Die weißen Sümpfe von Wittmar

Auf dieser Karte sind die radioaktiven Sümpfe von der 750-Meter-Sohle des Atommüll-Endlagers auf die Erdoberfläche projiziert worden.

Eine kurze Geschichte des Atommüllendlagers Asse II

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Die unterirdische Salzwüste

In Deutschland steht ein Hochhaus, das man zwar betreten, aber nie in voller Größe sehen kann. Es wird von einem bewaldeten Hügel getarnt, der rund siebzig Meter aus der niedersächsischen Ackerlandschaft emporragt: Die Asse. Wenige Kilometer nordwestlich liegt Wolfenbüttel, das Stadtzentrum von Braunschweig ist mit dem Auto in einer knappen halben Stunde erreichbar, und im Süden lässt sich die blassblaue Silhouette des Harzes mit dem Brocken erkennen. Ein Spaziergänger auf dem östlichen Abschnitt des Assekammwegs hat zwar die Häuser der Gemeinde Remlingen im Visier, ist sich aber wahrscheinlich nicht bewusst, dass er in unmittelbarer Nähe des unsichtbaren Gebäudes wandert. Wollte er es besichtigen, müsste er mit einem Fahrstuhl 750 Meter in die Tiefe fahren. Dort befindet sich das Parterregeschoss mit 12 großzügigen Räumen von jeweils 60 Metern Länge, 40 Metern Breite und 15 Metern Höhe.

Ähnlich wie in einem Parkhaus führt eine fünf Meter breite „Wendeltreppe“ durch alle dreizehn Stockwerke hinauf bis zu den Dachkammern des 650 Meter langen und 260 Meter hohen unterirdischen Bauwerks. Ein umfangreiches Wegenetz zweigt von der Wendeltreppe ab und verbindet die Etagen miteinander, die aus einem mächtigen Salzstock herausgeschlagen worden sind. Es ist das Grubengebäude des ehemaligen Salzbergwerks Asse II. Kaum ein Besucher ist wirklich auf die Hitze hier unten vorbereitet. In diesem trocken-heißen Salzwüstenklima möchte man sich nach den ersten zaghaften Schritten die weiße Besuchermontur gleich wieder vom Leib reißen, obwohl ein gewaltiges Gebläse für den ständigen Zustrom frischer Luft aus der Remlinger Biosphäre sorgt. In der umgewälzten Grubenluft wirbelt feinster Salzstaub. Der lässt sich auf Haut und Lippen nieder und brennt in den Augenwinkeln. Man schmeckt ihn auf der Zunge.

Die riesigen Hohlräume in dem senkrecht aufgetürmten Salzmassiv entstanden zwischen 1909 und 1964, als hier Stein- und Kalisalz gefördert wurde. Der Kaliabbau lohnte sich bereits in den 1920er Jahren nicht mehr. Die Inflation und der Verlust des deutschen Kali-Monopols hinterließen am Südhang der Asse ihre Spuren. Aber auch die Speisesalzmarke „Asse-Sonnensalz“ setzte sich nicht dauerhaft auf dem Markt durch. Und so verkaufte der Wintershall-Konzern – sprich Winters-Hall – als Eigentümer sein Bergwerk Asse II 1964 an die Bundesrepublik Deutschland. Damit endete der „positive Bergbau“ im Schacht. So nennen die Bergleute die Förderung von Erzen und Mineralien aus dem Berg an die Erdoberfläche. Während der Vollbeschäftigung und des Wirtschaftswachstums der 1960er Jahre produzierten die ersten deutschen Atomreaktoren vermeintlich billigen Strom.

Die Zahlen waren beeindruckend. Ökonomen und Politiker gerieten ins Schwärmen, denn, verglichen mit derselben Menge Kohle, ließ sich aus einem Kilo Urandioxid die 140 000-fache Energieausbeute erwirtschaften. Der einzige kleine Schönheitsfehler: Bei der Stromproduktion aus Uran fielen nicht wiederverwertbare, radioaktive Reste an, die für einige Zeit sicher aufbewahrt werden mussten. Offenbar ging es um ein paar hundert Jahre. Einige Wichtigtuer sprachen von zehntausend Jahren, aber solche Übertreibungen musste man ja nicht ernst nehmen.

