Willy Pete in Falludscha
Ein Jahr nach der Großoffensive erhärten sich die Gerüchte, denen zufolge die amerikanische Armee chemische Kampfstoffe eingesetzt hat
Vor Jahresfrist beherrschte die Großoffensive auf Falludscha (vgl. Finishing Fallujah) die Schlagzeilen der Weltpresse; ein entscheidender Schlag gegen den zentralen Hort des irakischen Widerstands sollte dort geführt werden, das "Rückgrat der Guerillas gebrochen". Ein Kalkül, das sich nicht erfüllte. Obschon eine militärische Vorgabe erreicht wurde, die Säuberung von "militanten Elementen" und die Kontrolle der Stadt, verkehrte sich der militärische Sieg vor Ort in eine weitere Niederlage im parallel geführten "Propaganda-Krieg". Falludscha wurde neben "Abu Ghuraib" zum Symbol für das brutale, arrogante Vorgehen der Amerikaner im Irak.
Seit mehreren Monaten war Falludscha aus der Berichterstattung verschwunden, es gab nur sporadische Meldungen (vgl. Alarm in Falludscha) von kleineren Scharmützeln in der Stadt, über die nur zögerliche Rückkehr der ehemaligen Einwohnerschaft bzw. deren Fernbleiben und über den stockenden Wiederaufbau. Zum "Jahrestag" der Falludscha-Offensive veröffentlichen jetzt der italienische Fernsehsender Rai einen Bericht mit Erzählungen von Augenzeugen, welche allem Anschein nach die bereits vor einem Jahr kursierende Gerüchte bestätigen, wonach US-Truppen auch in der Häuserschlacht chemische Kampfstoffe eingesetzt hätten. Schon zuvor war vom britischen Verteidigungsministerium eingeräumt worden, dass das US-Militär auch bei der Invasion chemische Waffen eingesetzt hatte, nämlich Napalm ähnliche Brandbomben des Typs MK77, die weißen Phosphor enthalten (Keine Napalm-Bomben im Irak, nur MK77-Brandbomben).
Update: Das Pentagon hatte dies abgestritten, aber formal korrekt darauf hingewiesen, dass nach dem Abkommen zum Verbot chemischer Waffen (CWC) auch Napalm nicht verboten wäre (viele chemische Toxine sind nach dem Abkommen nicht verboten, Brandbomben fallen beispielsweise deshalb nicht darunter, weil ihre Wirkung thermal bedingt ist):
- First, napalm or napalm-like incendiary weapons are not outlawed. International law permits their use against military forces, which is how they were used in 2003.
- Second, as noted above, no Mark-77 firebombs were used in Fallujah.
Die Verwendung von Napalm-ähnlichen Brandbomben ist also formal nach dem CWC nicht illegal. Allerdings ist nach dem Protocol on Prohibitions or Restrictions on the Use of Incendiary Weapons (Protocol III) aus dem Jahr 1980 die Verwendung von Brandwaffen (""Incendiary weapon" means any weapon or munition which is primarily designed to set fire to objects or to cause burn injury to persons through the action of flame, heat, or combination thereof, produced by a chemical reaction of a substance delivered on the target.") geächtet worden, wenn die Gefahr besteht, dass Zivilisten davon betroffen werden. Der Einsatz von Brandbombem beim Angriff auf eine Stadt würde diese Bedingung erfüllen:
- It is prohibited in all circumstances to make the civilian population as such, individual civilians or civilian objects the object of attack by incendiary weapons.
- It is prohibited in all circumstances to make any military objective located within a concentration of civilians the object of attack by air-delivered incendiary weapons.
- It is further prohibited to make any military objective located within a concentration of civilians the object of attack by means of incendiary weapons other than air-delivered incendiary weapons, except when such military objective is clearly separated from the concentration of civilians and all feasible precautions are taken with a view to limiting the incendiary effects to the military objective and to avoiding, and in any event to minimizing, incidental loss of civilian life, injury to civilians and damage to civilian objects.
Ratifiziert wurde das Protokoll insgesamt von 88 Staaten, darunter etwa auch Australien, Großbritannien, Dänemark, Italien oder Japan, die Truppen im Irak stationiert haben. Die USA haben das Protokoll nicht ratifiziert. Das teilen sie mit Iran, Syrien oder Nordkorea, während China, Russland und vor kurzem Venezueala Mitgliedsländer sind. (FR)
Die Aussagen aus einem Dokumentarfilm, ausgestrahlt vom italienischen Fernsehsender RAI, fügen sich ein in die Reihe später Enthüllungen (Stichwort "Nigergate" vgl. "Ich habe versucht, den US-Präsidenten vom Krieg abzuhalten"), welche die schlimmste Annahmen über die US-Politik im Irak erhärten:
Ich hörte den Befehl, gut aufzupassen, weil sie weißen Phosphor in Falludscha benutzen wollten.
