Dschihad oder Selbstjustiz?
Der Mord am Filmemacher Theo van Gogh und die brennenden Moscheen sind kein Resultat des "Religionskriegs", sondern Folge eines Versagens des niederländischen Justizapparats
"Die Regierung hat dem Dschihad den Krieg erklärt", erzählten der niederländische Vizepremier Gerrit Zalm und der Fraktionsleiter der konservativ-liberalen Partei VVD, Jozias van Aartsen vor drei Wochen. Anlass zu dieser pathetischen Aussage gab der Mord am Filmemacher Theo van Gogh, der am 2. November von einem islamistischen Extremisten auf offener Strasse erschossen und erstochen wurde. Seither wurde viel geschrieben über das "Ende der Toleranz", den islamistischen Terror und einem "Krieg" der Religionen. Doch das Problem ist anders gelagert.
Unübersehbar deutlich wurde der weit verbreitete Unmut der niederländischen Bevölkerung über die Politik ihrer Regierung erstmals vor zweieinhalb Jahren. Am 15. Mai 2002 gaben 1.614.801 Niederländer - 17 Prozent der Wähler - ihre Stimme dem politischen Newcomer Pim Fortuyn. Der Rechtspopulist war wenige Tage vor der Parlamentswahl von einem militanten Tierschützer ermordet worden, doch seine Partei, die Liste Pim Fortuyn (LPF), wurde in der Folge zweitgrößte Partei des Landes und konnte sich maßgeblich an der Regierung beteiligen. Fortuyn hatte vor allem mit seiner radikalen und groben Kritik an der traditionellen niederländischen Politik - insbesondere an der sehr liberalen Asylpolitik - große Bevölkerungsgruppen angesprochen: Er setzte sich beispielsweise für einen absoluten Einwanderungsstopp ein.
Politischer Umbruch und Instabilität
Folge des überwältigenden postumen Wahlerfolgs Fortuyns war nicht nur die politische Instabilität, die ein überaus starkes Mandat für einen toten Politiker einer sehr jungen Partei nun einmal mit sich bringt. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Philomena Bijlhout im Jahr 2002 schon einige Stunden nach ihrer Vereidigung als LPF-Staatssekretärin zurücktreten musste, da sie ihre Teilnahme an der Surinamischen Miliz während der Dezembermorde 1982 in Surinam verschwiegen hatte. Nicht vergessen sollte man auch, dass das damalige Kabinett schon wenige Monate nach seiner Bildung im Oktober 2002 durch den politischen Dilettantismus der LPF stürzte.
Die größte Folge aber war der unverhohlene Rechtsrutsch der liberalen und freiheitlichen Parteien. So veränderte die heutige Regierung - das offensichtliche Bedürfnis der Bevölkerung wahrnehmend - ihren Kurs in Sachen Asylpolitik radikal und beschloss Anfang dieses Jahres, abgewiesene Asylbewerber, die vor dem Jahr 2001 nach Holland gekommen und nach ihrer Abweisung illegal im Land verblieben waren, nun konsequent auszuweisen. Dies resultiert laut der "Herold Tribune" in der größten Massendeportation seit dem 2. Weltkrieg: Rund 26.000 ehemalige Asylsuchende müssen das Land verlassen - auch solche, die vollkommen integriert sind.
Wie umstritten diese neue Politik ist, zeigte sich unter anderem darin, dass der heutige Parteivorsitzende der großen Arbeiterpartei PvdA, Ruud Koole, die Bürgermeister und Stadträte seiner Partei am 5. Februar dieses Jahres in einem offenen Brief dazu aufrief, die Kooperation an der Durchsetzung dieser rigiden Maßnahme zu verweigern. Auch die bevorstehende Einführung einer Prüfung der holländischen Sprachkenntnisse und des nationalen Kulturwissens als Voraussetzung für die Einbürgerung ist ein Erbe von Fortuyn; ein solcher Test wäre vor 2002 völlig undenkbar gewesen.
Weitere Maßnahmen, die symptomatisch sind für den politischen Umbruch, sind auch die ab 2005 geltende Ausweispflicht sowie die schon vor längerem eingeführte (und häufig angewendete) gesetzliche Möglichkeit, in den Städten so genannte Sicherheitsrisikogebiete auszuweisen, in denen es der Polizei erlaubt ist, Zivilpersonen und ihre Fahrzeuge "präventiv" zu kontrollieren und durchsuchen.
