Du gleichst dem Geist, den du begreifst

Filmus interruptus einer revolutionären Nano-Theologie: Die deutsche Kritik hat große Schwierigkeiten mit "Matrix Reloaded". Aber was ist von einer Kritik zu halten, die an Maßstäben eines Handlungskinos und eines Bildrealismus von vorgestern festhält?

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Dem Andenken von Peter Pütz

Die deutsche Kritik hat ausgesprochene Schwierigkeiten mit "Matrix Reloaded". Der zweite Teil der "Matrix"-Trilogie wird als stilistisch unreines Kompromissprodukt, als ein "Materiallager" (Olbert, KStA) ohne roten Faden abgetan. Der erste Teil sei dagegen visuell überzeugender und zeichne sich durch wahre philosophische Tiefe aus. Aber - was ist von einer Kritik zu halten, die sich an völlig veraltete Maßstäbe eines überlieferten Handlungskinos und eines fragwürdigen Bildrealismus von vorgestern festhält? Auch die amerikanischen Science-Fiction-Autoren haben Vorbehalte gegen das "Matrix"-Projekt, beweisen aber mehr Phantasie und Humor.

Einige Kratzer an der Oberfläche des Spiegels

Gert Scobel ("Frühstücksmagazin", ARD, und "Kulturzeit", 3 SAT) hatte den Kritikerreigen eröffnet: Das neue Kino-Sequel sei ein Verfallsprodukt gegenüber dem innovativen Vorläufer. Die Action sei stellenweise zu dominant, dafür flache die philosophische Reflexion immer stärker ab. Auch Frank Olbert vom Kölner Stadt-Anzeiger (22. Mai 2003) sehnt sich zurück zu "Matrix", Teil 1. Hier seien "Sehgewohnheiten verändert und neue industrielle Standards gesetzt" worden. Im Nachfolger sei von der visuellen Revolution nicht mehr viel zu spüren: Es werde nur noch ausgebaut. Der Film zelebriere sich als ein "exakter Klon des Vorgängers, aber als einer, der sagt: "Ich kann alles noch viel, viel besser."" Weder erreiche der zweite Teil die "Stilsicherheit der Ausstattung und der Effekte" noch die "philosophische Tiefe" des an ein antikes Drama erinnernden Vorgängers. "Tausend Effekte machen keinen Film." Dabei sind es 2.500 Einstellungen, durch die der Stil der Comic-Animés den Normalfilm zum Ereignisraum eines neuen "virtuellen Kinos" überzieht.

Katja Nicodemus (Die Zeit, 22. Mai 2003) spricht ähnlich von einer "epigonalen" Fortsetzung und vermisst das "komplexe Trend- und Zeitgeistphänomen", das die erste Folge mit "Antitechnizismus, Entfremdungsängsten und neumodischen Verschwörungstheorien" auslöste. Die "abstrakte Schönheit des im ersten Film entworfenen philosophischen Grundmusters" werde "an eine infantile Blockbuster-Dramaturgie" verraten, die "vormals anarchischen Helden" seien "nurmehr pflichtbewusste Krieger einer straff organisierten Armee". In der "Nummernrevue digitaler Dönekes", der "flotten Unverbindlichkeit eines Computerspiels" und der "völligen Abwesenheit des Körperlichen" gehe die ursprüngliche Spannung zwischen Leib und Seele verloren. Das klingt nicht gerade danach, als ob Nicodemus ein besonderes Vergnügen am Entziffern neuartig simulierter Bildwelten fände. Also nichts wie raus aus der Spielhölle.

Schon positiver fällt die Bewertung des Spiegel aus, der sich ein wenig von der grotesken Wucht der digitalen Trickszenen (durch das Team von Oscar-Gewinner John Gaeta) anstecken lässt. Die nicht-simulative Welt von Zion bleibt von Spott nicht verschont. Leider, so die süffisante Anmerkung, hätten die Wachowski-Brüder bei der Darstellung von Trinitys und Neos Liebesnacht in Zion auf eine erotisierende Computeranimation im Stil der zahlreichen Kampfballette verzichtet. So reiche es gerade mal für einen pubertären, leicht verschwitzten Kuschelstil weit unter der Altersfreigabe. Witzig, aber auch etwas daneben, wenn man an die motivisch sorgfältig platzierten Liebeszenen in den bisherigen beiden Kinofolgen denkt: zum Dornrößchen-Kuss auf dem realen Deck von Nebukadnezar am Ende von Teil 1 kommt im Sequel die mit der finalen Super-Rettungs-Action verbundene digitale Liebesszene, diesmal von Neo initiiert, am Ende des zweiten Films hinzu, nachdem Liebe und Eifersucht im Netz durch Persephone induziert worden sind.

Fritz Göttler (Süddeutsche Zeitung, 21. Mai 2003) weist mit Gespür darauf hin, dass der zweite Teil "mehr down to earth" sei; "die Figuren sind weicher, sinnlicher, plastischer in der Stadt Zion - menschlicher, möchte man sagen."

Man hat in vielen Kritiken ein Kopfschütteln wahrnehmen können angesichts der Naivität, mit der das Leben in der Stadt Zion geschildert wird, einen Verrat gewissermaßen an der coolen Cyber-Welt des Matrix-Programms, deren Helden sich stilisiert und gestylt bewegen.

