Diktatur des Proletariats, Reich der Freiheit und blutiges Ende: die Pariser Kommune

Im Mai 1871 stürzten Kommunarden die Vendôme-Säule, mit der Napoleon I. den Sieg in der Schlacht von Austerlitz verherrlichen ließ. Bild: Public Domain

Kleines Marx-Lexikon - Folge 6

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In dieser Folge: Kommunismus / Diktatur des Proletariats / Pariser Kommune

Kommunismus

Passagen zur kommunistischen Gesellschaft finden sich bei Marx nur verstreut. Der Wortgewaltige wirkt etwas verschämt. Einerseits schafft die kapitalistische Gesellschaftsform selbst die Grundlagen zu ihrem Untergang, indem sie die abstrakt gesellschaftliche Arbeit entwickelt. Durch die Überakkumulation von Mehrwert bzw. von "Surplus-Arbeitszeit", durch nicht mehr von der Wertform zu bewältigende Produktivkräfte werden Krisen provoziert, bis das Proletariat, ebenfalls ein Produkt des Kapitalismus, als Protagonist der Geschichte auftritt und sich die Produktionsmittel zwecks gemeinschaftlicher Arbeit aneignet.

Auf dieser Grundlage stirbt auch der bürgerliche Staat ab, schreibt zumindest Engels. An die Stelle tritt die Freiheit des vergesellschafteten Menschen, der assoziierten Produzenten, die den Stoffwechsel mit der Natur unter ihrer gemeinschaftlichen Kontrolle und mit dem geringsten Kraftaufwand vollziehen.

Weniger deterministisch, weniger nach automatischem Ablauf klingen Begriffe wie "Diktatur des Proletariats", die für eine Übergangsphase gelten soll. Jeder Marx-Rezipient pickt sich beim Reizwort "Diktatur" heraus, was am besten zu seiner Vor-Einstellung passt. Marx selbst tut sich damit nicht so schwer, da auch in der kommunistischen Gesellschaft Momente des Zwangs generell unvermeidlich seien. Ein Dualismus aus Freiheit und Notwendigkeit bleibt bestehen.

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.

Trotz aller Entwicklung der Produktivkräfte bleibt das Reich der Naturnotwendigkeit bestehen.

Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.

(MEW 25/828)

Das liest sich sehr prosaisch. Das Reich der Notwendigkeit als Bestandteil einer kommunistischen Gesellschaft ist mutatis mutandis an der notwendigen Arbeit orientiert, an dem Teil des kapitalistischen Arbeitstages, dessen Wertschöpfung die Subsistenzmittel des Arbeiters reproduziert. Während der Kapitalist den Mehrwert-bildenden Teil des Arbeitstages durch Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit steigern und auf seiner Haben-Seite verbuchen möchte und den notwendigen Teil, der den Wert der Arbeitskraft ersetzt und letztlich den Arbeitslohn ausmacht, absolut drücken möchte, eröffnet die kommunistische Gesellschaft gegenteilige Aussichten: Die Menschen arbeiten für ihre Subsistenz, sagen wir zwei Stunden pro Tag und verfügen für den Rest des Arbeitstages über disponible Zeit.

Ein frühes Zitat (1845) von Marx zu jener disponiblen Zeit zeichnet nicht einfach ein elysisches Bild, sondern trifft die aktuelle Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen auf den Punkt: Wo die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und der Kreis von Tätigkeiten, den man wählt, nicht dem Zwangsgesetz der Arbeitsteilung unterliegt, ist es mir möglich, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." (MEW 3/33)1 Hier kann jeder andere Beruf eingesetzt werden. Die Kreativität stößt nicht mehr an die bisherigen Grenzen der Arbeitsteilung.

Kurz: Wird in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft noch jeder nach seiner individuellen Arbeitsleistung bezahlt und wird deshalb trotz gleichen Rechts für alle nach wie vor Ungleichheit generiert, heißt es in der höheren Phase: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Arbeit ist nun nicht mehr "nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden." (MEW 19/21)

Das ist keine vollkommene libertäre Freiheit. Einzukalkulieren ist das Minimum an Arbeitszeit, das für die "Notdurft" der Subsistenzerhaltung notwendig ist. Darüber hinaus sind mittels eines Fonds gesellschaftliche Bedürfnisse zu berücksichtigen, von denen im nächsten Absatz die Rede ist. Die kommunistische Gesellschaft ist nicht identisch mit dem biblischen Paradies. Sie ist keine Mythologie.