Die Diskussion über die Asylpolitik, genauer gesagt: über die gescheiterte Einwanderungspolitik, ist nun in den Niederlanden durch den Mord am Kulturschaffenden Theo van Gogh erneut angeheizt worden. Nach der vorherrschenden Meinung ist eben diese traditionell sehr tolerante niederländische Einwanderungspolitik der Nährboden, der extremistische Aktivitäten unbemerkt gedeihen ließ und letztlich die brutale Hinrichtung van Goghs überhaupt erst ermöglichte. Angesichts des politischen Umbruchs, der vor drei Jahren einsetzte, ist es allerdings ein Trugschluss zu denken, das Ideal der multikulturellen Gesellschaft und die fast sprichwörtliche Toleranz der Niederlande hätten erst seit dem Mord an van Gogh tiefe Risse bekommen: Schon durch Fortuyns Wahlerfolg sind sehr viele alte Tabus gefallen.
Asylpolitik im Zeichen der Terrorismusbekämpfung
Bei diesem neuen Kurs der niederländischen Politik spielen selbstverständlich auch die Folgen der Anschläge vom 11.9.2001 in New York und vom 11.3.2004 in Madrid eine maßgebliche Rolle. Der Umstand, dass die Niederlande in die "Koalition der Willigen" eingetreten und militärisch im Irak präsent sind, unterstützt diesen politischen Wandel. So passt eine sehr strenge Asylpolitik durchaus zu einer Politik, in welcher Terrorismusbekämpfung erste Priorität hat: Wie man einem kürzlich erschienenen Rapport einer Regierungskommission über den Sicherheitsdienst (AIVD) und dessen Terrorismusabwehr entnehmen kann, soll die Asylpolitik nun auch systematischer und nachdrücklich eingesetzt werden, um den Kampf gegen den Terrorismus zu unterstützen.
Angesichts der strafrechtlichen Praxis muss man sich jedoch fragen, ob nicht vielmehr das Gegenteil der Fall ist: Ob also nicht der viel zitierte Kampf gegen den Terror vor allem den Vollzug einer wesentlich rigideren Asylpolitik begünstigt. Seit den Anschlägen vom 11.9. sind über 60 vermeintliche islamistisch-fundamentalistische Terroristen verhaftet worden - zum offiziellen Stolz der Regierung eine außergewöhnlich hohe Anzahl Verhaftungen im europäischen Vergleich.
Die verschiedenen, in der Presse sehr beachteten Strafverfahren gegen die potenziellen fundamentalistischen Terroristen mündeten insgesamt (unter jeweiligem Aufschrei der Entrüstung von Staatsanwaltschaft, Presse, Politik und Bevölkerung) in lediglich zwei Verurteilungen wegen terroristischer Verbrechen. Es konnte zwar auch in diesen beiden Fällen nicht nachgewiesen werden, dass die Täter selbst terroristische Anschläge vorbereitet hatten, trotzdem aber schien den Richtern erwiesen, dass die beiden Muslime einer kriminellen Organisation angehörten, welche zum Ziel hatte, Anschläge zu planen und durchzuführen.
Übrigens waren die Richter in verschiedenen Urteilen ungewöhnlich kritisch in ihrer Beurteilung der staatsanwaltschaftlichen Beweisführung, welche in verschiedenen Fällen - äußerst umfangreichen Dossiers zum Trotz - inhaltlich nicht nur dürftig, sondern geradezu nichtig war. So schrieb ein Gericht in Rotterdam in einem seiner Urteile bezüglich eines dieser Terrorismusprozesse am 5. Juni 2003:
Die im Gerichtsverfahren als Zeugen gehörten Teamleiter und Verfasser der Anzeigen waren nicht dazu imstande, ihre Schlussfolgerungen zu erklären oder zu untermauern, nicht einmal ansatzweise. Die Art und Weise, in welcher sich die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage plötzlich von einer Anzahl ihrer eigenen Schlussfolgerungen distanzierte, erscheint dem Gericht nicht nur schlampig, sondern auch Besorgnis erregend.
