabbau. Dazu müssen wir Steuerung neu denken, wir brauchen so etwas wie eine strukturelle Finanzierung und auch Wirkungserfassung statt kleinteilige Steuerung.

Wir sollten generell einen gesellschaftlichen Diskurs haben und diese Wirkmächtigkeit der ökonomischen Ansätze gerade in diesem Bereich hinterfragen. Es muss wieder mehr darum gehen, wie wir Daseinsvorsorge für alle gestalten können, welche Rolle gemeinnützige Träger dabei spielen sollten und weniger, wie können wir noch zwei, drei Euro sparen.

Und natürlich gibt es Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, die wir wegen der Unterfinanzierung nicht nutzen können. Die Refinanzierungsmechanismen sind in aller Regel nicht so, dass man zum Beispiel Lizenzkosten oder andere Dinge davon bezahlen kann und schon gar nicht so, dass man mal was ausprobieren kann.

Deswegen gibt es viele digitale Möglichkeiten, die theoretisch da wären, um auch Beschäftigung zu entlasten, aber die nicht genutzt werden können.

"Welche sozialen Angebote wollen wir in Zukunft noch anbieten?"

▶ Genießen die Beschäftigten des sozialen Sektors ausreichend politische und mediale Aufmerksamkeit?

Joß Steinke: Es gab während der Corona-Pandemie eine kurze Phase, in der ich Ihre Antwort wohl mit "ja" beantwortet hätte. Da gab es eine größere Aufmerksamkeit für "systemrelevante" Jobs und damit auch für den sozialen Sektor.

Es gab auch kurzzeitig eine hohe gesellschaftliche Anerkennung. Aber unterm Strich ist von dieser Zeit wenig hängen geblieben. Nun haben sich andere Themen wieder darüber gelegt und die Aufmerksamkeit ist deutlich zurückgegangen. Wir haben nach wie vor Diskussionen darüber, wie die Pflege zukunftsfähig aufgestellt werden kann, aber das war es im Wesentlichen.

Derzeit diskutieren wir eher wieder stärker, ob wir uns soziale Angebote überhaupt noch leisten können, vielerorts wird gar gekürzt, statt zu schauen, wie Projekte langfristig und nachhaltig finanziert werden. Das ist sehr bedauerlich.

▶ In Ihrer Untersuchung fragen Sie sehr direkt: "Was ist der soziale Sektor der Gesellschaft wert?" Inwiefern ist eine gesamtgesellschaftliche Diskussion um die Bedeutung des sozialen Sektors notwendig?

Joß Steinke: Wir laufen auf eine Lage zu, in der diese Diskussion immer dringlicher wird. Wir müssen darüber sprechen, welche sozialen Angebote wir in Zukunft noch anbieten wollen und dann müssen die politischen Rahmenbedingungen dafür gelegt werden. Es bringt nichts, die Lage zu beschönigen oder zu verschweigen.

Der soziale Sektor ist am Ende ein Kostenfaktor. Das gehört dazu, das zu sagen. Aber es ist eben auch ein Kostenfaktor, der enorm wichtig ist, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für die Frage, wie wir in Deutschland leben wollen.

Wir müssen uns angesichts des Arbeitskräftemangels und auch angesichts der gesamten Herausforderungen, vor denen wir stehen, neu einigen, was uns der Sektor eigentlich wert ist. Ich würde es sehr spannend finden, wenn so etwas dann tatsächlich auch mal in den politischen Debatten stärker vorkommen würde.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass einige Menschen für einen besser ausgestatteten Sektor plädieren und dafür durchaus auch mehr Geld aufwenden würden. Das wissen wir nur nicht, weil sich bisher niemand getraut hat, das so ausdrücklich mal anzusprechen und zu fragen.

"Die Unterschiede werden gravierender"

▶ Welche Auswirkungen hätte ein kollabierender sozialer Sektor für die Gesellschaft?

Joß Steinke: Die Auswirkungen wären drastisch. Insgesamt reden wir über Leistungen, die sehr viele Menschen in Anspruch nehmen und das auch gewohnt sind. Ich glaube, es gibt eine gewisse Selbstverständlichkeit in der Inanspruchnahme und gewisse Erwartungen.

Wenn ich eine Familie gründe, da wird schon eine Kita sein. Wenn ich in Not gerate, da wird schon jemand sein, der mir hilft. Wenn ich krank bin, wenn ich pflegebedürftig bin, da ist sicher ein hilfreiches Angebot.

Das wird wohl zukünftig nicht mehr so selbstverständlich sein. Es wird dann weiterhin Angebote geben, aber eben nicht überall und nicht für alle. Die Unterschiede werden gravierender. Es wird sowohl auf regionaler als auch auf individueller Ebene größere Divergenzen geben.

Um Menschen, die viel Geld und Ressourcen haben, muss man sich wahrscheinlich weniger Sorgen machen. Die werden einen Weg finden. Zurück bleiben die, die das alles nicht haben. Für die wird es dann tatsächlich immer härter werden, beispielsweise wenn die Kita häufiger ausfällt oder der ambulante Pflegedienst nicht mehr kommt.

Der politische Prozess?

▶ Was ist seit Erscheinen Ihrer Studie geschehen, um den drohenden Kollaps zu verhindern?

Joß Steinke: Wir hatten viel mediale Resonanz im Vergleich, gerade unter dem Gesichtspunkt, dass es nicht einfach ist, mit sozialen Themen durchzudringen. Politisch war die Studie weniger erfolgreich. Vor allem in Einzelgesprächen bekomme ich sehr viel Verständnis für unsere Analyse und die Forderungen. Vieles bekommen zum Beispiel die Abgeordneten des Deutschen Bundestags in ihren Wahlkreisen ja auch am eigenen Leib mit.

Aber ein politischer Prozess ist daraus nicht entstanden, das Thema wird nicht ganzheitlicher betrachtet etc. Da liegt also noch einiges an Arbeit vor uns. Wir werden das Thema immer wieder auf die Tagesordnung bringen, auch bei der nächsten Bundesregierung und dann hoffe ich, dass hier endlich die richtigen Schlüsse gezogen werden. Denn dies wäre im Sinne von uns allen.

▶ Herr Dr. Steinke, herzlichen Dank für das Interview.

Dr. Joß Steinke leitet seit Februar 2016 den Bereich Jugend und Wohlfahrtspflege im Deutschen Roten Kreuz. Er ist Mitglied des Präsidiums und des Präsidialausschusses des Deutschen Vereins und vertritt das DRK in verschiedenen weiteren verbandsübergreifenden Spitzengremien.

Seit Jahren setzt er sich mit den grundlegende Parametern der Freien Wohlfahrtspflege und des sozialen Sektors auseinander und befördert aktiv Innovationen und Anpassungen an den digitalen Wandel.