Doppelte Moral

Die UN kritisiert weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen im Irak, das Pentagon musste nun doch den Einsatz von chemischen Waffen in Falludscha einräumen

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Die US-Regierung ist mit ihrer Koalition der Willigen in den Irak einmarschiert, um das Hussein-Regime zu stürzen und einen amerikafreundlichen demokratischen Rechtsstaat zu errichten, der für die Region Vorbildcharakter haben und wegen des irakischen Ölreichtums gleichzeitig die Energieversorgung im amerikanischen Sinne sicher stellen sollte. Hussein galt wegen der angeblichen vorhandenen Massenvernichtungswaffen als Bedrohung. Daneben bezichtigte die US-Regierung das Regime vor allem schwerer Menschenrechtsverletzungen.

Dass das Hussein-Regime eine der grausamsten Diktaturen war und mit willkürlichen Verhaftungen, Folter und der Ernordung vieler Menschen das vor allem von Sunniten dominierte System aufrecht erhielt, ist unbestritten. .Dass die US-Regierung mitsamt den koalierenden Regierungen die angeblichen Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen oder von entsprechenden Programmen zusammen gezimmert und aufgesexed haben, ist ebenso klar, auch wenn die politische Aufarbeitung gerade erst begonnen hat. Die müsste sich freilich nicht nur die britische und die US-Regierung sowie die amerikanischen Medien betreffen. Auch hier zu Lande haben etwa Politiker und Medien lange Zeit das Lügengespinst noch mitgetragen, auch wenn die "Beweise" schon vor dem Irak-Krieg als zumindest äußerst fragwürdig bekannt waren.

Man hätte auch annehmen sollen, dass dann, wenn ein Krieg zumindest gegenüber der Weltöffentlichkeit mit der Begründung begonnen wird, dass ein Regime schwere Menschenrechtsverletzungen begeht und entgegen UN-Resolutionen Massenvernichtungswaffen herstellt und einsetzt, eben diese Punkte besonders beachtet würden. Allmählich werden zwar die von der US-Regierung im "Kampf gegen den Terror" begangenen Menschenrechtsverletzungen – Duldung oder Erlaubnis von Folter, willkürliche Festnahmen, Unterhalt von Geheimgefängnissen, Entzug fundamentaler Menschenrechte für gefangene "feindliche Kämpfer", illegale Entführungen etc. – vom Kongress in Frage gestellt oder korrigiert, aber die angeblich im Namen von Freiheit und Demokratie begangenen Menschenrechtsverletzungen bleiben nicht nur ein Skandal. Sie haben sich auch als schwer wiegender Fehler erwiesen, der die Ausbreitung von Menschenrechten, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit behindert.

Die United Nations Assistance Mission to Iraq (UNAMI) wirft nun in ihrem aktuellen Menschenrechtsbericht der von der Bush-Regierung unterstützten irakischen Regierung ebenfalls massenhafte und schwere Menschenrechtsverletzungen vor, die an die Zeiten des Hussein-Regimes erinnern. In den Gefängnissen säßen oft über lange Zeit Tausende von Menschen, ohne je einem Richter vorgeführt worden zu sein. Die Bedingungen in den Gefängnissen sind schlecht, Folter und Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Spezialeinheiten und irakische Polizei würden auch bei Razzien Menschenrechtsverletzungen begehen, bei denen willkürlich – auch von den US-Streitkräften – Verhaftungen durchgeführt werden, so dass der Strom der gefangenen "Aufständischen" ständig anschwillt. Das ist auch wenig erstaunlich, nachdem viele Sicherheitskräfte mit den Milizen, die unterschiedliche Interessen verfolgen und von der Zentralregierung nicht kontrolliert werden, zusammen arbeiten oder von diesen ebenso unterwandert sind wie teilweise von terroristischen Gruppen. So werden immer wieder Tote gefunden, die an Händen gefesselt und mit verbundenen Augen erschossen wurden.

Update

Auch in Bagdad haben schiitische Milizen die Polizei unterwandert. Gerade erst haben irakische und US-Soldaten ein Gefängnis des Innenministeriums durchsucht, in dem Polizisten arbeiten, die mit den Badr-Milizen verbunden sein sollen. Anstatt der offiziell gemeldeten 40 Häftlinge hat man die vierfache Zahl gefunden. Überprüft werden sollten die Haftbedingungen.

Die 172 gefundenen, überwiegend sunnitischen Gefangenen waren offenbar unterernährt. Bei einigen wurden Folterspuren entdeckt, wie der irakische Ministerpräsident Dschafari bekannt gab. Dschafari kündigte eine Untersuchung an. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international begrüßte dies, forderte aber eine umfassende Untersuchung aller Foltervorwürfe. Die Ergebnisse solltzen veröffentlicht werden. Es gäbe zahlreiche Beschwerden über Folterungen und Misshandlungen von Gefangenen. Besonders betroffen sind Gefangene, die dem Innenministerium unterstehen.