Göttler traut dem "ganzen erkenntnisphilosophischen Hokuspokus um Sein und Schein" nicht mehr über den Weg. Denn in der zweiten Folge gehe es um die Frage nach der Entscheidung, nicht nur, um die Welt zu erkennen, sondern um sie auch wirklich zu verändern:

Es geht um den Moment der Entscheidung, und um die Frage, wie und ob Entscheidung möglich ist in einer Welt, die nicht mehr dem Prinzip der Eindimensionalität, der monokausalen Geschichte verpflichtet ist. Welche Rolle kann Erlösung spielen in dieser Welt, kommt sie von außerhalb oder ist sie Teil des Systems selbst, von diesem programmiert? Wessen Willen ist es, den der Messias Neo geschehen lassen soll? Eine Beklommenheit wächst im Verlauf dieses Films, eine Furcht vor dem kommenden dritten Teil.

Bis auf wenige Ausnahmen kratzen die Kritiker an der Oberfläche. Sie bewegen sich im luftleeren Raum einer längst überholten Kinodramaturgie, in vermeintlichem Realismus, der von allen Seiten durch eine neue digitale Bildästhetik ausgehöhlt und aufgesogen worden ist. Mit ihr gerät jede einzelne Filmszene in die paradoxe Zwickmühle eines elektronisch vernetzten Handlungszusammenhangs, in den Mahlstrom der totalisierenden Weltsimulation, über der eine zwischen Ironie und Pathos schwankende postmoderne Erlösungsphilosophie schwebt.

Neue Mythologie statt Science Fiction?

Haben Larry & Andy Wachowski nun eine neue Mythologie geschaffen oder mehr oder weniger geschickt vorhandene Mythen und Legenden zu einem aufwendigen und doch geistlosen Erfolgsfilm zusammengeclipt? Die Frage ist auf der Ebene der Story nicht allein zu beantworten, da die vorhandenen Elemente als wirkungsvolle Oberflächenreize für diverse Rezeptionshaltungen montiert und modifiziert wurden. Nichts anderes praktiziert postmoderne Literatur und auch Cyber Fiction. Die Frage nach der Qualität des Films muss daher immer auch auf der Ebene des visuellen Potentials der inszenierten Bilder gestellt werden.

Die in USA schreibenden Kollegen im Umfeld von Science-Fiction und Cyber-Literatur legen zumeist ältere literarische Maßstäbe an das Filmprojekt an. Dabei trennen sie die Ebenen der Wirklichkeit und des Cyberspace recht mechanisch voneinander. Uneinig ist man sich über die Qualität der Konzepts. Ist sie filmisch, visuell oder auch literarisch? Ein uralter Streit um Literatur und Film bricht wieder aus.

Die Wachowskis und ihre Produktionsmaschinerie, von "Lethal-Weapon"-Produzent Joel Silver bis Warner, haben mit Matrix ein Mytho-Konglomerat geschaffen, wie es einer Netzkultur würdig ist. Das Warner Logo flimmert nun über der bekannten Fanfare des Abgrunds müde digitalisiert wie ein schlechter Hack im Vorspann der Matri"-Filme, als hätten die Brüder den Konzern bereits übernommen oder zerschlagen. Nicht nur auf der Website wird ein multimediales Sinn-Patchwork angeboten, das fernöstliche Religiosität und abendländische Philosophie, überlaute westliche Katastrophen-Action und stummfilmförmige Kampfrituale des Hongkong-Kinos, urbane Verschwörungsparanoia im Stil des Film Noir, apokalyptischen Nihilismus und heilsgeschichtliche Auserwählung, Cyber-Sci-Fi und romantische Odyssee ineinander vermixt.

Der in sich digitalisierte, unzählige Male zerstückelte und vernetzte Mythos arbeitet längst ins Unendliche weiter, und das Publikum, Fans oder Experten, Autoren, Wissenschaftler oder Philosophen, sie alle spinnen bereitwillig mit. Jeder besetzt die Leerstellen auf seine Weise und bastelt an den Rätseln und Verstrebungen der Matrix herum. Es sieht so aus, dass jeder hinter den großen Kinobildern das durchgestylte Storyboard eines philosophisch angehauchten Video-Denk-Spiels als Hieroglyphen-System entschlüsseln will.

Der Science-Fiction-Autor Bruce Sterling (vgl. hier und zu den folgenden Autoren: Karen Haber, Hrsg.: Das Geheimnis der Matrix. Heyne, 2003) hat sich auf seine Weise über Matrix lustig gemacht. Seine Einschätzung von Teil 1 klingt genussvoller als die gequälte deutsche Filmpresse:

Dank eines brillanten Konzepts schweben all die metaphysischen Teilchen wie Flocken in einer Schneekugel, auf engstem Raum, glitzernd, fragmentarisch und billig.

Lob und Tadel mischen sich wie anlässlich der Rosebud-Szene aus Orson Welles Citizen Kane. Andererseits behauptet Sterling:

In Matrix sieht alles immer unfehlbar interessant aus. Das visuelle Design wird konsequent durchgehalten - als Abfolge bewegter Bilder auf der Leinwand ist der Film so kohärent wie ein Laser.