Was der amerikanische Soldat, der vor einem Jahr beim Kampf in Falludscha eingesetzt wurde, im Dokumentarfilm "Falluja: The Hidden Massacre" behauptet, wird dort auch von anderen Zeugen belegt. Weißer Phosphor, im Militärjargon "Willy Pete" genannt, soll wie "Feuerregen" auf die Stadt niedergegangen sein und Frauen und Kinder getötet haben, so ein irakischer Biologe. Bilder, die vom Menschenrechtszentrum (Studies Center of Human Rights) in Falludscha stammen, erhärten die Indizien der Anklage: Sie zeigen Leichen von Bewohnern von Falludscha, die im Bett verschmort sind, auf eine Weise, die nahe legt, dass sie Opfer von weißem Phosphor geworden sind.
Gerüchte über den Einsatz von chemischen Waffen in Falludscha hat es schon während der Kampfhandlungen vor einem Jahr gegeben (vgl. Mit ausgezogenen Samthandschuhen in der "Geisterstadt"), erhärtet wurden sie damals von einem Bericht des Internetportals "Islam Online". Das militärische Kommando der US-Truppen wertete die behauptete Anwendung von chemischen Kampfstoffen freilich als pure Propaganda von Aufständischen - "widespread myths" - und erklärte jedoch weiter, dass Phosphor-Granaten nicht verboten seien und nur selten eingesetzt würden, zu "Beleuchtungszwecken":
Sie wurden in die Luft gefeuert, um Stellungen des Feindes in der Nacht zu beleuchten, niemals gegen feindliche Kämpfer.
Der Dokumentarfilm widerspricht dieser Darstellung. Nach Informationen der englischen Zeitung "Independant" führt er schwer zu widerlegende Beweise vor, wonach bei der Großoffensive auf Falludscha Brandbomben verwendet wurden, die als "Mk 77" - eine andere Form von Napalm-Bomben - bekannt sind. Das Pentagon erklärt allerdings stets, dass es sich nicht um Napalm handelt, die Wirkung ist jedoch praktisch gleich.
Die Wirklichkeit des Kriegsgeschehens im Irak bleibt schwierig zu ergründen; da der Irak für unabhängige Reporter ein hochriskantes Terrain ist, bleibt dem Informationssuchenden nur der Slalomlauf zwischen den Behauptungen der verschiedenen Seiten, vor allem wenn es um die Opfer geht, die dieser Krieg fordert: Die Berichterstattung aus dem Irak sei zutiefst "unehrlich", sowohl was die Zahlen der Opfer anbelangt als auch die Berichte darüber, wer für die Toten verantwortlich ist, stellt der Guardian heute fest.
Über Falludscha und der hohe Preis, der für die militärische Kontrolle dieser Stadt bezahlt worden ist, herrschte seit längerem Schweigen. Eine seltene Ausnahme ist die vor einigen Tagen im amerikanischen Magazin "Time" erschienene Reportage von Chris Allbritton, einem amerikanischen Blogger und Freelancer, der im Auftrag des Magazins als eingebetteter Reporter aus der Stadt berichtete. Es sei zu spät für die Amerikaner, die jetzt die Ordnung in der Ruinen-Stadt aufrechterhalten, um sich Freunde zu machen, schreibt er. Die amerikanischen Patrouillen müssten sich auch im von Aufständischen leergeräumten Falludscha ständig auf neue, trickreiche Hinterhalte gefasst machen, sogar "Tauben werden gegen sie eingesetzt". Sicher sei die Stadt noch immer nicht: "Definitely not safe. I wouldn't let my sister walk here, ever", so ein amerikanischer Soldat. Doch würden die Bewohner noch jemanden mehr fürchten als die amerikanischen Besatzer, nämlich die irakische Armee:
"Wenn irakische Soldaten in die Stadt kommen, dann fangen sie damit an, die Bewohner zu attackieren und in die Luft zu schießen. Die irakische Armee will Rache an uns üben."
Was den Wiederaufbau anbelangt, so dürfte noch einige Zeit vergehen, bis nennenswerte Erfolge vorzuweisen sind. In der gesamten Provinz Anbar gebe es nur einen amerikanischen Zuständigen der USAID für den Wiederaufbau, das Geld geht in andere Provinzen. Aus den bekannten Sicherheitsgründen scheut man den Einsatz in Anbar und deren Symbolstadt Falludscha. Für die dort eingesetzten Truppen heisst das, dass der Zeitpunkt ihres Abzugs völlig ungewiss ist - für die Bewohner von Falludscha, dass sich bis auf weiteres an ihrem kärglichen Leben inmitten der Ruinen nicht viel ändern wird.