Bekannt ist schon lange, dass irakische Polizisten und andere Sicherheitskräfte Gefangene töten und folter. So hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bereits im Januar auf die in irakischen Gefängnissen betriebenen "systematischen Misshandlungen" in einem Bericht aufmerksam gemacht:

"Methods of torture cited by detainees include routine beatings to the body using cables, hosepipes and other implements. Detainees report kicking, slapping and punching; prolonged suspension from the wrists with the hands tied behind the back; electric shocks to sensitive parts of the body, including the earlobes and genitals; and being kept blindfolded and/or handcuffed continuously for several days. In several cases, the detainees suffered what may be permanent physical disability. Detainees also reported being deprived by Iraqi security forces of food and water, and being crammed into small cells with standing room only. Numerous detainees described how Iraqi police sought bribes in return for release, access to family members or food and water."

Die Menschenrechtsorganisation monierte, dass diese Menschenrechtsverletzungen seit 2003 berichtet wurden, aber dass die irakischen Behörden die Vorwürfe nicht untersucht und die Verantwortlich bestraft hätten und die irakische Regierung sowie amerikanische Berater dies geschehen ließen.

Der Telegraph berichtet von einem Besuch im Tasferret-Gefängnis, das angeblich das beste Gefängnis ist. Sieben bis acht Häftlinge müssen hier in einer Zelle schlafen, die Toilette ist ein Loch im Boden. Kaum einer der Gefangenen ist verurteilt. Von 318 Gefangenen in einer Abteilung waren gerade einmal 14 – wie auch immer ordentlich - verurteilt. Die kürzeste Zeit, die ein Gefangener auf einen Richter oder auf einen Rechtsanwalt warten musste, ist über zwei Monate. Nach irakischem Gesetz müssten Gefangene binnen 24 Stunden einem Richter vorgeführt werden. Mindestens 18.000 Häftlinge, für die das Justizministerium zuständig ist, gibt es im ganzen Land, die US-Streitkräfte halten um die 14.000 Menschen gefangen. Von den über 21.000 Menschen, die seit August 2004 überprüft wurden, wurden fast 12.000 wieder aufgrund fehlender Beweise freigelassen. Nach Angaben des irakischen Ministeriums für Menschenrechte waren am 26. Oktober insgesamt 23.394 Menschen in Haft. 11.559 in Gefängnissen der Koalitionstruppen, 7.577 in Gefängnissen des Justizministeriums, 342 Jugendliche beim Arbeitsministerium und 3.916 beim Innenministerium.

Update:

Nach Informationen, die Rawstory aus dem US-Hauptkommando erhalten haben will, befinden sich im Augenblick 13.514 Personen in Gefängnissen, die von den USA betrieben werden. Erstaunlich viele Gefangene sind im Camp Bucca, nämlich fast 7.000. Von den Gefangenen sind nur die wenigsten verurteilt, nämlich 2 Prozent. Seit 2003 hatten die US-Truppen angeblich insgesamt 35.000 Personen festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Nur 1.300 wurde überhaupt ein Prozess gemacht, nur die Hälfte wurde verurteilt. 21.000 wurden wieder aus dem Gefängnis nach unterschiedlich langen Haftzeiten entlassen. Die vermutung liegt nicht fern, dass einige der unschuldig Eingesperrten sich später den Aufständischen angeschlossen haben könnten.

Die meisten der Gefangenen wissen nicht, wann sie wieder in Freiheit kommen oder ihnen der Prozess gemacht wird. Oft werden sie, wie Sanni al-Khatib, bei der Anwaltsvereinigung zuständig für Menschenrechte, aufgrund anonymer Tipps festgenommen. Prügel bei Verhören sind Routine. Nachdem sie Gefängnisse in Mosul und Basra eingelassen würden, hätten sie erfahren, dass fast alle Gefangenen geschlagen worden seien.

Der UN-Bericht moniert, dass trotz einiger Verbesserungen oder Bemühungen in weiten Teile des Landes noch nicht Recht und Ordnung herrschen. Kritisiert wird vor allem, dass "die bewaffneten Milizen sowie kriminelle und terroristische Organisationen unbehelligt vorgehen können". Neben den Anschlägen, Erschießungen, Entführungen und Razzien werden auch die wiederholten Bombardierungen kritisiert, deren Opfer oft auch Zivilisten sind, während sie gleichzeitig zur Vertreibung vieler Menschen führen. So seien bei den militärischen Operationen in Al Anbar und Ninive mindestens 10.000 Familien vertrieben worden. Gleichzeitig sei die humanitäre Hilfe blockiert worden, indem Koalitionstruppen wie im Oktober in Al Anbar Ärzte festgenommen und Krankenhäuser besetzt hätten. Auch ethnische Vertreibungen durch Milizen gäbe es in vielen Teilen des Landes, ohne dass staatliche Sicherheitskräfte dagegen vorgehen. Die UN bedauert ausdrücklich auch noch einmal die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Hausdurchsuchung in Falludscha am 13.11.2004. Bild: The Fight for Fallujah, in Field Artillery