Alle anderen Verdächtigten wurden entweder freigesprochen, wegen anderer Delikte verurteilt oder - und dies betrifft den größten Teil der vermeintlichen Terroristen - diesbezüglich freigesprochen, aber zwecks Ausweisung der Asylbehörde übergeben. Der Schluss, dass die Terrorbekämpfung bisher eher dem Vollzug des Asylgesetzes gedient, aber dieses nicht die Terrorismusbekämpfung unterstützt hat, scheint daher durchaus gerechtfertigt.
Glaubwürdigkeit unter Druck
Im erwähnten Bericht der Regierungskommission über den Sicherheitsdienst und dessen Terrorismusabwehr erscheint auch eine Passage, in welcher die Erfolge des Sicherheitsdienstes bezüglich der Terrorismusabwehr beschrieben werden. Unter anderem wird dort festgehalten, dass die in einem der Strafverfahren freigesprochenen vermeintlichen Terroristen später alle in Berufung doch noch verurteilt worden seien. Auch in Bezug auf ein anderes entsprechendes Gerichtsverfahren wird mitgeteilt, alle Angeklagten seien in Berufung schließlich verurteilt worden wegen "Hilfeleistung bei der Vorbereitung von einem möglichen Anschlag" auf die US-amerikanische Botschaft in Paris.
Tatsache ist jedoch, dass bislang insgesamt nur zwei Personen wegen terroristischer Hilfeleistung verurteilt wurden und dass die Verfahren in Berufung auch gegen andere Verdächtigte entweder noch nicht abgeschlossen sind oder durch die Staatsanwaltschaft gar nicht erst eingeleitet wurden.
Die bekannte Anwaltskanzlei (Böhler, Franken, Koppe, Wijngaarden) der Angeklagten bzw. Freigesprochenen protestierte denn auch vehement gegen die falsche Darstellung ihrer Mandanten als Verurteilte. Die Kanzlei bezeichnete den Bericht aufgrund dieser und anderer Fehler als unglaubwürdig und äußerte auch allgemeine Zweifel am Wert der Untersuchungsresultate. Sie verlangte von der Kommission eine Richtigstellung und die Einstellung der Verbreitung des Berichts - ohne Erfolg. .
Wenn man bedenkt, dass die Anzahl fundamentalistisch-extremistischer Muslime in den Niederlanden vom Sicherheitsdienst auf ±150 geschätzt wird und sich schon jetzt mehr als 60 dieser vermeintlichen Terroristen vor Gericht verantworten mussten, kann man aufatmen: In nicht allzu ferner Zukunft werden sich wohl sämtliche mutmaßlichen Terroristen schon einmal einer solchen Strafverfolgung ausgesetzt gesehen haben und einige wenigstens in Regierungsberichten verurteilt worden sein.
Ob dem Mord an van Gogh nun tatsächlich eine allgemeine Radikalisierung der islamischen Bevölkerung in den Niederlanden zugrunde liegt, ist völlig unklar - klar scheint jedoch, dass sich die Haltung der niederländischen Behörden gegenüber Muslimen radikalisiert hat. Weiter ist nicht erwiesen, ob und inwiefern die Tat von langer Hand geplant und koordiniert wurde. Allein die verhältnismäßig große Zahl (acht) der in diesem Zusammenhang bisher erfolgten Verhaftungen, lässt in Anbetracht der allgemein großen Verurteilungsrate von mutmaßlichen Terroristen längst nicht mit Sicherheit schließen, dass es sich bei der Tat um einen organisierten Terrorakt handelt.
Morddrohungen gegen Politiker an der Tagesordnung - Krieg dem Tierschutz?
Auch ist nach wie vor undeutlich, ob und inwiefern der Mord an Van Gogh ein politisches Ziel verfolgte und der Begriff "Terror" in diesem Zusammenhang überhaupt gerechtfertigt ist. Es ist vielmehr augenfällig, dass der Hass der niederländischen Islamisten personenbezogen ist: In der Vergangenheit ergingen zumindest in "nur" drei Fällen Drohungen gegen besonders heftige Islamkritiker, nämlich gegen van Gogh, den Rechtspopulisten Geert Wilders und die Politikerin Ayaan Hirsi Ali, die den islamischen Propheten Mohammed als "Kinderschänder" bezeichnet hatte und schon seit längerem unter Personenschutz steht. Seit der Mörder van Goghs sie explizit mit dem Tod bedrohte, ist Hirsi Ali untergetaucht und erscheint aus Sicherheitsgründen nicht mehr im Parlament.
