Mit ausgezogenen Samthandschuhen in der "Geisterstadt"

Der Widerstand in Falludscha wird härter, die Kampfhandlungen werden radikaler

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Am vierten Tag der Großoffensive zur Eroberung Falludschas treffen die amerikanischen Einheiten jetzt doch auf verstärkten Widerstand. Womöglich habe sich dieser neu formiert, mutmaßt der bei einer Marines-Einheit eingebettete BBC-Reporter. Deren provisorisch aufgestellte Hauptquartiere in der Stadt würden jedenfalls heftig attackiert.

Während die Lageberichte der ersten beiden Tage davon sprachen, dass der Widerstand leichter als erwartet ausfalle (vgl. Der Krieg der "Einäugigen") und es beinahe so aussah, als ob die Eroberung Falludschas nur eine Frage von wenigen Tagen wäre und vor allem die Verluste viel geringer ausfallen könnten als befürchtet, kann man der heutigen Berichterstattung entnehmen, dass sich der Vormarsch der alliierten Truppen verlangsamt. Auch dass heute etwa 90 schwer verwundete US-Soldaten ins deutsche Landstuhl zur Behandlung geflogen wurden, wo bereits 125 andere versorgt werden, deutet der AP-Reporter Edward Harris als Zeichen dafür, dass die Kämpfe schwerer sind als zunächst angenommen.

Zwar betonen US-Kommandeure weiter, dass man 70% von Falludscha unter Kontrolle haben, es werden auch weiterhin Stimmen zitiert, wonach alles viel leichter sei als angenommen und Falludscha einer Geisterstadt gleiche, dem widersprechend zitiert Al-Dschasira Widerstandsführer, die behaupten, dass sie nach wie vor die Kontrolle über die Stadt haben. Die amerikanischen Truppen würden demzufolge nur Kontrolle über das Zentrum haben, "wo sich gar kein Widerstand befindet, nur Zivilbevölkerung, die vor den Kämpfen an den Stadträndern geflohen ist."

Widersprüchliche Darstellungen also wie gehabt. Während die Militärs davon ausgehen, dass sie mit ihrem Vorhaben, die Widerständler in einem immer engeren Kordon einzuzwängen, die Stadt bald erobert haben werden, liefert ein eingebetteter Journalist von der New York Times, der eine Truppe von Marines bei der Eroberung einer Moschee begleitete, ein eindringliches detailliertes Bild von den Härten, mit denen die Eroberer bei jedem Fortschritt im Häuserkampf zu rechnen haben:

Der Kampf um Falludscha will in keine saubere Kategorie passen und nicht einmal das schmutzige Label "Stadtkrieg" kann die Intensität und Unvorhersehbarkeit auf diesem Schlachtfeld einfangen. An einigen Plätzen scheinen die Aufständischen zu feuern und sich dann zurückzuziehen, vielleicht, um die Marines in einen Hinterhalt zu locken oder um sich in den grimmigen Aufbauten der Stadt aufzulösen und am nächsten Tag weiterzukämpfen. Woanders halten sie die Stellung, bis die Gebäude um sie herum zusammenstürzen, oder sie eröffnen das Feuer abrupt aus exponierten Stellungen und werden buchstäblich in Stücke gerissen. Nichts macht hier Sinn, aber das überlegene Training der Amerikaner und ihre bessere "Firepower" werden wohl allmählich die Oberhand gewinnen.

Nach einem Bericht der Washington Post passt auch die eingesetzte bessere "Firepower" der obigen Äußerung entsprechend in keine "saubere Kategorie": anscheinend arbeitet die Artillerie mit Phosphor, das ein Feuer entfacht, das mit Wasser nicht gelöscht werden kann. Es wird ein Arzt zitiert, der Leichen von Mudschaheddin-Kämpfern gesehen haben will, die regelrecht geschmolzen sein sollen. Der oben zitierte Bericht des eingebetteten New York Times-Journalisten bestätigt den Einsatz dieses Kampfstoffes. Einem vermutlich propagandistisch geprägten Bericht der islamischen Webseite "Islam Online" zufolge sollen die US-Truppen auch chemische Kampfstoffe und Giftgas benutzen.

Man müsse die Samthandschuhe manchmal ausziehen. Diese Redewendung von verschiedenen Truppenkommandeuren taucht in Berichten immer wieder auf. Sie zeigt, dass die Truppen einerseits sehr wohl genaue Verhaltensregeln haben, sie aber im Gefecht nicht einhalten können. Dass aber dieses schonungslose Vorgehen mit ausgezogenen Samthandschuhen zwar in der Kriegslogik durchaus erklärbar ist - Moscheen werden oft als Waffenlager benutzt, Zivilisten sind zunächst kaum von einem Selbstmordattentäter zu unterscheiden, Ambulanzen könnten missbräuchlich benutzt werden -, aber eine politische Wirkung hat, welche jeden militärischen Sieg in Falludscha zu einer Niederlage machen kann, ist das große Problem nicht nur der Amerikaner im Irak.

Momentan sieht es so aus, als ob die Rechnung des terroristischen Widerstands aufgehen könnte. Die weitere Destabilisierung des Irak durch die Anschläge an anderen Orten, der sich vertiefende Zwiespalt zwischen Schiiten und Sunniten - keiner der Schiiten außer Muktada as-Sadr hat sich öffentlich mit den Widerständlern in Falludscha solidarisch erklärt- , die sich verstärkende Entfremdung der Sunniten im Irak gegenüber der Regierung, der drohende Wahlboykott: alles Keime für einen möglichen Bürgerkrieg.