Auch auf den Atomphysiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker hatte der wissenschaftlich-technische Fortschrittsoptimismus seiner Zeit abgefärbt. Der errechnete nämlich Ende der 1960er Jahre anhand der Expertenprognosen, dass der gesamte im Jahr 2000 in Deutschland vorhandene Atommüll in einen Würfel von 20 Metern Seitenlänge gepackt und problemlos in einem trockenen Bergwerk entsorgt werden könne. Und klafften nicht im Wüstenklima tief unter der Asse Hohlräume von mehr als drei Millionen Kubikmeter Volumen, die jetzt dem Bund gehörten?

Das Atommüllhochhaus lehnt am porösen Carnallitsattel. Die Einlagerungskammern sind rot markiert.

Eine einzige Salzabbaukammer bot schon eine Aufnahmekapazität von 36.000 Kubikmetern. Da sollten doch die läppischen 8.000 Kubikmeter in Weizsäckers Kiste ganz in Ruhe angerollt kommen. Und so begann 1967 der „negative Bergbau“ in der Asse: Gefährliche Fremdstoffe wurden aus der Technosphäre des Menschen unter die Erde gebracht und in leerstehenden Abbaukammern verstaut. Zu Forschungszwecken, wie es hieß.

Mit der offiziellen Sprachregelung „Versuchsendlagerung“ hielt man sich alle Optionen offen. Diesen verbalen Salto mortale mochten Optimisten und Gutgläubige so interpretieren, dass der radioaktive Abfall wieder fortgeschafft werde, sobald genügend Erkenntnisse gegen eine Endlagerung im Salz gesammelt worden seien. Währenddessen fragten sich die Skeptiker, wie man wohl eine Endlagerung erfolgreich „versuchen“ könne, ohne sie auch konkret bis zum Ende, also für immer, durchzuführen. Aus ihrer Sicht war eine Versuchsendlagerung de facto eine Endlagerung. Sonst hätten die Verantwortlichen von einer Zwischenlagerung sprechen müssen.

Hier, in den Hohlräumen von Asse II, hat der negative Bergbau inzwischen eine Dimension angenommen, die weltweit beispiellos ist und noch viele künfige Menschengenerationen beschäftigen wird. Rund 125.000 Fässer schwachradioaktiver und 1300 Fässer mittelradioaktiver Müll sind zwischen 1967 und 1978 ins Salz gefahren worden. Hier geht es um Substanzen, von denen nach einigen Hunderttausend Jahren noch immer Gefahr für Lebewesen ausgeht. Sprechen wir also von Plutonium. Im Assesalz liegen offiziell rund 12 Kilogramm dieses hochtoxischen Stoffs auf einige Tausend Fässer verteilt. Dieses Element kommt in der Erdkruste in kaum messbaren Mengen vor. Und angesichts der geringen Erträge, die im heißen Betrieb eines Atomkraftwerks als Uranzerfallsprodukt anfallen, sind offiziell zugegebene 12 Kilogramm als Atommüllbestandteile ein erstaunlich großes Quantum. An dieser Zahl entzündeten sich denn auch die nie verstummten Befürchtungen, es könnten, heimlich und falsch deklariert, hochradioaktive Abfälle eingelagert worden sein.

Atmet ein Mensch Staub ein, der nur wenige Millionstel Gramm Plutonium enthält, wird die Strahlung in seinen Körper eingeschlossen und kann sich zwanglos entfalten, was unausweichlich zu Lungenkrebs führt. Der menschliche Körper reagiert also mit groben Missverständnissen auf radioaktiven Zerfall. Denn eigentlich verfolgt die dabei frei werdende Strahlung keine bösen Absichten. Sie will sich nur so ungehindert wie möglich ausbreiten und setzt ihre hemmungslose Expansionspolitik recht eindrucksvoll durch. Wenn ihr Materie im Weg steht, von der sie leicht abgebremst wird, gibt sie ihre unwirschen Kommentare ab. Sie zieht es vor, mit Lebewesen auf molekularer Ebene zu kommunizieren und hinterlässt in Gewebe, Organen und im Erbgut raffiniert verschlüsselte Informationen, mit der die wertkonservative DNS nichts anzufangen weiß. Und so kontert der Körper dann auch mit hilflosen Manövern und Himmelfahrtskommandos wie Knochenschwund und Blutkrebs.

