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Diese Sicherheitslücke hätte den Reichsbürgern einen Sturm auf das Parlament erleichtert

Bild Plenarsaal: Steffen Prößdorf / CC BY-SA 4.0 / Grafik: TP

Themen des Tages: Krieg in der Ukraine und Interessen von Russland. Pressefreiheit in Lettland. Und strukturelle Sicherheitsprobleme im Bundestag.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Ukraine sagt, kann einen in Deutschland schon mal in die Bredouille bringen.

2. Wer in Lettland russische Medien betreibt, kann kellnern gehen.

3. Wer den Bundestag erstürmen will, kann womöglich auch einfach durch die Vordertür reinmarschieren.

Doch der Reihe nach.

Ukraine-Debatte: Was ist dort legitim, was hier?

Auf Unterschiede in der Ukraine-Debatte in Deutschland und Frankreich verweist heute Telepolis-Autor Bernhard Trautvetter [1]: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte dem französischen Fernsehsender TF1 bekräftigt, bei Friedensverhandlungen zur Lösung des Ukraine-Konfliktes seien auch die Sicherheitsbedürfnisse Russlands zu berücksichtigen. Es gehe um eine neue europäische Sicherheitsarchitektur.

Diese Aussage erinnert an die Charta von Paris aus dem Jahr 1990. Die Staats- und Regierungschefs, der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) erklärten damals: (…) "Die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, können nur durch gemeinsames Handeln, Zusammenarbeit und Solidarität bewältigt werden."

Bernhard Trautvetter

Lettland schließt kremlkritischen Sender

Lettland fürchtet jegliche Form von prorussischer Äußerung im Land [2]. Dies bekam auch der Kreml-kritische russische TV-Sender Dozhd zu spüren, so Telepolis-Autor Jens Mattern. Der lettische Rundfunkrat NEPL habe am Dienstag entscheiden, ihm die Lizenz zu entziehen.

Als Grund wurde vorgebracht, dass in dem Sender Streitkräfte der Russischen Föderation als "unsere Armee" bezeichnet wurde. Außerdem wurde erklärt, dass der Sender die dortigen Soldaten mit Ausrüstungen versorge, und es wurde eine Landkarte gezeigt, bei der die Krim als Teil Russlands dargestellt wurde.

Jens Mattern

Krieg der Schriftsteller

Beim Schriftstellerverband PEN gibt es anhaltend Ärger [3]. Dabei ist es mitunter unklar, ob es politische Probleme sind oder persönliche Fehden: nachdem sich der Berliner Verband von dem Bundesverband abgespalten hat, gibt es keine Ruhe. Dazu Telepolis-Autor Peter Nowak:

Bereits vor der Trennung im PEN-Zentrum Deutschland war Kritik am angeblich autoritären Führungsstil von Deniz Yücel bekannt geworden. Bereits vor einem halben Jahr, als die Auseinandersetzung um den PEN hochgekocht war, erläuterte Gerrit Bartels, Literaturredakteur beim Berliner Tagesspiegel, gegenüber dem SWR, es gehe bei dem Streit nicht nur um Yücels Äußerungen zum Ukraine-Krieg.

Peter Nowak

Sicherheitslücken im Parlament: Wie der Bundestag Reichsbürgern in die Hände spielt

Die Razzia gegen Vertreter der Reichsbürgerszene am gestrigen Mittwochmorgen erregt die Gemüter, vor allem angesichts einer offenbar geplanten Erstürmung des Bundestags in Berlin.

Nach Angaben des Generalbundesanwalts [4] besteht der Verdacht, "dass einzelne Mitglieder der Vereinigung konkrete Vorbereitungen getroffen haben, mit einer kleinen bewaffneten Gruppe gewaltsam in den Deutschen Bundestag einzudringen". Dies könne als Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen den Bund bewertet werden.

Tatsächlich waren Aktivisten in den vergangenen Jahren immer wieder in den Bundestag gelangt, teilweise mit Hilfe von Vertretern der Oppositionsfraktionen. Doch gibt es eine andere offene Flanke, über die innerhalb und außerhalb des Hohen Hauses kaum jemand spricht: Nach Telepolis-Informationen vermisst die Bundestagsverwaltung hunderte, womöglich tausende Hausausweise ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter [5].

Auf Anfrage von Telepolis könnte die Bundestagspressestelle am Mittwoch binnen Tagesfrist zunächst nicht beantworten, wie viele dieser Ausweise nach Ende der Tätigkeit der Inhaber abgegeben worden sind.

Dabei hatte die Zentrale Ausweisstelle in den vergangenen Wochen und Monaten massenhaft Briefe versandt, um die kreditkartengroßen Ausweise mit Sicherheitschip zurückzuverlangen. Diese Schreiben gingen bei ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mitunter Jahre nach Ende der Tätigkeit ein.

