EM 2024: Nagelsmann, Medien und die deutsche Hybris
Vor dem Spiel gegen die Schweiz: Bubis gegen Grätscher. Heute wird deutsche Mannschaft die Schweizer Nati vom Platz fegen? Gibt es mittelmeerischen Fußball?
Fußball ist keine Mathematik.
Karl-Heinz Rummenigge
Fußball ist wie Schach. Nur ohne Würfel.
Lukas Podolski
Wird Fußball eigentlich auf Rasen gespielt oder auf Papier? Wahrscheinlich auf Papier. Auf dem Papier waren nämlich die Schweizer immer stärker als die Ungarn und immer klarer Favorit auf mindestens den zweiten Platz in der Gruppe A, der deutschen Gruppe.
Heute Abend steigt nun das EM-Spiel zwischen Deutschland und der Schweiz, das zugleich das letzte Gruppenspiel ist, wie das Duell um Platz 1. Sollte es schlecht laufen für die Schweiz könnte sie noch auf den dritten Platz verdrängt werden, sie können aber auch mit einem Sieg Erster werden. Das DFB-Team ist mindestens Gruppenzweiter.
Wer möchte schon an einen Sieg der Eidgenossen glauben?
Aber wer möchte schon an einen Sieg der Eidgenossen glauben? 1954 haben die bei der WM im eigenen Land zwar Italien geschlagen, damals bereits zweimaliger Fußballweltmeister, bevor sie im Viertelfinale gegen Österreich ausgeschieden sind, mit einem 7:5 – das waren noch Zeiten!
Aber das ist schon länger her, und die Bilanz der Schweizer "Nati" gegen die Deutschen ist eindeutig: Neun Siege und acht Unentschieden gegen 36 Niederlagen. Die letzten drei Spiele hat die Schweiz aber nicht verloren: 2020 gab es in der Nationsleague zwei Unentschieden, und 2012 gewann man in Freundschaftsspiel mit 5:3; Hummels, Schürrle und Reus schossen damals die deutschen Tore; auch schon wieder eine Weile her.
Zweifel am deutschen Erfolg sind nicht wirklich gestattet
Heute wird Deutschland die Schweizer aber vom Platz fegen, oder? Oder werden die helvetischen Grätscher die deutschen Bubis früh einschüchtern und aus ihrem Flow herauskämpfen?
Zweifel am deutschen Erfolg sind nicht wirklich gestattet, erfüllen fast schon den Tatbestand der Majestätsbeleidigung gegenüber Kaiser Julian I. Der einstweilen noch ungekrönte Monarch des deutschen Fußballs darf sich im Augenblick alles herausnehmen, jedenfalls bis zur ersten Niederlage.
Darum gibt er unverhohlen gutgelaunt grinsend und nur ab und zu ein bisschen Demut heuchelnd ein Interview nach dem anderen und schimpft im Vorfeld des Schweizspiels vor allem über den Rasen im Frankfurter Waldstadion. Er möchte ja nichts gegen die eifrigen Mitarbeiter der Eintracht sagen, aber falls doch etwas schief geht ... ist der Rasen schuld!
Deutscher Geist und deutsche Hybris: Die deutschen Spieler sind bescheiden, verspielt und fröhlich, nicht nur, wenn sie von Lea Wagner für die ARD interviewt werden. Ihr Trainer, Major Tom Nagelsmann, wirkt umso verbissener - und erinnert darin zugleich auf merkwürdige Weise an das männliche Schönheitsideal dieses Sommers, den Hot Rodent Man.
Nagelsmann versucht sich in harter Ausstrahlung, er will nicht nachlassen, "die neun Punkte machen", wie er im ZDF-Interview erklärt. In seiner kaum verhüllten Härte und der etwas besser verborgenen Eiseskälte ist Nagelsmann ganz anders drauf als seine Jungs. Dass er damit Erfolg hat, möchte man Deutschland nicht wünschen.
Gibt's was Langweiligeres denn, als Deutscher für die Deutschen zu sein?
Was aber möchte man Deutschland überhaupt wünschen? In fußballerischer Hinsicht natürlich.