In der Asse liegen mindestens vier verschiedene Plutoniumsotope. Isotope sind Atomkerne desselben Elements, aber mit unterschiedlich vielen Kernbausteinen.Wir haben hier also ein Plutoniumsortiment mit 238, 239, 240 und 241 Kernbausteinen. Der jeweilige Anteil dieser Plutoniumisotope an der Gesamtmenge von knapp 12 Kilogramm ist unbekannt. Die höchste Halbwertzeit hat Plutonium-239. Nehmen wir idealerweise an, die zwölf Kilogramm wären „brüderlich“ durch alle vier Isotope geteilt, dann gäbe es drei Kilogramm Plutonium-239 mit einer Halbwertzeit von 24 000 Jahren. Zum Vergleich: Die Nagasaki-Atombombe „Fat Man“ enthielt 6 Kilogramm Plutonium-239. Jetzt dauert es 24.000 Jahre, bis sich so viele Atomkerne dieses Isotops in Kerne anderer Elemente umgewandelt haben, dass mit eineinhalb Kilogramm noch die Hälfte der ursprünglichen Masse vorhanden ist.

Nach 48.000 Jahren werden laut statistischer Zerfallswahrscheinlichkeit noch 750 Gramm Plutonium in der Asse sein, und nach 100.000 Jahren immerhin noch rund 180 Gramm. Eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren bedeutet also nicht – wie häufig falsch gefolgert wird – dass nach 48.000 Jahren keine gefährliche Plutoniumstrahlung mehr zu befürchten ist. Es kommt auf die an einem Ort konzentrierte Menge an. Rechnet man hier mit der Halbwertzeit von 24.000 Jahren konsequent weiter, sind im Jahr 202.008 von den angenommenen drei Kilogramm Plutonium-239 noch rund 10 Gramm übrig. Bei einer Schwelle von etwa 25 Millionstel Gramm zur Auslösung von Lungenkrebs kann man selbst weitere 100 000 Jahre später noch lange nicht von der einen ungefährlichen Menge dieses Stoffes sprechen. Und deshalb stellt aufgewirbelter Plutoniumstaub in der Asse für einige hunderttausend Jahre ein realistisches Gefährdungspotenzial dar.

Solche Zeiträume sind für die menschliche Kultur eine gewaltige, kaum vorstellbare Größenordnung. Noch absurder wird es, wenn Politiker und Wissenschaftler für diesen Zeitraum im voraus Verantwortung übernehmen wollen und behaupten, sie könnten den Atommüll so lange sicher aufbewahren, dass kein Mensch zu Schaden komme. Vor vierzig Jahren, zu Beginn der „Versuche“ mit Atommüll in der Asse, setzte man auf die Plastizität des Salzes, auf sein Bestreben, in Hohlräume zu kriechen und sie zu verschließen.

Das Salz werde also, so lautete die forsche These, um die Atommüllfässer gleichsam herumfließen und sie fest im Berg einschließen und dauerhaft von der Biosphäre fernhalten. Gutachter und Volksvertreter garantierten unisono und wider besseres Wissen die ausreichende Standsicherheit des alten Salzbergwerks. Allerdings sind die geodynamischen Kräfte genau dort gestört, wo intensiver Bergbau betrieben wurde. Hier gibt es durch den Eingriff des Menschen künstlich geschaffene, komplizierte Wechselwirkungen zwischen Gesteinsschichten und Grundwasserströmungen. Wer daher Garantien für die Standsicherheit alter Grubengebäuden gibt, betritt – buchstäblich gesagt – brüchiges Terrain. Denn nichts ist wirklich starr. Alles gerät irgendwann einmal in Bewegung.