Das Verhältnis von notwendiger Arbeit zu Mehrarbeit verändert jedoch nicht nur seine Form in der künftigen Gesellschaft. Die notwendige Arbeit könnte durchaus ihren Raum ausdehnen, "weil die Lebensbedingungen des Arbeiters reicher und seine Lebensansprüche größer" werden. (MEW 23/552) Das Mindesteinkommen ist demnach variabel auch nach oben. Andererseits verwandelt sich die Mehrwert-bildende Arbeitszeit nicht komplett in disponible Zeit. In der neuen Assoziation freier Produzenten sind die individuellen Arbeitskräfte ein Moment der gesellschaftlichen Arbeitskraft. Die Assoziation regelt die Verteilung, die nicht nach der individuellen Arbeitsleistung und -zeit bemessen werden kann. Ein "gesellschaftlicher Reserve- und Akkumulationsfonds" muss geschaffen werden.

Dazu gehört, was Marx für die kapitalistische Gesellschaft als Produktionsmittel bezeichnet hat (Vgl. MEW 23/93), dazu gehören aber auch Versicherungen, Infrastruktur-Einrichtungen und Sozialleistungen.

These:
Das Reich der Freiheit, der disponiblen Zeit für die Produzenten, hat das Reich der Notwendigkeit zur Voraussetzung. Die zur Subsistenzerhaltung notwendige Arbeit kann jedoch auf ein Minimum reduziert werden.

Diktatur des Proletariats

All diese Abzüge zählt Marx auf, um das u.a. von Ferdinand Lassalle inspirierte "Gothaer Programm" zu zerfetzen. Der Programmentwurf (1875) ist gleichsam die Geburtsurkunde der SPD. Lassalles Postulat eines Rechtes der Arbeiter auf den "unverkürzten Arbeitsertrag" hält Marx unter Hinweis auf die einzubehaltenden Fonds für eine Phrase, die noch dazu mit Gerechtigkeitsappellen durchtränkt ist. Zumindest in diesem Punkt ist die SPD sich treu geblieben.

Um die "sozialistische Organisation der Gesamtarbeit" zu erreichen, verlangt Lassalle den Aufbau von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe. Er scheint auf den Staat zu setzen, weil er ihn mit Menschenrechtsideen identifiziert. Dagegen Marx: Der Staat ist die politische Organisation einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Und davon nimmt Marx die proletarische Revolution nicht aus. Die Produktionsmittel und deren (Alt-)Eigentümer passen sich nicht von selbst den neuen Verhältnissen an. Darauf müssen die Verhältnisse ihrerseits abgestimmt werden. Das Proletariat muss zuerst die politische Macht erobern, um sein Interesse als das Allgemeine darzustellen.

In dieser "ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft" ist Gemeinschaftlichkeit noch nicht auf der Basis der gesellschaftlichen Arbeit freier Produzenten hergestellt, sondern auf dem ideellen Niveau des Staates. In "Zur Judenfrage" hatte Marx das als eine Form der Entfremdung dargestellt, um 1875 hinzuzufügen: Die neue Gesellschaft ist mit den Muttermalen der alten behaftet. Aber nach dem Durchgang durch die regulative Politik, wozu auch die Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Vertretungsorgane der Arbeiterschaft gehören dürfte, ist der Erfolg garantiert. Denn: "Die Bedingung der Befreiung der arbeitenden Klasse ist die Abschaffung jeder Klasse." (MEW 4/181) Lenin wird diese Stellen aufmerksam gelesen haben.

Was aber, wenn die Verwalter der "Reserve- und Akkumulationsfonds" (Kommunismus), die Stellvertreter des Proletariats, so viel Gefallen an der Verwaltung finden, bis sie Funktionäre geworden sind, die ihre neue Verfügungsmacht nicht mehr loslassen möchten? Und was ist über jene politischen Zentralkomitees zu sagen, die im Namen des Proletariats eine "vorübergehende" Diktatur ausüben, bis sie gar nicht mehr anders können und ihre Diktatur mit "wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit" auf das Volk insgesamt ausgeweitet haben? George Orwell hat es in "Animal Farm" beschrieben.

Die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft bedarf der politischen Organisation zur Durchsetzung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion. Dieser notwendige Zwang könnte zum Sündenfall des Marxismus werden.

Pariser Kommune

Die Kommune "war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte...

Die politische Herrschaft des Produzenten kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht. Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.

(MEW 17/342)

Die Themen, die hier anklingen, sind bereits unter den Stichwörtern Kommunismus und Diktatur des Proletariats aufgetaucht, aber mit dem Unterschied, dass die Pariser Kommune von 1871 das erste Mal eine Realisierung der Aufhebung der Klassenherrschaft darstellte. Heute würde man sagen: Die Kommune war ein Experiment. Es währte nur gut zwei Monate am Ende des deutsch-französischen Krieges und endete in einem Gemetzel.