Doch Neos Sieg am Ende von Teil 1 habe nur eine virtuelle und zugleich illusorische Qualität. Neo sei sich seiner Lage zwar bewusst, aber er kehre "in die Phantasie" zurück. Ist es legitim, Phantasie gleich Virtualität zu setzen? Ausgerechnet ein Science-Fiction-Autor sollte etwas gegen Phantasie haben? Ist Sterlings strikte Trennung von Wirklichkeit und virtueller Realität in Matrix überzeugend? Nimmt man alle diese Voraussetzung an, dann bewegt sich in der Filmhandlung buchstäblich überhaupt nichts. Die große, sich anbahnende Geschichte zerbröselt in lauter Special Effects und Eye Ball Kicks.

Kollegin Kathleen Ann Goonan ist nach der ersten Filmfolge der Ansicht, die gegnerischen Maschinen könnten "keinen freien Willen besitzen; sie sind ein für allemal programmiert und ihren Programmen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert." Diese mechanistische Ansicht vom Matrix-Maschinen-Universum und einer statischen KI ist in vielerlei Hinsicht verwunderlich. Dagegen ist Mike Resnick der Ansicht, in "Matrix" seien die Maschinen denk- und bewusstseinsfähig geworden, um mit dem Menschen in echtzeitlicher Simulation anthropomorph und relativ flexibel zu interagieren. Spätestens Matrix Reloaded und die Animatrix-DVD geben Resnick Recht.

Joe Haldemann vermisst bei "Matrix" die Grundmerkmale klassischer seriöser Science Fiction, ein "rationales Universum, in dem die Gesetze der Wissenschaft konsistent die Realität beschreiben". Was für ein Weltbild... Die Nüchternheit einer poetisch ausformulierten Rationalität zeichne sich durch "Ideen und stilistische Kompetenz" aus: Dagegen verwiesen die zahllosen wilden Metaphern und Mythen von Matrix auf ein Hollywood-durchtränktes Fantasy-Märchen und auf eine Action-orientierte populäre Sci-Fi-Produktion. Haldemanns Kritik übersieht allerdings, dass spätestens der Cyberpunk den klassisch-klinisch-akademischen Science-Fiction-Begriff aufgelöst hat und damit auch Erwartungen für Filme wie Matrix geschaffen hat.

Ian Watson will bemerkt haben, dass die Maschinen die Matrix auf bestimmte Weise editieren können, indem sie einige Details ändern. Aber sie könnten die Regeln der Matrix anscheinend nicht so "großzügig auslegen" und brechen wie die Menschen. Aufschlussreicher ist folgende These Watsons: Trotz aller Kampfhandlungen zwischen Menschen und Maschinen sei für eine überlebende Menschheit kein endgültiger Abschied von den Maschinen zu erwarten. Die auch für Matrix Reloaded gültige Schlussfolgerung lautet:

Der einzige Weg zur Befreiung besteht nicht darin, die Scheinwirklichkeit (welche die Maschinen aufrechterhalten, die daher nicht eliminiert werden können) zu zerstören, sondern die Kontrolle über sie zu erhalten und damit die Entscheidung treffen zu können, in was für einer Scheinwirklichkeit man leben möchte.

Bleibt nur der Einwand, ob eine bewusst kontrollierte Scheinwirklichkeit noch Schein oder schon Design ist. Watson greift auch das Konzept des "Superhelden" an, der seine "Kräfte logischerweise nicht außerhalb der Scheinrealität anwenden könne - denn wenn er es tut, wird alles Zauberei und Unsinn". Der Superheld in einer virtuellen Realität sei "eine Mogelpackung" für eine ernsthafte Kinostory. Sie vertrage sich mit dem ungeschminkten, maschinenabhängigen Realismus der Cyberpunk-Literatur ziemlich schlecht. Insofern sie Matrix ein populär aufgegossenes Imitat des Cyberpunk, weil der Held über die Technik scheinbar triumphiere.

Andererseits verkennt Watson, dass "Matrix" in seiner Rasanz und seinem mythologischen Anspielungsreichtum durchaus Gibsons temporeiche halluzinatorische Stilistik umgesetzt. Vor allem: Wie kommt die Abwertung des Cyberspace als bloßer Scheinwelt zustande? Würden Neo, Trinity und Morpheus immer wieder in der Matrix nach den Codes von Macht und Befreiung suchen, wenn dort alles nur Schein und Trug wäre? Die zitierten Autoren verkennen die filmische Auseinandersetzung um das ständige Doppelspiel von Illusion und Realität.

Eine neue digitale Filmästhetik: ein Poly-Versum

Den Schlüssel für das Filmkonzept liefern die digitalen Bilder selbst. Das Matrix-Projekt liefert eine neue Literatur in Bildern. Und das meint mehr als nur die Adaption von Comics und Animés, oder die Verfilmung einer vorgegebenen literarischen Story. Vielleicht ist der Eindruck von unendlichem Labyrinth, Mosaik und Palimpsest so wichtig. Matrix ist ein Film- und Multimedia-Vorhaben, dass die digitale Erfahrung aufwendig in den Dienst nimmt, um Simulation, Verführung, Lüge und Manipulationskraft der digitalen Bilder, die Angst vor dem Verlust von Objektivität und den wahnhaften Weltbezug als visuelle Parabel zu inszenieren. Damit wird eine eigenständige digitale Bild-Ästhetik begründet, die die Vorgänger-Ästhetiken des Action-Kinos und des Science-Fiction/Sci-Fi-Films elektronisch einfriert, relativiert und reflektiert. Alles, was bisher an (digitalen) Tricks und Leistungen auf der Leinwand zu sehen war, nimmt sich wie ein Vorspiel und ein Hilfsmittel der bloßen filmischen Bebilderung aus.

