Die vertraulichen Sprachregelungen der ARD

Seite 2: "Wertende Beschreibungen gibt es nicht"

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Tagesschau-Chefredakteur Gniffke streitet eine Wertung jedoch rundheraus ab. Auf Nachfrage, weshalb man Attribute wie "Machthaber" oder "Terrormiliz" überhaupt für notwendig halte, meint er:

Wertende Beschreibungen gibt es nicht. Einordnende Beschreibungen hingegen sind für das Publikum insbesondere dann hilfreich, wenn es sich um neue Organisationen handelt oder um Institutionen aus anderen Weltregionen.

Kai Gniffke

Die Nachfrage, worin für ihn der Unterschied zwischen "wertend" und "einordnend" bestünde, ließ Gniffke unbeantwortet. Doch auch abgesehen davon steht die Argumentation erkennbar auf schwachen Füßen. Denn weder Assad, noch der IS, die Taliban oder die Hamas sind "neue" Akteure, die man dem Publikum irgendwie erst vorstellen müsste. Und selbst wenn sie neu wären, müsste eine Einordnung unparteiisch und nicht wertend sein. Das immerhin räumt Gniffke ein, wenn auch im Konjunktiv:

Tatsächlich wären Wertungen ein Widerspruch zum Neutralitätsanspruch.

Kai Gniffke

Doch wie gesagt, solche Wertungen kann der Chefredakteur nicht erkennen. Weitere Nachfragen dazu wurden von ihm nicht beantwortet. Der Slogan "Sag's mir ins Gesicht" hieße wohl besser: "Frag nicht weiter nach".

Gniffkes entschiedene Aussage ("wertende Beschreibungen gibt es nicht") wird derweil aus der Medienwissenschaft angezweifelt. Prof. Michael Haller einer der namhaftesten Medienforscher Deutschlands, der lange für den SPIEGEL und die ZEIT schrieb und bis 2010 Professor für Journalistik am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig war, meint dazu auf Nachfrage:

Es gibt keine 'harte' Grenze zwischen wertend und nicht-wertend. Es handelt sich meist um Etikettierungen, die je nach Konnotation (Gegenstand) und Sprachgebrauch (Wortbedeutungen in der Alltagssprache) mehr oder weniger 'wertend' verstanden werden. (…) Aus seiner (Gniffkes; Anmerkung P.S.) Sicht gibt es offenbar zwei strikt getrennte Kategorien: wertend/nicht wertend - also eine binäre Sichtweise, die der 'fließenden' Semantik unserer Sprache nicht entspricht und ich darum nicht teile.

Michael Haller

Solche fließenden Übergänge betonen auch die Fachbuchautoren Peter Linden und Christian Bleher. Für sie ist schon die übliche Unterscheidung von Nachricht und Meinung eine "künstliche Trennung". So argumentieren sie in ihrem Buch "Glossen und Kommentare in den Printmedien", dass in jeder Nachricht ein Standpunkt oder eine Perspektive stecke. Wichtig sei, wie offen mit diesem Standpunkt umgegangen werde.

Der eigentliche Unterschied zwischen Faktenbericht und Kommentar sei, dass in letzterem der Standpunkt mit Argumenten begründet werde. Spannend für den Leser, so Linden und Bleher, sei nicht, was der Autor denkt, sondern wie er es begründet.

Wer freilich Objektivität und Wertfreiheit schon pauschal für sich reklamiert hat, der muss natürlich auch nichts mehr begründen. Hart geht in diesem Zusammenhang der ehemalige Tagesschau-Redakteur Volker Bräutigam mit Gniffkes Aussagen ins Gericht. Auf Nachfrage meint er:

Der Mann versucht, reaktionsinterne Zensur als Normalität auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem auszugeben. Es ist ihm ersichtlich bewusst, welch ein Politikum seine 'Redaktions-Wiki' darstellt, und dass sie das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hat. (…) Solche Begriffe enthalten Wertungen, die in einer sauberen Nachricht nichts verloren haben. Was von diesem oder jenem Staatsoberhaupt oder Regierungschef zu halten ist, kann jeder Zuschauer selbst befinden.

Volker Bräutigam

Bräutigam ergänzt, dass es zu seiner Zeit bei der Tagesschau in den 1970er und 1980er Jahren Richtlinien in dieser konkreten Form noch nicht gab, wohl aber Sprachregelungen "in Form ungeschriebener Gesetze". So hätte man über die DDR eben "weniger wohlwollend berichtet als über die Nachbarländer Frankreich oder Österreich". Ein restriktives "Wording" wie heute hätte es aber nicht gegeben.

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