Innerhalb der letzten Woche konnte man sehen, dass die Betrachtung der deutschen Nationalmannschaft von Tag zu Tag politischer und politisch aufgeladener wird. Inzwischen werden schon die ersten Deutschen weggegrätscht, die nicht sofort "Schlaaaaandd!!!" brüllen, wenn sie nach ihren EM-Favoriten gefragt werden.
Doch gibt's 'was Langweiligeres denn, als Deutscher für die Deutschen zu sein? Nur offen Sympathien für andere Nationalmannschaften oder sogar gegen die Deutsche zu erklären, das gilt hierzulande schnell als Gemeinschaftsverweigerung.
Gerade mal eine Woche alt war die Europameisterschaft am Freitagabend und geht noch drei Wochen. Und doch kommt es einem schon vor, als würde sie ewig dauern.
Die Außentemperaturen werden wärmer und auch das Blut des deutschen Publikums gerät in Wallung. Gefühlt sind die Deutschen schon im Viertelfinale, die Engländer und die Dänen, wer auch immer sich "uns" in den Weg stellt, den hauen "wir" im Achtelfinale sowieso weg.
Kein "böser Mecker-Onkel"
Auch der sonst so begeisternd ätzende Ex-Nationalspieler Mehmet Scholl gibt sich in diesem Jahr als Bild-TV-Kommentator geläutert, und "will nicht der böse Mecker-Onkel sein". Er freut sich, dass zum ersten Mal seit 2012 eine deutsche Nationalmannschaft die ersten beiden Turnierspiele gewonnen hat und verteidigt ansonsten Manuel Neuer gegen Kritik: "Völlig überzogen, seine Qualitäten sind doch jetzt seit über einem Jahrzehnt unbestritten."
Ansonsten hat der Europameister von 1996 noch einen Ratschlag für den Bundestrainer: "Teambuilding sind drei Punkte, nicht irgendwo im Wald herum kraxeln oder Ausflüge machen. Es wächst etwas zusammen, wenn du zusammen gewinnst."
Kritik aus dem Ausland
Ganz so ohne Kritik, wie es die Deutschen gern hätten, verläuft die EM aber nicht. Den ausländischen Fußballfans erscheint Deutschland genau so, wie es eben ist: grundsätzlich ineffizient und überkompliziert, mit einer miserablen Verkehrsorganisation und Event-Planung.
Das ZDF berichtet davon, dass die internationale Presse die Organisation der EM heftig kritisiert.
Die renommierte New York Times schreibt: "vergessen Sie alles, was Sie über die deutsche Effektivität denken".
Der englische Independent:
Das am schlechtesten organisierte Turnier.
Karl Olaf Lund vom schwedischen TV4:
Ich bin schockiert, wie schlecht alles funktioniert.
Hinweise der Polizei gibt es nur auf Deutsch, Umleitungsschilder an Bahnhöfen oft genug auch. Vor allem die Briten berichten von chaotischen Szenen im Ruhrgebiet auf dem Weg zum Schalker Stadion: keine Alternativen, keine Ausweichmöglichkeiten, Fans, die extrem frustriert sind. Andreas Scheer von der UEFA sagt: "Ich glaube, wenn wir auf Schalke verzichtet hätten, hätten alle uns den Hals umgedreht."
Dass die UEFA in Sachen EM nicht besser ist als die FIFA, sondern eine Organisation, bei der Beobachtern mafiose Zustände in den Sinn kommen, zeigt eine sehr gute Phoenix-Dokumentation, die heute um 16 Uhr wiederholt wird, und auf die wir hier noch zu sprechen kommen.
Wird De Bruyne zum Messi dieses Turniers?
Es gibt bisher noch keine richtige Überraschungsmannschaft dieser Europameisterschaft; nicht so etwas wie die Griechen, die genau vor 20 Jahren mit "Rehakles" Europameister wurden. Oder wie die Türken als EM-Dritte von 2008. Die Türken sind in diesem Jahr keine Überraschungsmannschaft. Vielleicht noch die Rumänen.
Wie stark Portugal ist, das wird man noch abwarten müssen, denn deren Gruppe ist offensichtlich nicht so richtig super. Die stärksten Gruppen sind, wie im Vorfeld zu erwarten, Gruppe B und Gruppe D.