Matrix Reloaded stellt ebenso wie sein Vorgänger beeindruckend unter Beweis, dass der standardisierte Hyper-Naturalismus des Action-Kinos der 80er und 90er Jahre überholt ist. Die überdeutlich und völlig geheimnislos auf das junge Publikum niederkrachenden Blockbuster zeugen davon, dass das Kino in der klischeehaft-opulenten Bildgestaltung von Katastrophen und Grimassen dafür blind geworden ist, wirklich aussagekräftige visuelle Erfahrungen zu liefern, die auch immer die Grenzüberschreitung des Seh- und Denkbaren umfassen.

Der Vorzug von Matrix ist die Konstruktion eines disparaten multimedialen Raums, der für visuelle Rätsel und Spekulationen Platz hat, weil seine filmische Inszenierung nur ein Grenzwert der digitalen Möglichkeiten darstellt. Es entsteht ein multiperspektivisches, immer wieder veränderbares Poly-Versum, ein Wirklichkeitsspektrum mit vielen erkenntnistheoretischen Vorbehalten und praktischen Varianten. Ein Spielfeld für disparate Charaktere, die für verschiedenste latente Entwicklungen offen sind. In diesem virtuellen Raum sorgen verschachtelte Perspektiven und rekursive Zeitschleifen für eine sonderbare Verschränkung von Beharrung und Veränderung, Konstanz und Modifikation. Die filmischen Episoden der Handlung behalten auch bei mehrmaligem Sehen den Charakter von vieldeutigen Ereignissen, wie die Stationen eines sich selbst dynamisch generierenden Programms. Sie laden sich immer wieder neu mit Sinn und Bedeutung auf ("reloading").

Als Sci-Fi-Apocalypse stellen die beiden bisherigen Folgen von Matrix die Wirklichkeit unter Generalverdacht. Und zwar so radikal, dass die wissenden Zuschauer in jeder Szene des Films die Konstruktion einer Fiktion durch die Maschinen annehmen müssen, welche die Menschen bis auf wenige Ausnahmen längst von Geburt an in ihre intra-uterinen Legebatterien eingemeindet haben, um ihnen für ein kümmerliches Leben die alte böse Metaphysik einer wohlvorgeordneten Welt und eines verfälschten Restselbstbildes zwischen Tag und Traum, Glück und Verderben in die Physis wie ein Unglücks-Hormon zu injizieren.

Das Matrix-Projekt räumt gründlich mit dem Glauben auf, es gebe einen angenehmen und wissenschaftlich rationalen Versorger-Gott einer weißen Science-Fiction. Auch das postatomare Stolpern durch die Platonischen Höhle des Irrtums, wie in " Blade Runner" ist passee. Die Befreiung aus der vermeintlichen Realität der alltäglichen und sinnlichen Erfahrungen könnte immer noch ein ausgekochtes Täuschungsmanöver sein. Die Wirklichkeit - als manipulatives Produkt einer verdeckten Virtualität - zieht zwangsläufig eine neue Lebensform nach sich: Die Menschen müssen sich und andere ständig per Computer scannen und überwachen, um ihren Realitätsstatus zu vergewissern - in der angeblichen Wirklichkeit des zerstörten Planeten genau so wie in der nur fast heilen Welt der Simulation.

Es gibt so gut wie keinen verlässlichen Ruhepunkt, so gut wie keine maschinenfreie Zone in der Matrix-Welt. Und es gibt so gut wie keine Sequenz, die nicht als böser Albtraum statt als Realität, und dabei zugleich als unglaubliche Tatsache in der "Wüste des Realen" funktioniert. Der von Descartes probeweise, zur Stärkung der autonomen menschlichen Erkenntniskräfte angenommene böswillige Lügner-Gott (Deus Malignus) scheint durch den Albtraum der Verwirrung und Zerstörung hindurch der Wahrheit über eine verdüsterte Realität näher zu kommen als ein gütiger Vater im lichtdurchtränkten Himmel. Die Helden, vor allem Neo (Keanu Reeves), schmoren ständig und überall in der Hölle des peinigenden Selbstzweifels.

Eine zunächst unbegreifbare Instanz beliefert "uns" in der ganzen Breite "unserer" Wahrnehmung mit Täuschungen, um "uns" über das wahre Wesen "unserer selbst" und der Dinge an sich im Unklaren zu lassen und "uns" in Furcht, Abhängigkeit und Unwissen zu halten. Der Zuschauer wird durch die Kraft der Bilder, Bildschnitte und Bildmetamorphosen in diesen Täuschungsverdacht und die Verunsicherung hineingezogen.

Jugendkult: Militanz des Verschwindens

Allein die jugendliche Rebellion des "coolen Aufmerksamkeitsterrorismus", die abrupte, zunächst unverständliche Form der Befreiung im virtuellen Verschwinden, die simulierte Entführung, die Geiselnahme vor sich selbst und die reflexhafte Notwehr - zwischen Sich-Tot-Stellen, Flüchten und Kämpfen scheint der angemessene Jugendkult des Widerstandes gegen die vermeintliche Normalität der global verwirbelten Verhältnisse zu sein.

