Drive-by-Killing in Thessaloniki

Seite 3: Warum hängt ein König an der Wand?

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Die simple, und somit stark vereinfachte Antwort ist diese hier: Weil es nach dem Zweiten Weltkrieg günstiger war, ein besiegter Eroberer zu sein als das Opfer deutscher Raubzüge und weil in Griechenland nicht die republikanisch eingestellten Amerikaner die künftige Staatsform bestimmten wie bei den Deutschen (West), sondern die der Monarchie sehr zugetanen Briten (der Griechenkönig Georg II. und sein brüderlicher Nachfolger, besagter Paul I., waren auch mit Königin Victoria verwandt). Letzteres ist verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Griechenland doch eigentlich kein Kriegsverlierer, sondern ein souveräner, von der Naziherrschaft befreiter Staat war. Solche Bevormundungen aber hatten da bereits eine lange Tradition.

Als Alternative zum "Schon die alten Griechen …"-Ansatz bietet sich der Blick auf das Jahr 1821 an. Damals revoltierte ein Teil der (in sich zerstrittenen) Griechen gegen die osmanischen Besatzer und kämpfte für die Errichtung einer unabhängigen Republik. Bis 1825 neutralisierten sich die Kriegsparteien. Dann schickte der Herrscher von Ägypten Truppen, weil der Sultan des Osmanischen Reiches versprochen hatte, ihm die eroberten Gebiete zu überlassen. Das wollten Frankreich, Russland und Großbritannien unbedingt verhindern. Zur Wahrung ihrer finanziellen und strategischen Interessen stellten sie eine Flotte zusammen, die den türkisch-ägyptischen Streitkräften 1827 bei der Schlacht von Navarino die entscheidende Niederlage beibrachte.

Der Sultan musste schließlich die griechische Unabhängigkeit anerkennen. Von der Idee eines republikanischen Griechenland allerdings hielten die europäischen Großmächte gar nichts, wegen der Ansteckungsgefahr. Um einer Ausbreitung des republikanischen Gedankens in Europa vorzubeugen einigten sie sich im Londoner Protokoll von 1830 darauf, dass der neue Staat eine Monarchie sein sollte. Unterstützt wurden sie von den Teilen der griechischen Gesellschaft, die bestrebt waren, ihre unter osmanischer Besatzung genossenen Privilegien zu sichern: von reichen Kaufleuten beispielsweise, von noch reicheren Reedern und auch von der orthodoxen Kirche, die derzeit gegen den vielfach geforderten Aufbau eines Katasteramtes opponiert, weil sie als zweitgrößte Grundbesitzerin des Landes (nach dem Staat) ordentlich Steuern zahlen müsste. Da richtet man doch lieber Suppenküchen ein und erfreut die Armen mit einer milden Gabe.

Offiziell aus der Taufe gehoben wurde das Königreich Griechenland bei der Londoner Konferenz von 1832, mit Athen als Hauptstadt. Jetzt musste noch ein König her. Bloß kein Grieche!, dachten sich die Europäer. Weil Prinz Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha abgelehnt hatte (er wollte lieber König von Belgien werden), setzten die Großmächte Prinz Otto von Bayern auf den Thron. Mit einem Wittelsbacher konnten die Russen genauso leben wie die Franzosen und die Briten. Und weil natürlich auch die künftigen Untertanen gefragt wurden, durfte deren Nationalversammlung das Ganze absegnen. Die undankbaren Griechen allerdings, die für eine Republik ihr Leben riskiert hatten, waren verbittert. Schon früher mit schönen Privilegien ausgestattete Familienclans hingegen fanden einen importierten König gut, weil sie sich von einem solchen Monarchen Vorteile versprachen. Ein Fremder, so das Kalkül, kannte die Verhältnisse nicht und würde an den korrupten, nicht dem Land, sondern seinen Eliten nützenden Strukturen wenig ändern. So falsch war das nicht.