Chemische Waffen in Falludscha

Die offenbar weit verbreitete und geduldete Willkürjustiz im Irak untergräbt ebenso wie die von der US-Regierung praktizierte die Glaubwürdigkeit, Recht und Freiheit durch den Sturz eines Tyrannen zu etablieren. Der Verlust der Glaubwürdigkeit hat die Bush-Regierung aber auch wegen der Fabrikation der Beweise für Massenvernichtungsmittel erreicht. Zudem hatte sie Hussein auch deswegen als besonders gefährlich und menschenverachtend gebrandmarkt, weil dieser chemische Waffen gegen Kurden eingesetzt habe (auch wenn dies seiner Zeit nicht zu einem Bruch mit dem Regime führte, das man in seinem Krieg gegen Iran unterstützte). Seit geraumer Zeit aber ist nun auch bekannt, dass die US-Streikräfte zwar nicht als verbotene chemische Waffen geächtete Bomben, aber doch Napalm-ähnliche Brandbomben zumindest bei der Invasion 2003 und Phosphorgranaten bei der Eroberung Falludschas 2004 eingesetzt hat.

Erst kürzlich hat ein Dokumentarfilm im italienischen Fernsehen auf den Einsatz von Granaten mit weißem Phosphor hingewiesen und Bilder von den verbrannten Opfern gezeigt (Willy Pete in Falludscha). Zuvor war bereits bekannt gewesen, dass 2003 ähnliche Bomben während der Invasion gegen feindliche Ziele eingesetzt wurden (Keine Napalm-Bomben im Irak, nur MK77-Brandbomben). Das Pentagon hatte dies immer bestritten und betont, dass es sich nicht um Napalm-Bomben handele. Man würde sie nur zur Beleuchtung von Zielen einsetzen, überdies seien Brandbomben nicht verboten, wenn sie gegen militärische Ziele eingesetzt würden.

Finally, some news accounts have claimed that U.S. forces have used "outlawed" phosphorous shells in Fallujah. Phosphorous shells are not outlawed. U.S. forces have used them very sparingly in Fallujah, for illumination purposes. They were fired into the air to illuminate enemy positions at night, not at enemy fighters.

USINFO zur Widerlegung von angeblichen Falschinformationen (Identifying Misinformation: Did the U.S. Use "Illegal" Weapons in Fallujah?

Nach dem Film und nach einem Artikel, der in der von der U.S. Army herausgegebenen Zeitschrift Field Artillery veröffentlicht wurde, musste nun das Pentagon doch einräumen, Brandbomben nicht nur zum Zweck der Erleuchtung eingesetzt haben. Das Abkommen zur Ächtung von Brandbomben hat die US-Regierung – im Gegensatz zu den anderen Staaten, die Koalitionstruppen stellen – nicht unterschrieben. Dort heißt es zwar, dass Brandbomben gegen militärische Ziele eingesetzt werden können, aber nur, wenn dies keine Zivilisten gefährdet. Das ist bei der Bombardierung einer Stadt wohl kaum möglich. Das Pentagon hat vor einigen Tagen daher die Widerlegung durch einen weiteren Einschub aktualisiert und damit deutlich gemacht, wie man in das Herstellen von Falschinformationen verstrickt ist:

November 10, 2005 note: We have learned that some of the information we were provided in the above paragraph is incorrect. White phosphorous shells, which produce smoke, were used in Fallujah not for illumination but for screening purposes, i.e., obscuring troop movements and, according to an article, "The Fight for Fallujah," in the March-April 2005 issue of Field Artillery magazine, "as a potent psychological weapon against the insurgents in trench lines and spider holes …." The article states that U.S. forces used white phosphorous rounds to flush out enemy fighters so that they could then be killed with high explosive rounds.

Auch der Einsatz solcher chemischer Waffen, die Menschen töten und ihnen furchtbare Verbrennungen zufügen, ist weder der Sache der Menschenrechte noch dem Verusch dienlich, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Dass das Pentagon sehr wohl wusste, dass ein Einsatz von Brandbomben gegen Menschen angesichts der Vorwürfe gegen Hussein politisch nicht günstig ist, zeigen die verschiedenen Versuche, dies zu vertuschen und die Öffentlichkeit zu täuschen. George Monbiot kritisiert die doppelte Moral und Scheinheiligkeit der Verantwortlichen im Guardian:

We were told that the war with Iraq was necessary for two reasons. Saddam Hussein possessed biological and chemical weapons and might one day use them against another nation. And the Iraqi people needed to be liberated from his oppressive regime, which had, among its other crimes, used chemical weapons to kill them. Tony Blair, Colin Powell, William Shawcross, David Aaronovitch, Nick Cohen, Ann Clwyd and many others referred, in making their case, to Saddam's gassing of the Kurds in Halabja in 1988. They accused those who opposed the war of caring nothing for the welfare of the Iraqis.

Given that they care so much, why has none of these hawks spoken out against the use of unconventional weapons by coalition forces? … Saddam, facing a possible death sentence, is accused of mass murder, torture, false imprisonment and the use of chemical weapons. He is certainly guilty on all counts. So, it now seems, are those who overthrew him.