Und so pflegt der Matrix-Kult die radikale Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das noch falschere Leben im Falschen, auf den Fake im Fake. Die Kulissenhaftigkeit und der verlogene Perfektionismus der Bilder und Spiegelungen der Wirklichkeit werden nicht direkt bloßgestellt, sondern voll bedient. Man nistet sich in ihnen ernsthaft spielerisch ein, bis sie von selbst zusammenbrechen. Die ermüdete Phantasie hat ihre utopische Kraft verloren, aber ausgerechnet die Irrgärten, Arbeits- und Vergnügungsparks der Maschinen werden zur zweiten Fluchtburg einer Widerstandsbewegung, die die große Erlösung durch Sabotage und offene Gewalt beschwört.

Das ist Terrorismus light, in seiner äußerst systemkonformen Variante, ein letztes Aufbäumen am Ende der New Economy. Nicht umsonst haben in Matrix die emanzipierten Maschinen einen - allerdings begrenzten - Teil der Erdoberfläche in der virtuellen "Matrix Megacity" - für alle Zeit? - im Bild der Zivilisation des Jahres 1999 eingefroren, einer trostlosen Billigausgabe eines kollektiven Cyberspace mit vielen Lücken und Webfehlern, einen virtuellen Tummelplatz für die anderwärts gezüchteten Menschenembryos, während die noch freie restliche Menschheit, nach ihrem selbstzerstörerischen nuklearen Gegenschlag gegen die künstlichen Intelligenzen, sich im unterirdischen Zion verbuddelt hat und den Angriff von 250.000 maschinellen Wächtern erwartet. Das Übergewicht der rasanten maschinellen Evolution und die Stagnation der menschlichen Entwicklung lassen den Übergang ins nächste Jahrtausend gerade nicht stattfinden. Die Utopie wurde abgesagt. Und der Pakt mit der Science Fiction ist über der Trauerarbeit des Cyberpunks zerbrochen. Die Militanz des Verschwindens zielt auf den Grabenkampf und die Partisanen-Taktik einer auf dem Abfallhaufen ihrer eigenen Technologie gelandeten Zivilisation.

Neos Kampf ist nur ein Gleichnis für eine ganze Kultur. Der Matrix-Mensch wird zum Subjekt der Maschinen, zum ohnmächtigen, aber auch potentiell allmächtigen Wesen, zum Zuchtobjekt der großen Lüge, die kein metaphysisches Dahinter mehr zu kennen scheint, sondern nur noch das Dazwischen und Tiefdadrinnen von Netzleitungen zwischen Nebukadnezar, Zion und Matrix Megacitiy. Wie nimmt sich da der Versuch aus, aus der realen und virtuellen Höhle gezerrt und befreit zu werden? Es melden sich zahllose Zweifel, Einwände und Vorbehalte an: Geht der Kampf möglicherweise in die falsche Richtung? Wird die Unterjochung vielleicht in noch größerem Maßstab fortsetzt? Platon und Descartes, das Höhlengleichnis und der universalisierte Zweifel, die Fremdbefreiung und die skeptisch-narzisstische Selbstvergewisserung verlangen nach einer Darstellung, die sich nicht jenseits der Medien bewegt, sondern sich in die Medien einschreibt, die sich überkreuzt zur ständigen Transformation des Cyberspace, im maschinellen Menschen und in einer neuen digitalen Zerebralität.

Der Upgrade-Terminator

Die große Entfesselung, das entscheidende Un-Plug! des Films findet nicht außerhalb des Systems statt, sondern muss die ganze Renintenz der anomalisch gewordenen Matrix-Insider und die ganze Nervosität der Videospiel-, Kurzfilm- und Storyboard-Verästelungen enthalten. Die universelle Deterritorialisierung einer Position, die Verwandlung ihres energetischen Potentials zu einem globalen Shifter (einem unangreifbar gleitenden Zeichen), der sich von keinem Checkpoint des maschinellen Systems oder keiner überlieferten Kinosymbolik mehr dingfest machen lassen will.

Die Matrix ist und bleibt der einzige Illusions- und Projektions-Apparat mitten in einer utopie-entleerten Wirklichkeit. Sie liefert den großen Zweifel und die große Hoffnung. Und in diesem Sinne wird auch die leidige Gattung Action-Film einer wohltuenden Relativierung unterzogen. Ihr heroischer Aspekt, die hohl gewordene Rhetorik der Gesten von Sieg und Niederlage, ihre ständige Übertreibung zwischen physikalischer Sensation und lächerlicher Theatralität, wird digital reflektiert, parodiert und zum virtuellen Stillstand gebracht in der computerbearbeiteten Bullett-Time-Photography, im das Bild einfrierenden Animé-Stil, in dem immer gleich mehrere Kampfarten, Wahrnehmungsperspektiven und Realitätsebenen unaufgelöst aufeinanderstoßen, als ob sich die Tore zu einem fiktiven Jenseits öffnen würden.