Für die griechische Sache enthusiasmiert

In Deutschland wird gern behauptet, dass die Griechen heute eine funktionierende Verwaltung hätten und alles gut wäre, wenn sie König Otto und seine aus Bayern mitgebrachten Fachleute nur hätten machen lassen. Man kann es auch anders sehen. Otto war der Sohn des Griechenland-Fans Ludwig I., dem München den - von den Nazis für ihre Aufmärsche missbrauchten - Königsplatz verdankt. Nehmen wir also an, dass er mit den besten Absichten in die Ägäis fuhr. Aber das Gegenteil von gut ist bekanntlich gut gemeint. Otto stützte sich auf dieselben korrupten Familien- und Nepotismuskasten wie vor ihm die Osmanen, verordnete seinen Untertanen ein Erziehungsprogramm, das sich an philhellenischen Idealen orientierte statt an der Wirklichkeit und war von den Krediten fremder Mächte abhängig, die ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgten.

Dem Absolutismus war der König deutlich mehr zugetan als einer Verfassung mit garantierten Bürgerrechten, die ihm das Staatsvolk mühsam abtrotzen musste. Die innere Zerrissenheit des Landes versuchte er mit (geliehenem) Geld zu kitten. Aufmüpfige Freiheitskämpfer, die von den aus Bayern mitgebrachten Soldaten nicht zu besiegen waren, wurden als Staatsbedienstete angestellt oder mit gut dotierten Posten in der Armee versorgt. Zeitweise war jeder zehnte Soldat ein Offizier, und weil jedes Grüppchen dieselben Vorteile wollte wie die anderen, standen bald 70 Generäle auf der Gehaltsliste.

Am Ende ging die Sache schief. Nach Aufständen und einem Militärputsch sah sich Otto I. 1862 zum Abdanken gezwungen. Er hinterließ bayerisches Bier, einen Schuldenberg, einen aufgeblähten Beamtenapparat und eine furchtbar teure Armee. Das als Hinweis an gewisse CSU-Politiker, die im deutschen Fernsehen über "die Griechen" schwadronieren, die scheinbar von Natur aus faul und korrupt sind. Man braucht keinen Ausflug in die Völkerkunde, um zu verstehen, warum der griechische Staat so ist, wie er sich uns heute darstellt. Griechenland ist nicht korrupt, weil die Bevölkerung korrupt ist, sondern weil es jahrhundertelang fremdbestimmt war und sich die jeweiligen Herrscher auf korrupte, meist auch noch unfähige Geld-, Polit- und Militäreliten stützten. Das war der ideale Nährboden für das Entstehen eines verkrusteten Klientelsystems, das sich den Staat zur Beute machte. Bayern war da ganz vorne mit dabei. Ob es die Griechen, nach der Revolution sich selbst überlassen, besser gemacht hätten, weiß ich nicht. Interessanter ist die Frage, wie man die Vetternwirtschaft in einen modernen Staat mit einer funktionierenden Verwaltung transformieren kann. Das ist ein Generationenprojekt. Wer denkt, dass Alexis Tsipras oder ein anderer Ministerpräsident es in drei Jahren schaffen kann, bis zum nächsten Hilfsprogramm, verwechselt ihn mit Herakles, den Schirmherrn der Paläste.

Als echter Wittelsbacher entwickelte Otto I. eine rege Bautätigkeit. Eines der teils mit Geld aus Bayern und teils auf Pump errichteten Gebäude kennt jeder Fernsehzuschauer. Neben der Akropolis ist es das beliebteste Hintergrundmotiv der deutschen TV-Korrespondenten, weil jetzt das Parlament dort untergebracht ist. Meiner Beobachtung nach präferiert das ZDF das Parlament, während sich die durch den Bayerischen Rundfunk vertretene ARD zur Akropolis hingezogen fühlt (mit gelegentlichen Abstechern zum Parlamentsgebäude). Es wäre unfair, den aus dem Freistaat entsandten Reportern zu unterstellen, dass sie sich für den Burgberg in Athen entschieden haben, weil sich aktuelle Griechenland-Klischees unbeschwerter verbreiten lassen, wenn man vor so einer antiken Ruine steht. Umgekehrt könnte man ihnen nämlich vorwerfen, dass sie vor dem Parlamentsgebäude Stellung beziehen, weil sie ihren Informationsauftrag nur erfüllen können, wenn ein München-Bezug gegeben ist, es also schon wieder mehr um die Bayern geht als um die Griechen.