Zugleich sind Morddrohungen von "Fortuynisten" gegen (linke) Politiker seit dem Mord an Fortuyn übrigens gang und gäbe. Die "Dämonisierung" Fortuyns durch linke Politiker - sie charakterisierten ihn als "Faschisten" - führte unter seinen Anhängern nach seinem Tod zum Motto: "Die Kugel kam von links." Zahllose Morddrohungen an die Adresse der Linken waren das Resultat. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende der grünen Partei (GL), Paul Rosenmuller, trat aufgrund solcher Drohbriefe zurück. Und der Rücktritt von Ad Melkert, vor der Parlamentswahl 2002 Fraktionsvorsitzender der Arbeiterpartei, erfolgte nach der perfiden Wahlniederlage seiner Partei im Jahr 2002 - nachdem er ein Päckchen mit einer geladenen Pistole erhalten hatte.
Wenn nun der niederländische Vizepremier Gerrit Zalm (VVD) und der Fraktionsleiter der konservativ-liberalen Partei VVD, Jozias van Aartsen, anlässlich des Mordes an van Gogh von einem zu führenden "Krieg" gegen islamistischen Extremismus oder vom beginnenden Dschihad in den Niederlanden sprechen, erscheint dies angesichts dieser Tatsachen nicht nur als voreilig oder tendenziös, sondern unter Umständen gar als falsch. Warum wohl, kann man sich auch fragen, wurde nach dem Mord an Fortuyn nicht dem militanten Tierschutz der Krieg angesagt?
Niedrige Aufklärungsrate
Wer die jüngsten Geschehnisse in den Niederlanden begreifen will, muss noch weiter zurückblicken: Im letzten Jahrzehnt kam es in der Öffentlichkeit zu zahllosen Gewalttaten. Der Begriff "sinnlose Gewalt", der für Gewaltexzesse im öffentlichem Raum steht, ist jedem Niederländer ein Begriff.
Opfer solcher Attacken wurden etwa Meindert Tjoelker, der in Leeuwarden eine Gruppe jugendlicher Vandalen zurechtwies, oder René Steegman, der 2002 in Eindhoven einen rücksichtslosen Mofafahrer zur Rede stellte, oder Anja Joos, die 2003 in Amsterdam eines Bierdosendiebstahls verdächtigt wurde. Alle drei bezahlten wie unzählige andere ihre Handlungen mit dem Leben. Auch wütet seit längerem ein blutrünstiger Kampf im niederländischen Drogenmilieu, der zu erschreckend regelmäßig stattfindenden Exekutionen unter Kriminellen geführt hat. Angesichts der hohen Zahl der Opfer tödlicher Gewalt ist zu vermuten, dass die Niederlande in den vergangenen Jahren nicht so sehr in den Bann politisch motivierter Gewalt gerieten, sondern schlicht zum Schauplatz stark zunehmender Verrohung wurden.
Gleichzeitig betrug die Aufklärungsrate von Kriminalfällen in den Niederlanden im Jahr 2000 nur gerade 13 Prozent und war damit die tiefste in Europa. Zum Vergleich: Deutschland hatte in diesem Jahr eine Aufklärungsrate von 53 Prozent. Im selben Jahr konnten in den Niederlanden 43 Prozent der schweren Gewaltverbrechen aufgeklärt werden, in Deutschland 83 Prozent. Bis auf Polen wiesen die Niederlanden im europäischen Vergleich auch in dieser Unterkategorie die schlechtesten Zahlen auf.
Laut dem niederländischen Wissenschaftlichen Rat der Regierung (WRR) hängt diese geringe Auflösungsrate mit dem so genannten Opportunitätsprinzip zusammen, einer niederländischen Erfindung ohne internationales Pendant. Dieses strafrechtliche Grundprinzip besagt, dass kein Verbrechen von Amtes wegen verfolgt werden muss. Es gibt im Gegensatz zu anderen Ländern keinen Anklagezwang. Ausschlaggebend bei der Frage, ob eine Verfolgung stattfindet, ist in den Niederlanden nicht die Schwere oder die Art eines Delikts, sondern die Frage, ob die Verfolgung des Täters dem allgemeinen Nutzen dient - ob sie "opportun" ist.