So, als müsse das Programm - in der verlangsamenden Focus-Funktion des neuen Enter-The-Matrix-Videospiels - mit Wellen, Paranormalitäten, Duplikaten, Zeitverzögerungen und urplötzlichen Entladungen im durchlöcherten Raum-Zeit-Kontinuum rechnen und mit diesen sofort geschickt kalkulieren, um bestimmte untergründige Dramen und Auseinandersetzungen zwischen freundlich und feindlich aufgeladenen Energien zu entfesseln, jenen dynamischen Quanten, in deren Wesen Nietzsche einen "Willen zur Macht", ein Potential zur aktiven Transformation der Realität erblickte.

"Matrix" hat die Befreiung als Medien-Hack, als quasiterroristische Entführung und kämpferische Mobilisierung eines unkenntlichen Selbst zeit-, jugend- und mediengemäß ausformuliert. Es geht um den inneren und äußeren Weg - immer als konstruierte Erkenntnis und Bahnung einer verrätselten Realität von Ich und Welt, die beide unter dem Argwohn der ständigen radikalen Dekonstruktion stehen.

Neo ist ein schizophrener Charakter, ein Schläfer mit Doppelleben, ein als Normalbürger Thomas Anderson getarnter Underground-Hacker, dem das Netz zum kollektiven Unbewussten geworden ist. Neo wird herausgerissen aus der vorprogrammierten Normalität. Er blutet aus der Wunde, die die Maschinisierung dem Menschen in der grauenvollen Zuchtanstalt der Apparate geschlagen hat. Damit werden Fragen nach der Autonomie, der Autarkie, des Eigenständig-Seins und des Realseins ebenso signifikant wie Ermittlungen zum Abhängig-Sein, ja dem Identisch-Sein mit den Maschinen und den digitalen Daten.

Der Argwohn: "Könnten nicht alle philosophischen Gedanken, Erkenntnisse und Liebesbekundungen immer schon vom Band ablaufen?", muss erst einmal ausgeräumt werden. Er könnte aber auch eine Hoffnung enthalten. Wunderlich bleibt, wie überhaupt die Binarität von Gut und Böse, vor allem jene zwischen Agent Smith, Neo und Morpheus geführte Polemik, auf den tausend Plateaus im Netz sinnvoll generiert werden kann. Verdecken diese Differenzen und Konfrontationen nicht eher durch die reale Symbiose und Diffusion und die Möglichkeit der freundlichen Konversion?

Einerseits bearbeitet die Maschinenwelt den menschlichen Organismus in allen Einzelheiten und allen Lebensstadien, manipuliert sie ihn durch ihre zu digitalen Programmen verfeinerten Einheiten in allen denkbaren Dimensionen und Poren - physisch, psychisch und mental. Damit ist die Replacement-Hypothese der klassischen Science Fiction angesprochen. Der Mensch wird als ersetzbares Wesen bedroht. Aber indem die Apparatur die menschlichen Körper anzapft und den Wärme- und Datenstrom einsaugt, durchdringen die menschlichen Potentiale auch das Maschinenwesen. Der Terror der Zucht mutiert zur Wohlfahrt der tausendfältigen Pflege und Vorsorge im kontrollierten Traum der utopielosen Illusion. Es wäre etwas zu einfach zu behaupten, dass die Wachowskis auf den organlosen Körper des Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari abzielen, der die Schizophrenie einer Welt nach den Antigesetzen von Kafka, Dick und Gibson in sich einschreibt und damit nur die Angst vor der Maschine und vor der Entleerung des Humanen meint.

Die Wachowskis suchen nach einer objektiv transmaschinellen und transorganischen Apparatur, die dem digitalen Kino von heute und morgen das Gesicht von Keanu Reeves zu Recht als Ikone implantieren kann. Die Symbiose von Mensch und Maschine, und die Schnittstelle des Realen und des Virtuellen ist nicht einfach auflösbar, weder in der Jugend-Ikone des Cyber-Kung-Fu, noch in der "Superman-Nummer", mit der Neo die Netzwelt torpedogleich durchrast. Sie kündigt sich in Finale von Teil 1 als Clip abrupt an und wird nun in Teil 2 als ironischer Koyaanisqatsi-Refrain auf Katastrophen-Rettungs-Filme fortgeführt.

Die Erlösung ist nur Netz-immanent, nicht transzendent, nur mit den Maschinen, und nicht völlig gegen sie zu denken. Sie ist eine Frage der spirituellen Kontrolle. Wer ist in "Matrix" überhaupt in der Lage, einen Menschen als Erlöser, als Auserwählten zu instaurieren? Die "reinrassige" Menschheit aus Zion? Oder braucht man nicht doch ein humanoid aufgetanktes Mischwesen, eine Supermaschine, die (womöglich auch vom Erlöser) erlöst? Ist Neo also ein Gladiator oder eher ein Upgrade-Terminator?

Es lebe die Revolution der Nano-Theologie!

Mit der Cyberfigur eines Upgrade-Terminator ist auch die tranzendentale Kritik am System der Matrix-Mythologie verbunden: Es geht um die zeitgemäße cybermarxistische Formel für die Schnittstelle Mensch-Maschine, um die gleichzeitige "Maschinisierung des Menschen" und "Vermenschlichung des Maschinellen". Ein ebenso romantischer, technologischer und sozialer Topos, zugleich der Startpunkt der Ermöglichung und der Verhinderung der Befreiung.