Der Autor dieses Textes selbst erhielt ein solches Schreiben 90 Wochen nach Ende eines Anstellungsverhältnisses im Parlament. Kein Einzelfall, wie andere Ehemalige aus dem Bundestag bestätigen.

Ich war in der 18. Wahlperiode für zwei Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einer Abgeordneten einer damaligen Oppositionspartei tätig. Mein Bundestagsausweis war aber für die gesamte Legislaturperiode gültig. Niemand forderte den Ausweis von mir zurück, so dass ich zwei Jahre lang völlig unbehelligt nach Lust und Laune in die Bundestagskantine oder zu Anhörungen in den Sitzungswochen gehen konnte.

Ehemaliger Bundestagsmitarbeiter gegenüber Telepolis

Eine andere Ex-Mitarbeiterin erhielt ein Rückforderungsschreiben erst rund drei Jahre, nachdem sie aus dem Parlament ausgeschieden war. In einem weiteren Fall ging die Forderung einem inzwischen Verstorbenen zu.

Dabei hätte solche Sicherheitslücke längst geschlossen werden sollen, nachdem Anfang 2021 Aktivisten von Abgeordneten der AfD-Fraktion in das Reichstagsgebäude eingeschleust worden waren und Abgeordnete verbal attackiert hatten.

Solche Schreiben erreichten ehemalige Bundestagsmitarbeiter mitunter erst nach Jahren, auch Verstorbene wurden angeschrieben.

Seither hat sich die Sicherheitslage nicht verbessert, ganz im Gegenteil: Unter den nun Festgenommenen befindet sich auch die Berliner Juristin Birgit Malsack-Winkemann, die für die AfD von 2017 bis 2021 im Bundestag saß. Als Ex-Mandatsträgerin kann sie über einen sogenannten Ehemaligenausweis [6] ohne weitere Probleme in die Gebäude des Bundestags gelangen. Das wiegt schwer, weil Mitglieder des "militärischen Arms" der Verschwörer offenbar Bundeswehrkasernen in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern ausgekundschaftet hatten – und der Bundestag ein konkretes Ziel war.

Und selbst ehemalige Mitarbeitende mit ungültigen Ausweisen könnten noch in die Gebäude gelangen: Wenn viele Menschen auf einmal die Sicherheitsschleuse passieren, genügt mitunter das einfache Vorzeigen des Ausweises, ohne elektronisch einzuchecken. In Form und Farbe lassen sich die Karten der letzten und der aktuellen Wahlperiode nicht unterscheiden.

Obwohl nach den letzten Zwischenfällen im und am Bundestag zugesichert worden war, die Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern, wurden bis heute noch nicht einmal die Grundlagen dafür geschaffen.

Nach Telepolis-Informationen sind in der Zentralen Ausweisstelle der Bundestagspolizei derzeit lediglich zwei Mitarbeiterinnen für die Kontrolle tausender Hausausweise für Mitarbeiter und externe Kräfte zuständig. Eine organisierte Rückmeldung über Arbeits- und Vertragsverhältnisse von Personalreferat gibt es nach Aussagen Verantwortlicher nicht.

Zwar werden die einzelnen Ausweise in einer Datenbank erfasst, die gibt aber keine Rückmeldung, wenn der Ausweisträger seine Zugangsberechtigung verliert. Aber immerhin eine Datenbank: In der Schlüsselstelle das Deutschen Bundestags wurden die Namen bei der Ausgabe der Schlüssel zuletzt noch auf kleinen Pappkarten vermerkt und in alte, hölzerne Karteikartenschränke händisch einsortiert.

Artikel zum Thema:

Thomas Pany: Historische Großrazzia gegen Reichsbürger mit Umsturzplänen [7]
Claudia Wangerin: Verfassungsschutz: "Delegitimierer des Staates" sind "thematisch flexibel" [8]
Claudia Wangerin: Straftaten von "Reichsbürgern" häufig "nicht zuzuordnen" [9]


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Diplomatie-vs-Atompazifismus-7370524.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Lettland-Furcht-vor-jeder-Form-prorussischer-Berichterstattung-7370041.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/PEN-in-der-Zeitschleife-Streit-um-Personen-statt-um-Inhalte-7369892.html
[4] https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/aktuelle/Pressemitteilung-vom-07-12-2022.html?nn=478184
[5] https://www.bundestag.de/abgeordnete/mdb_diaeten/1334d-260806
[6] https://www.bundestag.de/resource/blob/340518/d733432871694f1b8214a87803213500/zugangsregeln-data.pdf
[7] https://www.heise.de/tp/features/Historische-Grossrazzia-gegen-Reichsbuerger-mit-Umsturzplaenen-7369200.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Verfassungsschutz-Delegitimierer-des-Staates-sind-thematisch-flexibel-7133955.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Straftaten-von-Reichsbuergern-haeufig-nicht-zuzuordnen-6036529.html