Auch wenn man sich einige hunderttausend Jahre künftiger Menschheitsgeschichte unmöglich vorstellen kann, so ist derselbe Zeitraum aus geologischer Perspektive tatsächlich noch kein bedeutsamer Abschnitt, in dem nennenswerte Veränderungen in der Erdkruste vorkämen. Die treten erst hervor, wenn wir weiter in die Vergangenheit zurückblicken. Vor rund 250 Millionen Jahren war Norddeutschland nicht zum ersten Mal von einem flachen Meer überschwemmt. Damals sahen die Kontinente nicht so aus, wie wir sie heute kennen. Es gab Zeiten, da lag das Territorium, das wir heute Deutschland nennen, nahe am Äquator. Unter subtropischer Hitze und extremer Trockenheit verdunsteten die Meere rascher. Sie kamen und gingen in stetiger Folge und hinterließen im Lauf vieler Millionen Jahre mächtige Salzablagerungen nördlich des Harzes.

Dann kamen die Steine. Muschelkalk und Roter Sandstein schoben sich übereinander. Nachgiebiges wurde zerrieben. Starres Deckgebirge gab nach und stürzte ein. Von Wasser, Eis und Wind verwittertes Gestein wurde von nachrückendem Geröll unter die Erde gedrückt, gefolgt von Schichten aus Gips, Flammenmergel und blättrigem Ton. Und darunter sank die weiß glitzernde Kristallwüste mit in die Tiefe.

Unter dem Druck des Deckgebirges reagierte das Salz der vielen, längst verdunsteten Meere plastisch und kroch, langsam aber unaufhaltsam, mit seinem geringeren spezifischen Gewicht nach oben, auf die jüngeren Gesteinschichten zu, die bereitwillig bröckelten und übereinanderstürzten. So konnte das Salz entlang einer Bruchzone bis nahe an die Oberfläche des künftigen Braunschweiger Landes aufsteigen. Darüber bildete sich ein Gipshut, bedeckt von verworfenen Buntsandsteinschollen: der Assehügel. Das geschah vor etwa 100 Millionen Jahren. Zu diesem Zeitpunkt waren unsere Vorfahren verwegene Kleinstnagetiere, die in den Jagdrevieren urniedersächsischer Raubsaurier Deckung suchen und ihrerseits die tägliche Überlebensration Fliegen und Würmer erjagen mussten.

Kurz zuvor erst waren sie couragiert von einem breiten evolutionären Entwicklungspfad abgebogen, der ihre weniger riskiofreudigen Cousins nach kuriosen Fehlschlägen immerhin zur überaus erfolgreichen Gattung der Mäuse führen sollte. Unsere Urahnen wuselten damals somit bestenfalls als hamsterähnliche Vierbeiner durch das federblättrige Unterholz der Kreidezeit.

Seitdem ruht der Assehügel, scheinbar unbeweglich, in der Landschaft zwischen Harz und Heide. Doch der Schein trügt. Es rumort im Untergrund, wenn auch mit einer monströsen Trägheit, auf die die nervösen, an stetige Reize gewöhnten menschlichen Sinne nicht vorbereitet sind. Aus erdgeschichtlicher Perspektive betrachtet, sind die Steine aber ständig in Bewegung. In einem unfassbar gemächlichen Kreislauf sinkt Oberflächengestein ins Erdinnere. Hier wird es unter Hitze und Druck umgewandelt. Aus Granit wird Gneis, Kalkstein avanciert zu Marmor, während Tonschichten sich in zäher Metamorphose zu Schiefer umformen. Dann gelangen die Steine wieder an die Erdoberfläche, verwittern und werden zu Staub. Der wird vom Wind fortgetragen und reichert sich an einem anderen Ort womöglich zu Muttererde an, einer integrierten Entwicklungsumgebung für die erste, sagen wir: Walderdbeere der Geschichte.