Es geht darum, im totalen, systemisch allgegenwärtigen Netz der Matrix eine entkoppelte Position zu definieren. Eine Rückführung zu leisten, auf eine eigene Station, ein Labor, einen Ort, der selbst im höheren medialen Sinn, als eine unangreifbare Dimension funktioniert und doch dem System wirksame Impulse vermitteln kann. Man darf sich diese Bastion aber nicht als einen externen archimedischen Fixpunkt eines eingrenzbaren euklidischen Handlungsraums vorstellen. Auch nicht, wie die traditionellen Science-Fiction-Autoren, als eine Position im techniklosen und computerfreien Reich des nackten Wirklichen, das mit der maschinengestützten Programmierung virtueller Räume nichts zu tun hätte. Vielmehr handelt sich um einen digital reformulierten Begriff der Revolution im Netz.

Und diese Revolution hat materielle, digitale und virtuelle Dimensionen, die miteinander kovariant sind: Es handelt sich um eine bewegliche Bastion der hocheffektiv beschleunigten Vernetzung, eine Nano-Verschwörung, an der sämtliche anderen widrigen Phänomene, Gegner, Fremde, Agenten und Wächter wie lästige visuelle Störgeräusche abprallen oder (wie Ende Teil 1) in den allbekannten Ziffern- und Zeichenkolonnen wie digitaler Staub herabrieseln. Dies ist die neue Utopie: Mitten im Gefängnis der Simulation als abschließbare neue Gestalt aufzutreten, als eingrenzbar repräsentierbares Bild eines verdeckten Avatars, aber mit gleichermaßen humanoiden, maschinellen und informatischen Qualitäten aus den Begrenzungslinien der simulativen Darstellung und den eingeschliffenen Netzverbindungen heraustreten, um im gesamten System als ein unberechenbares, vielgestaltiges, fast allgegenwärtiges Netzwesen zu einem Hyperagenten heranzuwachsen, um die Nano-Theologie des glücklich verzögerten Netzfunkens zu vollstrecken, die dynamische Subversion der Umwege und Schleichwege des Geschicks, um im letzten, fast unmöglichen Moment Getrenntes schlagkräftig zu verknüpfen, während die "feindlichen" Energien im Umfeld gegen die neu auftauchenden Knotenpunkte und ihre Verbindungen wütend antoben, während ihr Bild der Macht und die Struktur ihrer Kontrolle bereits zu einem kraftlosen Simulakrum verblasst, und der waghalsig-akrobatische Mut des Helden in der nächsten Millisekunde den geblendeten Gegner zum Verbündeten wider Willen macht. Heiliger Jean Baudrillard, rette, sich, wer kann.

Theorie und Praxis in der Architektur der Matrix

Matrix Reloaded ist die actiongeladene, am Ende unterbrochene Brücke zum Finale Matrix Revolution. Aber auch Matrix Reloaded stellt die Frage nach der Täuschung und Wahrheit der Bilder, nach ihrer Autorenschaft, in aller Schärfe. Die Signale des Irrealen, Außergewöhnlichen und Unmöglichen, die in Teil 1 als Zeichen für die Präsenz der Matrix ausgestreut wurden, werden kontinuierlich ausgearbeitet - z.B. die Wellenbewegungen in Glasfronten von Hochhäusern, an denen schon Trinitys Hubschrauber unnatürlich fusionierte/explodierte.

Die Vampir-Komödie des sexbesessenen Lifestylisten und Super-Hacker Merowinger (Lambert Wilson) und seiner üppigen Gattin Persephone (Monica Belucci), die nach einem Funken echten Gefühls lechzt, hat eine körper- und seelenlose Kehrseite. Es zeigt sich der Preis, den man bezahlt, wenn man um den Schein weiß und sich doch in ihm einrichtet. Die Götterdämmerung des Systems kündigt sich an. Die Bodyguards, die tödlichen Albino-Zwillinge (Neil und Adrian Rayment), sind offiziell gelöschte, illegale Programme aus einer älteren Dimension der Matrix, und sie fliegen wie energetische Geisterwesen aus Final Fantasy am äußersten Rand der Matrix durch den Bildraum und schaffen den Protagonisten erhebliche Hindernisse auf dem Weg zum Schlüsselmacher (Randall Duk Kim), der das Portal zur Matrix öffnen kann. Natürlich zieht sich die High-Way-Actionszene endlos hin, vorproduziert auf dem eigens errichteten, 2,5 Kilometer langen Komplex auf der Marinebasis Alameda (Kalifornien). Ins Hirn rasende Verfolgungsjagden und Stunts, optimal in Raum und Zeit auskomponiert, als ein von allen (un-) möglichen Seiten einsehbares virtuelles Schauobjekt, das im Moment der Hauptkarambolage gottgleich angehalten wird. Und doch wird hier in der Helle des "Großen Mittags" (Nietzsche) der äußere Grenzbereich der Matrix durchquert und ausgelotet.