Laut dem WRR führt diese gesetzliche Grundlage in Kombination mit dem außergewöhnlich kleinen Justizapparat dazu, dass die Anzeigen zahlreicher schwerer Delikte gar nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Denn die Polizei geht davon aus, dass die Staatsanwaltschaft wegen Kapazitätsengpässen sowieso nicht alles verfolgen kann.
Gemäß einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Untersuchungs- und Dokumentationszentrums beläuft sich die Zahl der schweren Gewaltverbrechen, die aus diesen Gründen und trotz Hinweisen auf mögliche Täter nie verfolgt werden, auf jährlich zirka 80.000. Trotzdem lehnte die Regierung im Jahr 2002 und Mitte 2004 zwei Gesetzesentwürfe ab, welche die Einführung eines Anklagezwanges bezüglich schwerer Gewaltverbrechen beinhalten.
Nulltoleranz für leichte Verkehrsdelikte
Im Zuge der "Nulltoleranzpolitik", die seit dem Mord an Fortuyn offiziell herrscht, wurden zwischen Regierung und Polizei Leistungsaufträge vereinbart. Sie verpflichten die Polizei, eine bestimmte Anzahl von Anzeigen aufzunehmen und an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, konzentriert sich die Polizei in der Praxis auf die leichteren Fälle: So werden seit kurzem unzählige Geldstrafen an Fahrradfahrer ausgeteilt, die ohne Licht unterwegs sind. Die so genannte Politik des Duldens, auf die die Niederländer jahrzehntelang stolz waren, hat inzwischen um sich greifender und unnachsichtiger Repression gegenüber Lappalien Platz gemacht.
Wo der Rechtsstaat nun aber versagt und die allgemeine Gewaltbereitschaft überaus hoch ist, lebt es sich als Provokateur sehr gefährlich: Das Motiv für den Mord an van Gogh waren offensichtlich seine (juristisch unverfolgt gebliebenen) Beleidigungen gegen den Islam - so nannte er Muslime auch "Ziegenficker". Dass beleidigende und diskriminierende Aussagen nun einmal sein "Stil" waren, zeigt auch die Tatsache, dass sowohl 1990 als auch 1994 Strafverfahren gegen van Gogh wegen Beleidigung und Diskriminierung bis ans Kassationsgericht gelangten. In diesen Fällen ging es um antisemitische Äußerungen: ein Pamphlet gegen den jüdischen Schriftsteller Leon de Winter und äußerst geschmacklose "Witze" über den Holocaust. Van Gogh wurde im einen Fall verurteilt, im anderen wegen Formfehler freigesprochen.
Religionsfreiheit wiegt schwerer als Diskriminierungsverbot
Auch Fortuyn hatte Beleidigungen geäußert - gegen den Islam. Er reagierte damit auf die Aussagen des Imams Chalil al-Mumni, der am Fernsehen Homosexualität eine der Gesellschaft schadende Krankheit nannte (sie führe zum Aussterben der Menschheit). Fortuyn, der bekanntermaßen homosexuell war, wurde wegen Diskriminierung und Beleidigung angeklagt, und auch gegen al-Mumni wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Nach Fortuyns Tod zog die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn zurück: Verfolgung war nicht mehr opportun, nachdem 1.614.801 Niederländer Fortuyn postum gewählt hatten - es ist deshalb ungewiss, ob es zu einer Verurteilung gekommen wäre, mit Blick auf die Verurteilung von van Gogh 1990 ist das aber nicht auszuschließen.
Im Verfahren gegen al-Mumni befand das höchste Gericht 2002, dass der beleidigende oder diskriminierende Inhalt einer Aussage entfallen kann, wenn sich der Beleidigende oder Diskriminierende bei seiner Aussage auf die religiöse Doktrin einer anerkannten Religion berufen kann und mit seiner Beleidigung der öffentlichen Debatte dient. Der Imam wurde freigesprochen.