Auch das Salz steigt heute noch auf. Obwohl selbst der aufmerksamste menschliche Beobachter über einen längeren Zeitraum hinweg keine dramatischen Unruhen im Assegelände wahrnähme, steht das Salzmassiv in einem Spannungsfeld unterschiedlicher geodynamischer Kräfte. Gravitation, Reibung und Wasserdruck fordern ihren Tribut. Von oben lastet schweres Deckgebirge auf dem leichteren Salz. Wenn es regnet, versickert das Wasser im Boden. Im oberflächennahen Kies, Sand und Kalkstein sowie im porösen Gipshut, der auf dem Salz sitzt plätschert das Grundwasser mit einer Fließgeschwindigkeit von gemütlichen 5 bis 100 Metern am Tag durch Spalten und Risse im Fels und sucht sich neue Wege. Die gebirgsmechanischen Kräfte und Spannungen erreichen eine zusätzliche Dimension, wenn Menschen mit bemerkenswertem Eifer aufwändige Löcher in die Erde bohren, um an die Bodenschätze zu gelangen.

Der Kalisalzbergbau in der Asse begann 1883 mit Probebohrungen in Wittmar, einer kleinen Gemeinde am Südhang des Höhenzugs. Hier wurde 1899 dann auch mit den Bauarbeiten am Schacht Asse I begonnen. Zwei Jahre später stand auf dem Gelände des Bergwerks bereits eine Fabrik, in der das Rohsalz zum gebrauchsfertigen Kalidünger verarbeitet wurde. Es war die hohe Zeit der deutschen Kalisalzindustrie. Fast tausend Jahre lang hatten die Bergleute in den Steinsalzgruben die orangerot, bräunlich und bernsteinfarben funkelnden Adern dieses bitteren Minerals als lästige Unreinheiten betrachtet und es als Abfall auf Halde geworfen. Doch dann entdeckte der deutsche Chemiker Justus von Liebig, dass Kalisalz zusammen mit Phosphorsäure und Stickstoff zu den drei wichtigsten Pflanzennährstoffen gehörte.

1977 wurde die Chlorkaliumfabrik auf dem Schachtgelände von Asse I abgerissen

Mit dem Heraufdämmern der Kunstdüngerära sah sich das chronisch rohstoffarme Deutschland plötzlich im Besitz der bedeutendsten Kalisalzlagerstätten und lieferte 99 Prozent des Weltbedarfs für Kalidünger. Der aufstrebenden chemischen Industrie diente Kali zusätzlich als wichtiges Ausgangsprodukt zur Herstellung von Papier, Farben, Seifen, Bleichmitteln und später auch von Kunststoffen. Und von diesem nationalen Boom wollte nun auch die Asse-Gewerkschaft als Betreiberin der Anlagen in Wittmar profitieren.

Der Name Wittmar bedeutet weißer Sumpf. Die Siedler im 13. Jahrhundert, die dem Ort diesen Namen gaben, werden nicht gewusst haben, dass sie hier über der weißen Hinterlassenschaft verdunsteter Meere hockten. Im Weltbild des Hochmittelalters waren Kontinente und Ozeane erst kürzlich genauso von Gott erschaffen worden, wie man sie vorfand. Entwicklungen und Veränderungen in der Erdkruste waren in der Schöpfungsgeschichte nicht vorgesehen. Aber die versteinerten Bruchstücke von Seelilien, Muscheln, Schnecken und Ammoniten konnten die Neuankömmlinge beim Pflügen ihrer Äcker am Dorfrand kaum übersehen haben. Noch heute lassen sich Fossilien auf den Feldern bei Wittmar aufspüren, die von der marinen Vergangenheit dieses Landstrichs zeugen. In den kurzen Jahren des Kalibooms wuchs das kleine Bauerndorf rasant zu einer Bergarbeitersiedlung heran.

Aber nach nur vier Jahren Kaliförderung begann – vermutlich wegen unsachgemäßen Salzabbaus – Wasser aus dem Deckgebirge in die Kammern der 300-Meter-Sohle zu sickern. Ein Jahr später, im Juli 1906, war das Bergwerk Asse I mit Wasser vollgelaufen und musste aufgegeben werden. Die Endlageringenieure sollten daher dieses mächtige, fünf Millionen Kubikmeter umfassende Wasserreservoir in unmittelbarer Nachbarschaft der Strahlendeponie als Instabilitätsfaktor im Asseuntergrund auf der Rechnung haben.