Die Welt einfach anzuhalten ist ein Wunsch äußerster Allmacht und Ohnmacht. Wenn Trinitys (Carrie-Anne Moss) finaler Unterstützungsangriff auf die Zentrale eines Nuklearkraftwerks, der Quelle der Matrix, sich bereits am Anfang des Films als tödlich endende Albtraumsequenz zwischen Hoffnung und Scheitern ankündigt, stellt sich sogleich die Frage nach einer freien, voraus- und zurückblickenden Willensentscheidung und dem unbewussten, augenblicksverhafteten Schicksal innerhalb der Matrix. Zur Aufklärung ihres Geheimnisses trägt "Das Orakel" bei seinem zweiten Auftritt (Gloria Foster starb während der Dreharbeiten) bei: Bestimmte unwahrscheinliche Erscheinungen weisen auf intelligente, ja personifizierte Programme hin, die sich selbständig gemacht haben und aus der Architektur der Matrix ausgebrochen seien. Die Simulation der Matrix ist keine monolithisch stabile Veranstaltung, sie enthält raumzeitlich und informatisch begrenzte Regionen von unterschiedlicher Qualität. Programme lösen sich von ihrem Hintergrund ab, gehen entweder ins Exil, um der drohenden Auslöschung zu entgehen, oder suchen nach der Quelle der gesamten Programmierung, um die etablierte Ordnung umzustürzen.

Ausgerechnet Agent Smith (Hugo Weaving) ist ein solches verselbständigtes Programm. Bereits in Teil 1 wurde die Fähigkeit Smiths demonstriert, sich (wie Camerons Terminator T 1000) durch Kontakt die Essenz anderer Wesen aufzusaugen und per Netz an immer anderen Orten in verschiedenster Gestalt zu erscheinen, um die Matrix vor unerwünschten Eindringlingen zu schützen. Nun taucht er - unvernetzt - als Exilant des Systems auf und gibt widerwillig seine angelernten menschlichen Züge preis. Er hat den Befehl, Neo zu liquidieren, missachtet. Auf seine eigene anarchische Weise ist er "autonom" geworden. Er schafft sich seinen eigenen Kosmos und klont sich selbst 99mal zum summenden Hornissenschwarm arbeitslos gewordener Agenten-Karikaturen.

So entsteht das digitale Ornament einer hochindividuell bewegten Masse, die Neo in n-fache Zweikämpfe verwickelt. Und das unglaubliche geschieht: Als rasender Derwisch teilt Neo in überschallgeschwinder Rotoscope-Bewegung Schläge und Tritte aus, die die Angriffe der Agenten zu niedlichen Bocksprüngen eines Anfängerballetts degradieren. Die übereinander purzelnden Smith-Doubles wirken wie ein verrückt vor sich hinsprudelndes Programm, wie ein Quellcode, der gerade das Laufen auf einer Fläche gelernt hat und wieder ins Krabbelstadium zurückfällt, während sich Neo mit einem Superman-Start in die dritte Dimension schnell verabschiedet, um wichtigeres als eine Schuljungenprügelei zu erledigen.

Bei seinem Vorstoß ins Zentrum der Matrix wird Neo in das Gespräch mit dem Architekten des Systems (Helmut Brakaitis) verwickelt. Im Hintergrund liefern zahllose Monitore ein unendlich vervielfachtes Bild-im-Bild, das nicht nur die gegenwärtigen, sondern auch vergangene und möglicherweise zukünftige Reaktionen Neos darstellt. Diese Situation erinnert an das Verhör durch Agent Smith vor der Monitorwand im ersten Teil. In beiden Filmen fährt der digitale Bildzoom wie zufällig auf eines der endlos iterierten Monitorbilder. Ein winziges Element im Kosmos der Simulation wird wie zufällig zur gültigen Kino-Totalen erhoben. Der Kommentar des Architekten in Matrix Reloaded verdammt die aktuelle Filmhandlung genüsslich zu einer von vielen möglichen Versionen.

Neos aktuelles Handeln sei der eingeplante Bestandteil des sechsten Durchlaufs dieses Systems. Sein Denken, seine Emotionen und seine Entscheidungen seien in allen Einzelheiten völlig vorhersehbar, ein rein routinemäßiges Vorkommnis. Das Bewusstsein des vermeintlich freien Willens, der Wahl und der Entscheidung zwischen echten Alternativen schrumpfe auf eine bloße Anomalie, die das System in den Zyklen seiner Wiederkehr mühelos absorbiere. Selbst Neos Rolle als Auserwählter, der immerhin das gesamte System umstürzen und die Herrschaft der Maschinen beseitigen wolle, habe einen Ort im System: Neo habe sich darauf zu beschränken, das Programm der Matrix abzuschalten und es für einen neuen Durchlauf wieder zu starten, um mit einer Arche von 23 ausgesuchten Mitstreitern den Kampf erneut aufzunehmen. In der Wirklichkeit oder in einer weiteren Simulation, als Wahrheit oder als Lüge?

Mitten im Befreiungsschlag meldet sich das System zurück und triumphiert mit totalitärer Arroganz. Das Pathos der Film-Action schmilzt, bewusst kalkuliert, zur x-ten Runde des metaphysischen PC-Spiels zusammen. Der kalten Macht der digital aufbereiteten Kausalität scheint auch die erhitzte Phantasie vom freien Willen und die Erfahrung personaler Liebe nicht widerstehen zu können. Das scheinbar allmächtige System brüstet sich damit, auch das vermeintlich Unvorhersehbare zu zähmen und zu kanalisieren. Der Produzenten-Titan Joel Silver hat den Cliffhanger des zweiten Filmteils als "Filmus interruptus" bezeichnet. Er muss es ja wissen. Aber wenn es ein Interruptus ist, dann der einer revolutionären Nano-Theologie.