Erwartungsgemäß übrigens, denn das Kassationsgericht folgte in seinem Urteil der Linie vorhergehender Rechtsprechung: Nicht lange zuvor stand der (damalige) Fraktionsvorsitzende der verhältnismäßig kleinen, aber etablierten ultra-christlichen Partei (CU), Leen van Dijke, vor Gericht, weil er Homosexuelle mit Dieben verglichen hatte - er wurde mit derselben Begründung freigesprochen.
Nach Auffassung des höchsten Gerichts wiegt Religionsfreiheit also schwerer als das Diskriminierungsverbot. Abgesehen davon, ob dies in einem säkularen Rechtsstaat prinzipiell wünschenswert ist, verursacht diese Haltung angesichts des Mordes an Van Gogh durchaus ein unangenehmes Gefühl: Auch hier beruft sich der Täter in seiner Rechtfertigung auf religiöse Motive.
Blasphemie - welcher Religion?
Elf Tage nach dem Mord an Van Gogh setzte sich der heutige Justizminister Piet Hein Donner an einem Parteikongress der Christendemokraten ein für konsequentere Bestrafung von Gottes- oder Religionslästerungen und eine neue Formulierung des betreffenden strafrechtlichen Artikels (Art. 147 Sr; ein Artikel, der durch Donners Großvater, der selbst auch Justizminister war, erlassen wurde und seither erst dreimal zu einer Verurteilung führte), damit das Verbot rigider durchgesetzt werden kann.
Er merkte dabei allerdings auch an, dass er damit nicht sagen wolle, van Gogh sei mit seinen islamkritischen Äußerungen zu weit gegangen - und man kann nicht ganz ausschließen, dass der Justizminister mit der schützenswerten Religion in erster Linie die christliche meinte. Die Ministerin für Integration und Fremdlinge, Rita Verdonk, reagierte später darauf angesprochen jedenfalls ablehnend, indem sie die Meinung vertrat, man solle sich nicht an die tiefere Toleranz, welche typisch sei für die Muslimbevölkerung, anpassen und auch Lästerungen gegen den Islam strafrechtlich strenger verfolgen. Auch im Parlament wurde sehr heftig protestiert, Reaktion war sogar ein Gesetzesentwurf der liberal-demokratischen (Regierungs-)Partei D66, der die Abschaffung des betreffenden Verbotes von Blasphemie forderte (und am 23.11.04 in einer parlamentarischen Abstimmung scheiterte).
Ein religiös motivierter Mord sowie brennende Moscheen und Schulen sind ein überaus ernstzunehmendes Zeichen von Intoleranz und Gewaltbereitschaft. Angesichts der erschreckend tiefen Auflösungsraten bei Straftaten im allgemeinen ist jedoch die Frage berechtigt, ob diese Intoleranz und Gewaltbereitschaft hauptsächlich in einem religiösen Konflikt begründet sind. Näher liegt der Schluss, dass dann, wenn staatliche Justizgewährung vorenthalten wird und eine konsequente Verfolgung schwerer Verbrechen ausbleibt, Selbstjustiz droht. Dies dürfte wohl auch van Gogh viel eher zum Verhängnis geworden sein als der beginnende Dschihad in den Niederlanden.
Es bleibt zu hoffen, dass der niederländische Staat - der Spitzenreiter ist, was abgehörte Telefonate betrifft, der verschiedene aus rechtsstaatlicher Perspektive sehr fragwürdige neue Terrorismusgesetze eingeführt hat, und der nach amerikanischem Vorbild vor einiger Zeit auch eine Farbenwarnskala bezüglich der aktuellen Terrordrohung eingeführt hat - mit der derzeit oft zitierten Besinnung auf "Normen und Werte" nicht hauptsächlich religiöse meint.
Es ist zu hoffen, dass es bei diesen Werten vor allem auch um rechtsstaatliche Inhalte wie Meinungsfreiheit, Diskriminierungsverbot, Unschuldsvermutung, Schutz der Privatsphäre und die nirgends im niederländischen Gesetz verankerte Justizgewährungspflicht geht. Mit den Normen und Werten, auf die sich das Kabinett so gern beruft, müssen auch diejenigen des Rechtsstaates selbst gemeint sein.