Vielleicht wirkt auf Belgien ja die unerwartete Auftaktniederlage genauso wie auf Argentinien 2022 die ihre. Und der ewige Geheimfavorit erringt einen Titel, De Bruyne wird zum Messi dieses Turniers, der doch noch im Herbst der Karriere seinen Titel bekommt
Die Wahrheit liegt nie nur auf dem Platz
Zum Highlight des an diesem Samstag abgeschlossenen zweite Gruppenspieltag wurde der Klassiker Spanien-Italien (1:0). Eine Materialschlacht, geprägt vom Anrennen der überlegenen Spanier.
Die Spanier hatten den geschmeidigsten Flow, die größte Selbstverständlichkeit im Agieren, ein unbezwingbares, variables Angriffsspiel, nie gebrochene Offensivlust, aber die Italiener hielten gut dagegen.
Es war ein Spiel vom anderen Stern: Wie Halbgötter wandelten diese beiden Mannschaften unter den Menschen.
All das war den zentraleuropäischen Mannschaften meilenweit überlegen in Souveränität. Eleganz und Schönheit. Auch Italien begreift Fußball nicht nur als Effizienzsport. Und man fragte sich, wie gelegentlich auch bei Franzosen und Portugiesen, ob es nicht doch so etwas wie mittelmeerischen Fußball gibt? Gelassen, relaxed, spielerisch, nicht verschwitzt, sondern cool.
Erfüllt von olympischer Heiterkeit, von einer Vergangenheit, die den Goten (den Deutschen), den Hunnen (Ungarn) und den Normannen (Briten) ebenso wiederstanden hat, wie den Wikingern (Dänen) und den Osmanen, erfüllt vom Wissen, dass die Wahrheit nie nur auf dem Platz liegt, sondern im Drumherum, dass der listenreiche Odysseus ein Spielführer war, der tapfere Äneas, der zornige Achill, und dass man nur dann gewinnen kann, wenn man mit den Göttern im Bund ist.
Die Engländer "bekommen es nicht so richtig auf die Platte
Christoph Kramer war wieder einmal der beste Fußballerklärer: "Die ersten 10 Minuten sind dafür entscheidend, wie ein Spiel läuft. Wenn zwei ballbesitzende Mannschaften gegeneinander spielen, kommt es darauf an, wie man in das Spiel hinein kommt."
Kramer, mit Schweinsteiger der beste TV-Experte, hat zwar nur zwölf Länderspiele, hat aber trotzdem auch schon vor dem ersten Spiel der Engländer gewusst, was mit denen los ist:
"Sie bekommen es nicht so richtig auf die Platte. Sie spielen keinen guten Fußball, ich erkenne nicht, was sie vorhaben. Bei Deutschland, bei Spanien, bei Italien, auch bei den Holländern erkennt man das. Die Engländer spielen dagegen drauflos, aber ich sehe es nicht so richtig, dass das was wird."
"Poldi kriegt Scheine"
Die alte Garde der deutschen Nationalspieler, besonders die Weltmeister von 2014, jedenfalls einige von ihnen sind sowieso bei dieser EM im Fernsehen präsenter als die gut abgeschirmten DFB-Kicker. Außer als Kommentatoren – Ballack und Matthäus bei Magenta – sieht man sie auch sehr oft als Werbeträger in den Pausenspots.
Die mit Abstand begehrteste Werbefigur des aktuellen deutschen Fernsehens ist ebenfalls nicht etwa ein aktueller Nationalspieler, sondern es sind Weltmeister von 2014: Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski, Poldi und Schweini, eigentlich nur die beiden. Zusammen machen sie Werbung für PayPal.
Die beste Fußballer-Werbung ist eine zweite, in der nur Lukas Podolski für einen Onlineshop wirbt. Tatsächlich witzig, und ungewöhnlich in der Selbstironisierung Podolskis wie des Produkts und seiner Kunden. "Poldi scrollt", "Poldi kriegt Scheine", "Poldi sagt, wies geht", "Poldi sagt gar nix", usw.
Mal schauen, wer in 20 Jahren den Bildschirm erobert – außer Thomas Müller natürlich.