Über solche Standortfragen müssten wir heute gar nicht reden, wenn man dem ursprünglichen Plan Karl Friedrich Schinkels gefolgt wäre, das schmucke Schloss, das so ein König natürlich haben muss, auf die Akropolis zu bauen (die Idee stammte vom preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dem Vater von Kaiser Wilhelm I.). Doch daraus wurde nichts. Die ersten Entwürfe für das jetzige Parlamentsgebäude lieferte Leo von Klenze, der Hofarchitekt von Ludwig I., für den Klenze und sein Konkurrent Friedrich von Gärtner München zum "Isar-Athen" umgestalteten. Eigentlich ist das eine ganz lustige Idee. Man baut die bayerische Hauptstadt im Stil der alten Griechen um und stellt den neuen Griechen (denen des Jahres 1836, als Otto I. den Grundstein legte) einen klassizistischen Palast hin, in dem dann ein aus Bayern eingeführter König residiert. Nicht amüsiert waren die Untertanen (zumindest die Republikaner unter ihnen), weil das Palais das Selbstverständnis eines Monarchen repräsentieren sollte, den sie nie gewollt hatten. Die undankbaren Gesellen.

Auch König Otto bekam nicht, was er sich gewünscht hatte. Finanzierungsprobleme, Sachzwänge und (Münchner) Intrigen führten zur Ausbootung Leo von Klenzes. Erledigt wurde der Schlossbau schließlich von Friedrich von Gärtner, der die Aufgabe mit dem ihm eigenen Pragmatismus anging und sich durch die Begegnung mit dem real existierenden Griechenland nicht aus dem Konzept bringen ließ. Wer griechische Politiker nicht mag darf frohlocken. Sie sitzen jetzt beim Verabschieden der von Brüssel und Dr. Schäuble verlangten Spar- und Reformpakete nicht in dem künstlerisch weit anspruchsvolleren, von den örtlichen Gegebenheiten inspirierten Palais, das Klenze gern errichtet hätte, sondern in einem vor allem durch seine Nüchternheit charakterisierten Bau, der für Friedrich Stauffert, damals eine Art Stadtbaurat von Athen, mehr Fort als königliche Wohnung war, "die Residenz eines Fürsten […], in dessen Land immer Winter herrscht." Leo von Klenze war frustriert. "Wie innig habe ich Griechennarr […] mich für diese griechische Sache enthusiasmiert […]", schreibt er in seinen Memorabilien, "und was ist daraus geworden? Der König von Bayern, der König Otto und alle seine Leute, welche nach Griechenland gesendet worden sind, sind nach und nach verbraucht, bloßgestellt, das Land in Verwirrung gebracht, ich selbst als Künstler mit meiner Wirksamkeit in Hellas einer Ersparung […] aufgeopfert."

Vom "Ochi" zur Großen Troika

Nachdem die verwirrten Griechen König Otto aus dem Land geworfen hatten zog Prinz Wilhelm von Dänemark in das winterliche Schloss mit den "unheimlichen Korridoren", über die sich Stauffert gegruselt hatte. Ihn hatten die Großmächte zum neuen König bestimmt. Für Griechenland war das auch nicht unbedingt ein Segen, aber wenigstens wurde so etwas wie Stabilität erreicht, weil der Prinz als Georg I. eine - wenngleich eher kurzatmige - Dynastie begründete. Georg I. ist ein Vorfahre des ehemaligen Konstantin II., der heute mit einem dänischen, auf Constantino de Grecia ausgestellten Pass in London lebt und immer noch denkt, dass er der König von Griechenland ist. Fans des europäischen Hochadels sollten nicht zu enttäuscht sein. Der Mann darf sich auch "Seine Majestät König Konstantin II. von Griechenland, Prinz von Dänemark" nennen, aber nur außerhalb von Griechenland.

