Diplomatie: Alles andere als friedlich

Seite 2: Gewaltträchtige Verhandlungen und gewalttätige Handlungen gehören zusammen

Immerhin wird bei alldem nicht aufeinander geschossen. Ein zweifelhaftes Kompliment, das eine Wahrheit enthält: Es geht offenbar davon aus, dass es im Verhältnis zwischen Staaten stets gewaltträchtige Konflikte gibt – und diese entweder mit Gewalt ausgetragen werden oder, so die mit "Diplomatie" gekennzeichnete Hoffnung, nicht.

Nur sieht dieses Kompliment nicht den notwendigen Zusammenhang zwischen gewaltträchtigen Verhandlungen und gewalttätigen Handlungen, sondern einen Gegensatz. Dass das Eine aus dem Anderen folgt, wird nicht gesehen. Es gilt desgleichen in umgekehrter Richtung.

Auf gewalttätiger Handlung, also Krieg, folgt je nach Verlauf die Verhandlung. Die findet dann auf Basis der Kriegsergebnisse statt. Diese Gespräche ziehen eine Bilanz der Gewalt und regeln das Gewaltverhältnis neu: Wer hat was gewonnen, wer was verloren? Wer zahlt für die entstandenen Schäden? Wie sehen die Beziehungen zwischen den kriegführenden Parteien in Zukunft aus? Der Frieden, der hernach einkehrt, bezeichnet lediglich eine Waffenruhe. Gewalten stehen sich weiterhin mit ihren konkurrierenden Interessen gegenüber.

Das wird im Falle des Kriegs in der Ukraine nicht anders sein. Doch derzeit stehen Verhandlungen nicht zur Debatte. Im Gegenteil: Die Offensive der ukrainischen Streitkräfte wird beinahe sehnsüchtig vom Westen erwartet und mit weiteren umfangreichen Waffenlieferungen aus den USA, Deutschland und anderen Ländern Europas unterstützt.

"Wenn wir jetzt an der militärischen Front stark genug sind und die Schlacht um den Donbass gewinnen, was für die weitere Dynamik des Kriegs entscheidend sein wird, wird der Sieg für uns in diesem Krieg natürlich die Befreiung der übrigen Gebiete sein", erklärt der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba.

Falls dies nicht zu schaffen sei, müsse man auf jeden Fall mit den "bestmöglichen Karten" in die Verhandlung gehen – sprich: Noch mehr Menschenleben und Material in die Schlacht werfen. Russland wiederum hält entsprechend dagegen und hat von seinen Kriegszielen noch nicht Abstand genommen. Die US-amerikanische Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines sagte deshalb bei einer Anhörung des Senats in Washington:

Da sowohl Russland als auch die Ukraine glauben, dass sie militärisch weiter vorankommen können, sehen wir zumindest kurzfristig keinen gangbaren Verhandlungsweg.

Militärisch ist der Ausgang im Moment offen. Wenn man Russland allerdings ruinieren will (Außenministerin Baerbock) und Russland den Krieg unter keinen Umständen gewinnen darf (Bundeskanzler Scholz), ist der Raum für Verhandlungen grundsätzlich ziemlich klein. Er beschränkt sich auf die freundliche Entgegennahme der russischen Kapitulation.

Einfach Kompromisse machen – und schon klappt das mit dem Nachbarn?

Wer sich hierzulande für Verhandlungen einsetzt, gerät deshalb in den Verdacht, Moskau in die Hände zu spielen. Dazu zählen die mittlerweile rund 800.000 Bundesbürger, die das "Manifest für den Frieden", initiiert von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, unterzeichnet haben – und laut Meinungsumfragen ein Gutteil der Bevölkerung:

Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung (…) Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen.

Die verfeindeten Seiten sollten sich nicht so haben, halt ein wenig von ihren Kriegszielen Abstand nehmen, dann wäre auch Raum für "Kompromisse"? Da töten Menschen einander und zerstören Fabriken, Häuser, Straßen – und das kann einfach aufhören, wenn die sie befehlenden Regierungen mal miteinander reden?

So kann man nur fabulieren, wenn man die Gründe für den Krieg nicht zur Kenntnis nimmt. Sondern stattdessen eine allzu menschliche Eigenschaft bemüht, nach der man doch – bei allem Streit – aufeinander zugehen sollte. Dann klappt's auch mit dem Nachbarn ...

Folgerichtig wendet sich ein solcher Aufruf an die eigene Herrschaft im guten Glauben, die müsste doch ein Interesse am Frieden haben. Hat sie auch, nur eben unter den eigenen Bedingungen. Diese verdanken sich weder dem Auftrag, "Schaden vom deutschen Volk" abzuwenden ("Manifest"), noch einer prinzipiellen Friedensliebe. Sondern, siehe oben, den Krieg gegen Russland zu gewinnen – unter Einsatz aller Mittel. Wenn das geschafft ist, darf gern Frieden einziehen.

Übrigens findet Diplomatie im Ukraine-Krieg durchaus statt: in Form von Ansagen "roter Linien" und Voraussetzungen für einen Waffenstillstand. Für Russland lautet die "rote Linie", die nicht überschritten werden darf: die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und die damit verbundene Aufrüstung gegen Russland. Dies wiederholt der Kreml seit Beginn des Kriegs ständig. Doch darüber will die Gegenseite partout nicht verhandeln.

Beim Gipfel der sieben führenden Industriestaaten (G7) wird Moskau vielmehr zum "sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Abzug seiner Truppen vom gesamten international anerkannten Territorium der Ukraine" aufgefordert (Vgl. "Buhlen um Verbündete", Süddeutsche Zeitung, 20. Mai 2023). Mit dabei Bundeskanzler Scholz, der zuvor noch davon gesprochen hatte, dass Russland "Truppen zurückziehen" müsse, also nicht unbedingt alle (ebenda). An der Spitze einer "starken Allianz", wie das "Manifest" es fordert, steht er nun...

Diplomatischer Austausch: Erfahren, was der Andere kann und vorhat

Im diplomatischen Austausch – sachgerecht ergänzt durch gegenseitige Spionage – erkunden Staaten die jeweiligen ökonomischen und militärischen Potenzen. So erfahren Sie, was sie sich im Verhältnis zum Ausland erlauben können; und welche Mittel sie benötigen, um sich durchzusetzen im Wettstreit um Einfluss und Reichtum in der Welt.

Friedlich ist daran nichts. Schließlich fallen Menschen ganz ohne Gewehre täglich aufgrund von Hunger, Armut, Krankheiten und vielen anderen Grausamkeiten dem Konkurrenzkampf der Staaten zum Opfer.

Mit Gewehren wird dieser Kampf ausgetragen, nicht weil "Politik versagt" – sondern weil Politiker sich entscheiden, dass ein für sie unhaltbarer Zustand eingetreten und deshalb mit Gewalt zu korrigieren ist. Das können sie allerdings nur tun, wenn das Volk ihr Leiden teilt. Aber das ist ein anderes Thema.