Kommunarden an einer Barrikade vor der Place Vendôme. Bild: Public Domain

Genau genommen wurde die "erste Phase der kommunistischen Gesellschaft" verwirklicht, die ohne Stärkung der exekutiven Gewalt nicht auskommt. Marx belegt mit vielen historischen Beispielen, dass die brutalste Gewalt von der Konterrevolution auszugehen pflegt. Im Fall von Paris ging sie von der Soldateska aus, die die nach Versailles zurückgewichene Regierung unter Adolphe Thiers sammelte und organisierte. Aber die Kommune konnte in den Kämpfen nicht umhin, die Gewalt gleichsam zu importieren und selbst auszuüben, etwa durch Brandlegung und Geiselerschießung. Die Abwägung des Nützlichen, das zu tun ist, gegen das ohnmächtig Gute, das nicht getan werden kann, zieht sich wohl durch alle Umbruchsphasen der Geschichte. Machiavelli schrieb das Handbuch.

Beschäftigt sich Marx so ausdrücklich mit der politischen Form der Herrschaft der Arbeiterklasse als Form des Übergangs, weil im Frankreich des Jahres 1871 die realen ökonomischen und sozialen Bedingungen noch nicht gegeben waren? Das Übergangsstadium in eine neue Gesellschaft, das er beschwört, rührt von unvollkommenen historischen Verhältnissen her, die die er selbst im "18. Brumaire" beschrieben hat (Bonaparte). Es war die Zeit, als die Bourgeoisie die Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren und die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte. Dass die Kommune Vorbote einer neuen Gesellschaft sei, entpuppte sich als Hoffnung, die auch bei Marx nicht frei von Utopie war.

Oder war die Kommune "ein Stück weit" konkrete Utopie, wie Ernst Bloch es nennt? In einem der Dekrete wurde Vorsorge getroffen, von ihren Besitzern verlassene Werkstätten und Fabriken an Arbeitergenossenschaften zu übergeben. Das waren zaghafte Ansätze einer Vergesellschaftung, die, wenn sie allgemein geworden ist, die politische Herrschaft der Arbeiterklasse obsolet macht. Denn mit dem Sieg der Arbeiterklasse fällt die Klassenherrschaft selbst. Theoretisch.

Zwischen Marxens an Hegel geschultem geschichtsphilosophischem Notwendigkeitspostulat, dem Konstrukt der Revolution als Negation der Negation auf der einen und dem Schrecken von Straßenkämpfen, Erschießungen und Brandschatzungen auf der anderen Seite sollte der Bogen der Interpretation nicht überspannt werden. Nicht alles, was in der Geschichte passiert, kann mit der reinen Lehre gerechtfertigt, gar entschuldigt werden. Marx ist seinerseits hin und hergerissen zwischen Begeisterung und Verzweiflung, war er doch die wichtigste Figur der Dachorganisation sozialistischer Bewegungen, der "Ersten Internationale". Er kämpfte mit spitzer Feder von London aus. Der Schreibtisch war seine Barrikade, bemerkt Brecht.

Die Kommune wurde am 18. März 1871 ausgerufen. Sie proklamierte die Frauenemanzipation, unentgeltlichen Unterricht und die Trennung von Kirche und Staat. Am 28. Mai war sie niedergeschlagen. Die siegreichen preußischen Truppen hielten sich auf Geheiß Bismarcks weitgehend aus Paris heraus. Die Lähmung der Hauptstadt durch den Bürgerkrieg war ihm recht. Militärisch war Frankreich am Ende, aber die letzten Kräfte mobilisierte Thiers, um die Kommunarden zu liquidieren. Er erledigte für die Gewinner die Drecksarbeit. Das gemeinsame Interesse bestand im Abschlachten des Proletariats.

Vor diesem Hintergrund verschwindet die Illusion, ein Nationalkrieg sei geführt worden. "Die Klassenherrschaft ist nicht länger imstande, sich unter einer nationalen Uniform zu verstecken; die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat!" (MEW 17/361) Viele der von Marx angesprochenen Konflikte kamen im und nach dem Ersten Weltkrieg auf größerer Stufenleiter wieder zutage.

Die Kommune war die politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann. Ihr wurde mit preußischer Hilfe der Garaus gemacht.

Akkumulation, ursprüngliche (Teil 5) / Ausbeutung (Teil 2) / Bonaparte (Teil 3) / Bonapartismus (Teil 3) / Charaktermaske (Teil 1) / Diktatur des Proletariats (Teil 6) / Entfremdung (Teil 2) / Expropriation der Expropriateure (Teil 5) / Fetisch (Teil 1) / Gewalt (Teil 5) / Hegel (Teil 4) / Holzdiebstahl (Teil 1) / Ideologie (Teil 4) / Judenfrage (Teil 4) / Kolonialismus (Teil 8) / Kommunismus (Teil 6) / Lumpenproletariat (Teil 3) / Obschtschina (Teil 8) / Pariser Kommune (Teil 6) / Pariser Manuskripte (Teil 2) / Philosophie (Teil 4) / Stundenzetteltheorie (Teil 7) / Tanz (Teil 8) / Tisch (Teil 1) / Utopischer Sozialismus (Teil 7) / Wert (Teil 2).