EM 2024: Vorsicht vor Emotions-Gedusel

Das "Wunder von Bern", 1954, vor siebzig Jahren. Erst jubelte die ungarische Mannschaft, danach ganz Deutschland. Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / CC BY-SA 4.0

Das verflixte zweite Spiel: Deutschland ist wieder "Schland" geworden. Gibt es heute ein Wunder von Stuttgart oder siegt die Statistik? Einwurf von der Seite; EM Blog.

Wenn i des Wort Motivation hör, wird ma schlecht.

Ernst Happel (1925-1992)

Wir haben drei Punkte geholt, dürfen uns freuen. Aber dann geht es natürlich im nächsten Spiel weiter. Rückschläge kommen schneller als man denkt.

Thomas Müller

Absolut haben wir Spieler, die auch wissen, wo das Tor steht.

TV-Experte Lothar Matthäus

Die Esoterik und das Gefühlige, der Zeitgeist ist in dieser deutschen Nationalmannschaft jederzeit an der Oberfläche greifbar.

Etwa die Frage, die ARD-Berichterstatterin Lea Wagner Julian Nagelsmann stellte: Nicht etwa irgendetwas zur Taktik, sondern was seine "Überschrift" für dieses Spiel sei. Naja. Dieses ganze Überschriftengewürge ist Teil des medialen Spiels, das Nagelsmann geschickt mit den Medien spielt und sie mit ihm. Irgendwann verrät er es dann wie eine Geheimformel: "Der zweite Schritt wirkt".

Bastian Schweinsteiger konnte dann direkt danach erkennbar überhaupt nichts mit diesen Überschriften anfangen. Entwaffnend auch kurz darauf seine Gegenfrage an Esther Sedlarczek: "Was heißt denn 'matchday minus eins'?"

Sofort war die Luft raus aus dem ganzen Berichterstattungs-Geblubber, mit dem nach nur einem 5:1 gegen eine zweitklassige Mannschaft bereits Nagelsmann und die Seinen gleich wieder heiliggesprochen werden.

Schweinsteiger ist der allerbeste in seiner Bodenständigkeit und der entlarvenden Lakonie, mit der er das ganze Gefasel der Fernseh-Profis alt aussehen lässt: "Ja, ich habe halt die Behandlung gemacht, versucht was zu essen; da gibt's nichts Besonderes."

Schweinsteiger, ein Mensch des 20. Jahrhunderts

Gegenüber dem ganzen Medien- und Emotionsballaballa des digitalen Zeitalters wirkt Bastian Schweinsteiger wie ein Mensch des 20. Jahrhunderts, bei dem Reden noch den Sinn hatte, Inhalte zu transportieren, und nicht mitzuteilen, "wie man sich gerade fühlt".

So war es auch, als "Schweini" dann erst über die deutsche Mannschaft reden musste, später dann über die Portugiesen: "Wenn Toni den Ball hat, dann ist er wie ein Quarterback und verteilt die Bälle", erläuterte er treffend die praktische Rolle des Taktgebers und Hoffnungsträgers der deutschen Mannschaft.

Auch Christoph Kramer hatte das schon tags zuvor auf seine Art getan: "Jeder Pass ist ein Zeichen. Er gibt mit jedem Pass eine Message und wenn er viele Querpässe spielt, ist es richtig. Toni Kroos verändert alles."

Es stimmt schon, dass Toni Kroos' Qualität, immer gleich zu spielen und cool zu bleiben, eine extrem unterschätzte Fähigkeit ist.

"Du bist zu langsam. Dein Spielstil ist veraltet"

Dazu passt der aktuelle Kroos-Werbespot für das Massen-Deo-"Rexona", der zurzeit vor jedem Spiel läuft. Geschickt integriert er hier bereits die mögliche Kritik und bastelt daraus eine PR-Message: "Ich habe es meine ganze Karriere gehört: Du bist zu langsam. Dein Spielstil ist veraltet. In Wahrheit ist die einzige Stimme, die zählt, meine eigene."

Trotzdem kommt die plötzliche Heiligsprechung des Toni "Querpass Toni" Kroos etwas plötzlich. Erinnern wir uns noch, wie bereits vor sechs Jahren der fußballbegeisterte Schriftsteller Albert Ostermaier aus "einem Toni Kroos, der längst vorbei ist" den Hauptverantwortlichen für das WM-Aus in der Vorrunde machte?