Wer ins Ausland transferierte Vermögen sucht, um sie zur Linderung der Schuldenkrise heranzuziehen: Der ehemalige König der Hellenen profitierte vom Beitritt seiner früheren Untertanen zur Europäischen Union. 2000 sprach ihm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine (teilweise) Entschädigung für seine vom griechischen Staat enteigneten Ländereien zu, nachdem er mit einer Klage vor dem griechischen Verfassungsgericht gescheitert war. Weggenommen hatten sie ihm die 1967 putschenden Obristen, die erst seine Bundesgenossen waren und dann seine Feinde, weil er einen Gegenputsch angezettelt hatte. Die Zeit berichtete damals, dass die neuen Machthaber ein Hauptschloss und sieben kleinere Residenzen einkassiert hatten, drei Jagdhütten, zwei Luxusjachten und 85 Kraftfahrzeuge (darunter zwei Rolls-Royce), und die jährliche Apanage in Höhe von umgerechnet 2,6 Millionen Mark zahlten sie ihm auch nicht mehr, seit er ins Ausland geflüchtet war. Der Monarch musste sich jetzt Sorgen machen, ob er ein längeres Exil standesgemäß durchhalten konnte. Der arme Mann.

Seine Majestät und mehr noch Seiner Majestät Vater, König Paul I. (das ist der, der - in Z - beim Oberst an der Wand hängt), haben damit zu tun, dass es vielen republikanisch gesinnten, mit der Geschichte ihres Landes vertrauten Griechen sauer aufstieß, als nach ihrem Hilfsantrag von 2010 plötzlich das Wort von der "Troika" durch die Medien spukte, die sie nun retten werde. Zwei von drei Mitgliedern der "Großen Troika" des Zweiten Weltkriegs, Winston Churchill und Josef Stalin (der Dritte im Anti-Hitler-Bund war Franklin D. Roosevelt), einigten sich in einem geheimen Abkommen darauf, dass das noch zu befreiende, seit 1941 von deutschen, italienischen und bulgarischen Truppen besetzte Griechenland in einem neu zu ordnenden Europa zur britischen Einflusssphäre gehören sollte. Bald danach stellte sich heraus, dass damit schon wieder über die Köpfe der Griechen hinweg bestimmt worden war, in was für einer Art von Staat sie leben sollten.

Weil - nicht immer, aber oft - alles mit allem zusammenhängt sei hier noch daran erinnert, wie es zur Besetzung durch Nazi-Deutschland kam. 1940 forderte Mussolini, im neutral gebliebenen, vom Diktator Ioannis Metaxas regierten Griechenland Truppen stationieren und von dort auch gegen andere Länder operieren zu dürfen; andernfalls würde er sich das Recht dazu einfach nehmen. Am 28. Oktober sagte Metaxas sinngemäß "Nein" (Ochi) zu dem Ultimatum. Das bedeutete Krieg. Mussolinis Truppen griffen von Norden her an, die Bevölkerung empfing sie mit lauten "Ochi"-Rufen, die Italiener holten sich eine blutige Nase. Nach der militärischen Niederlage seiner Verbündeten sah sich Hitler gezwungen, selbst in Griechenland einzumarschieren. Das verzögerte den Russland-Feldzug, mit für das Dritte Reich fatalen Konsequenzen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der 28. Oktober zum nationalen Feiertag erklärt. Er ist der zweitwichtigste nach dem Unabhängigkeitstag (25. März, zum Gedenken an die Befreiung von den Osmanen). Mit dem Ochi-Tag können sich auch die Nicht-Faschisten identifizieren, weil da nicht der faschistische Diktator Metaxas gefeiert wird (oder nur von dessen Anhängern), sondern ein stolzes Griechenland, das seine Würde und seine Selbstbestimmung verteidigt und "Nein" zu unannehmbaren Forderungen des Auslands sagt. Wer meint, dass der Text des von Tsipras angestrengten Referendums zu den Sparplänen der Eurogruppe unverständlich war hat völlig recht und liegt doch total daneben. Inhalte haben gegen Symbolik einen schweren Stand. Tsipras wäre schön blöd gewesen, wenn er seine Landsleute nicht zu einem "Ochi" aufgerufen hätte - unabhängig davon, wozu sie "Ja" oder "Nein" sagen sollten. Durch das mehrheitliche "Ochi" der Wähler (Symbolik) wurde es für ihn leichter, in Brüssel "Ja" zu den Forderungen der Gläubiger (Inhalte) zu sagen. Das ist gar nicht so paradox, wie es zunächst erscheinen mag. Schwierig wird es, wenn man aus den Höhen der Symbolik in die Niederungen der Politik und der Reformprogramme hinabsteigen muss.

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