Donbass: Wo Russland Gelände gewinnt und Sympathien verliert
Im Donbass erzielen russische Truppen Fortschritte und wollen mit dem Regionalzentrum Sewerdonezk noch ukrainisch beherrschte Gebiete der Region Luhansk einschließen
Nach vielen Wochen Stellungskrieg im ukrainischen Donbass-Gebiet erzielten die russischen Truppen in den letzten Tagen Geländegewinne, die von beiden Seiten der Front bestätigt werden. Auf seinem Telegram-Kanal erklärte das Büro des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi in dieser Woche, dass sich seine Truppen vor Ort in einer militärisch schwierigen Lage befänden und die russischen Invasoren alle Macht in eine aktuelle Offensive stecken.
Region Luhansk mit Ausnahme von Sewerodonezk in russischer Hand
Während die Ukrainer vor Ort noch größere Landstriche in der Region Donezk rund um die Städte Slawjansk und Kramatorsk verteidigen, könnte die östliche Donbassregion Luhansk in den nächsten Tagen komplett in die Hände der Russen und mit ihnen verbündeten Rebellen fallen. Bereits am Mittwoch räumte der ukrainische Leiter der Region, Serhiy Gaidai, ein, dass man nur noch fünf Prozent des Territoriums der Region kontrolliere, darunter die strategisch wichtige Frontstadt Sewerodonezk, in die sich nach der Eroberung von Lugansk selbst durch Rebellen 2014 die pro-ukrainische Gebietsverwaltung zurückgezogen hatte.
Sewerodonezk ist mittlerweile von drei Seiten von russischen Truppen eingeschlossen und nur noch über einen schmaler werdenden Landkorridor nach Westen mit dem Rest des von den Ukrainern kontrollierten Gebiets verbunden. In der Nähe dieses Korridors befindet sich die Stadt Liman, die nach übereinstimmenden Berichten von russischer und ukrainischer Seite am Donnerstag von russischen Truppen eingenommen wurde. Es war nicht die erste Eroberung in dieser Woche. Die Versorgungsroute der Stadt, die von etwa 90 Prozent der über 100.000 Bewohner bereits verlassen wurde, steht unter russischem Artilleriefeuer.
Sollte der besagte Korridor von russischer Seite abgeschnitten werden, wären dort rund 10.000 ukrainische Soldaten eingeschlossen.
Humanitäre Lage im "neuen Mariupol" katastrophal
Aktuelles Ziel der russischen Offensive ist es offensichtlich, aus Sewerodonezk ein "neues Mariupol" zu machen – ein Begriff, der auch in der Berichterstattung in Russland und der Ukraine fällt. In einer Zangenbewegung soll Sewerodonezk und die dortigen ukrainischen Truppen eingeschlossen und vom Rest der Donbass-Armee der Ukrainischen Regierung abgeschnitten werden.
Die humanitäre Lage für die in Sewerodonezk verbliebenen Bewohner ist katastrophal, die schweren Kämpfe führen zu einer immer weiteren Zerstörung der Stadt. Die russisch-oppositionelle Onlinezeitung Media. Zona sprach mit dem in der Stadt verbliebenen Bewohner Arif Bagirow, der selbst nur noch am Leben ist, da eine in sein Haus eingeschlagene Granate nicht explodierte.
Die Infrastruktur in der Stadt ist nach seinen Angaben weitgehend zerstört, egal ob Strom, Wasser oder Gas. Polizisten beliefern die verbliebenen Einwohner mit dem Wichtigsten zum Leben, überall entstehen - wie zuvor in Mariupol - "wilde" Friedhöfe. Die Beamten der ukrainischen Regierung seien bereits vor längerem geflohen, die Feuerwehr arbeite nun ebenfalls nicht mehr.
Nur noch Soldaten seien neben den Bewohnern und Polizisten in der Stadt. Die meisten verbliebenen Einwohner seien Rentner, die sich zu gemeinsamen Kommunen zusammengefunden hätten, um sich gegenseitig zu helfen, gemeinsam zu kochen und Brände in der Nachbarschaft zu löschen.
Sie werden hier sterben, sie können nirgendwo hin. Sie mischen sich nicht in die Kämpfe ein, sie wollen nicht flüchten (…) Im Großen und Ganzen organisieren wir uns in einer Art Stammessystem. Die Anführer der Straßenkommunen sind die Häuptlinge oder wenn man so will Präsidenten ihrer Hausgemeinschaft.
Arif Bagirow aus Sewerdonezk gegenüber der Onlinezeitung Media.zona
Sie werden hier sterben, sie können nirgendwo hin. Sie mischen sich nicht in die Kämpfe ein, sie wollen nicht flüchten (…) Im Großen und Ganzen organisieren wir uns in einer Art Stammessystem. Die Anführer der Straßenkommunen sind die Häuptlinge oder wenn man so will Präsidenten ihrer Hausgemeinschaft.
Arif Bagirow aus Sewerdonezk gegenüber der Onlinezeitung Media.zona
Einheimische im Donbass traditionell prorussisch, aber entsetzt über Angriffe
Geldautomaten gäbe es ebenfalls nicht mehr, bezahlte Boten holten die Renten und Versorgungsgüter der verbliebenen Sewerodonezker unter Beschuss aus der Nachbarstadt im Regierungsgebiet. Die Sympathien im Kampf sind unter den Einheimischen laut Bagirow geteilt.
Es gibt Leute, die man Steppjacken nennt, die die Ukrainer auffordern abzuziehen. Aber je mehr russische Raketen auf ihre Köpfe fallen, umso mehr kühlt ihr Gemüt ab.
Arif Bagirow aus Sewerdonezk gegenüber der Onlinezeitung Media.zona
Wie überall in der russischsprachigen Ukraine kostet der Angriff den Invasoren Sympathien in der Bevölkerung, die im Donbass zuvor mehrheitlich gegen die ukrainische Regierung eingestellt war, was auch die russische Krim-Ikone und frühere Duma-Abgeordnete Natalia Poklonskaja bestätigt.
Dennoch gäbe es laut Bagirow Fälle, wo Einwohner der russischen Artillerie Hinweise auf ukrainische Stellungen gäben, wofür von den Russen hohe Summen von umgerechnet etwa 1.000 Euro gezahlt würden. Nach einer russischen Eroberung der Stadt rechnet Bagirow mit einer Rückkehr der Richtung Russland geflohenen Bewohner, während die in ukrainischer Richtung geflüchteten dann wohl dauerhaft nicht in die bisherige Heimat zurückwollen.
Die momentanen Erfolge der russischen Angriffe erklärt Selenskyi-Berater Alexej Arestowitsch gemäß der lettischen Onlinezeitung Meduza damit, dass die "russische Seite es geschafft hat, frühzeitiger Reserven vor Ort zusammenzuziehen". In verschiedenen Berichten war daneben immer wieder die Rede davon, dass bei den Angriffen Einheiten eingesetzt werden, die durch die Eroberung des Kessels von Mariupol und den russischen Rückzug aus der Region Charkow frei geworden sind.
Es muss davon ausgegangen werden, dass Moskau die Luhansker Region nach der militärischen Eroberung unmittelbar auf den Weg zur politischen Eingliederung in die Russische Föderation führen wird. Dies wurde bereits mehrfach von Offiziellen der in Lugansk regierenden Rebellenverwaltung angekündigt und ist auch eines der Moskauer Kriegsziele. Die Ukrainer wiederum planen eine Rückeroberung der Gebiete in einer Gegenoffensive - wann diese stattfinden soll, darüber gibt es unterschiedliche Meldungen.