"Wir hatten immer tolle Gefühle"

Julian Nagelsmann hat den Konkurrenzkampf aus dem DFB-Team verbannt. Stattdessen eindeutige Ansagen, "klare Startelf" und "jeder kennt seine Rolle". Ob das lange gut geht? Das Prinzip "Challenge" (Nagelsmann) gilt auch für den Bundestrainer selbst.

Zur latenten Torwartdebatte der Deutschen, die heute wieder akuter werden wird, wäre noch anzumerken, dass beim letzten Sommermärchen die Nummer zwei an die Stelle der Nummer eins gerückt ist, Lehmann an die Stelle von Kahn.

Noch einmal Schweinsteiger, der auch hierzu eine klare Meinung hat: "Wenn der Manu was anspricht, dann hören alle zu."

Wem auch jeder zuhört, ist "Radio" Thomas Müller. Der sah sich bereits zu Wochenbeginn genötigt, auf die Euphorie-Schaumbremse zu drücken: "Es geht nicht ums Gefühl, es geht um die Punkte", sagte der Bayern-Profi nun zur allgemeinen Himmel-hoch-Euphorie nach dem 5:1 gegen Schottland.

"Wir hatten immer tolle Gefühle und haben dann gegen Ghana 2:2 gespielt und 2010 gegen Serbien verloren", erinnerte er die deutsche Fußballöffentlichkeit an seine eigenen Turniere: Bei der WM 2010 in Südafrika folgte auf ein 4:0 gegen Australien ein 0:1 gegen Serbien, und es musste um das Weiterkommen gezittert werden. 2014 in Brasilien folgte auf das 4:0 gegen Portugal ein 2:2 gegen Ghana.

"Dieses Emotions-Gedusel liest sich immer ganz nett, aber es trägt dich keiner durchs Turnier. Du musst die Spiele gewinnen. Dementsprechend sind die Punkte entscheidend", sagte Müller der dpa.

Deutschland droht der Rückfall in alte Laster

Deutschland ist wieder Schland geworden; die Rückspiegel-Präservative in Schwarz-Rot-Gelb sind herausgeholt, in Zehlendorf hängen sie Fahnen über den Balkon.

Im selben Moment droht der Rückfall in die alten Laster der Kritikunfähigkeit, der Selbstüberschätzung und des Schönredens.

Zugleich fürchten die deutschen Fans schon im Vorfeld den niederländischen Schiedsrichter. Das deutsche Team ist unter seiner Leitung noch sieglos, er begleitete – allerdings mit souveräner Leistung, so der Kicker – das Aus gegen England bei der EM 2021 und das 1:1 gegen Spanien bei der WM 2022.

Abzuwarten ist, welche Rolle der Videobeweis heute spielen wird? Gerade in den letzten Tagen hat der VAR einen erstaunlichen und verhängnisvollen Einfluss gehabt: Zwei Tore der Belgier wurden aberkannt, eines der Türken, eines der Portugiesen. In allen Fällen konnte man streiten.

Vor Einführung des Video-Schiedsrichters hätte man alle diese Tore als gültig gewertet. Die Maschine ist natürlich klüger als der Mensch und hat in diesem Sinne recht. Die Frage ist nur, warum sich der Mensch der Maschine unterordnen muss, indem das zählen darf, was dem menschlichen Auge verborgen bleibt?

"Unzuverlässig, unsolide, unseriös": Die Ungarn

Die größte Unbekannte sind aber die Fähigkeiten der Ungarn. Grundsätzlich sind die Ungarn die Holländer des ehemaligen Ostblocks: "Unzuverlässig, unsolide, unseriös, ja kapriziös, alle dreißig bis vierzig Jahre für kurze Zeit genial, dazwischen mal so, mal so", schrieb der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy über den Fußball seiner Heimat. In jedem Fall können sie ein unangenehmer Gegner sein.

"Wir sind nicht hier, um Kinderfußball zu spielen", zürnte der 23-jährige Dominik Szoboszlai, Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft nach der unerwarteten Niederlage gegen die Schweiz.

Jetzt sind die Ungarn unter Druck, das Spiel gegen Deutschland eine Art Endspiel, bei dem es gilt mindestens nicht zu verlieren. Durch einen Sieg über die Deutschen könnten die Ungarn in der Gruppe wieder alles offen gestalten, und umgekehrt Deutschland in ein Tal der Tränen stürzen.