Fußball-EM: Massen schauen einander an

Warten auf die Massen, die kommen: Fanmeile in Berlin, einen Tag vor Beginn der EM. Bild: Mo Photography Berlin /Shutterstock.com

Die Breite der Spitze, grundgesetzwidrige Zusicherungen bei den EM-Kosten und Kylian Mbappé wird politisch. Einwurf von der Seite, EM-Blog.

Wenn man sich die Qualität in der Breite als auch in der Spitze anschaut, gibt es gibt kein anderes Land, das mit Frankreich mithalten kann.

Ralf Rangnick

Die Leute sagen, man solle Fußball und Politik nicht vermischen, aber wir sprechen hier über eine Situation, die wirklich wichtig ist, wichtiger als das Spiel. Die Situation in unserem Land ist katastrophal und wir müssen handeln.

Kylian Mbappé

Die Schotten sind keine Japaner. Und die Engländer sind keine Übermannschaft. Das sind die ersten Erkenntnisse aus dem Auftakt der EM 2024.

"Die Schotten sind unfassbar gut", hatte Julian Nagelsmann die Welt vorher noch wissen lassen. Hinterher, nachdem für alle überraschend deutlichen 5:1, wurde der Gegner dann kleingeredet.

Schottenrock und Lederhose

Schon im Vorfeld des Spiels waren die nationalen Klischees der Länderdarstellung einmal mehr unterste Niveau-Schublade: Man belächelt die Schotten dafür, dass sie irgendwie kurios sind. Also dauerbesoffen, Röcke tragend, am besten noch mit Dudelsack.

Aber wie würden wir Deutschen es eigentlich finden, wenn, sagen wir, in Japan deutsche Fans gezeigt werden und dann pickt man sich genau die drei Idioten raus, die mit Lederhosen herumlaufen?

Bevor im Eröffnungsspiel die beiden ältesten Teams dieser Euro gegeneinander antraten, gab es noch die Eröffnungsperformance. Glücklicherweise sehr kurz und ohne Reden. Stattdessen sah man eine von beliebiger Musik begleitete beliebige 08/15-Choreo, die in den Nahaufnahmen vor allem chaotisch und peinlich aussah, von weit weg irgendwie wie Nordkorea: Menschen als Ornament.

Man mochte eigentlich nur, dass es vorbei war.

Weltuntergang auf der Fanmeile

Im zur Fanmeile umdekorierten Berlin gingen manche trotzdem am Freitagabend zu Alba um die dritte Niederlage der Basketballer gegen München zu verfolgen. Oder sie motzen einfach über die tatsächlich absurden, bis zu drei Monate dauernden Sperrungen und Umbaumaßnahmen im Vor- und Nachgang der EM.

Jens Spahn etwa, der alte Populist und in die Jahre gekommene Nachwuchspolitiker, meldete sich mit der gut berechneten Äußerung zu Wort, die EM-Fanmeile "nervt" "die Leute" und gefährde "die Arbeitsfähigkeit des Parlaments".

Der Berliner Senat müsse künftig für solche Veranstaltungen einen anderen Ort wählen, solche Großveranstaltungen könnten auf dem Tempelhofer Feld stattfinden.

Tatsächlich wirft die riesige, nicht nur provisorische, sondern fest verbaute Fanmeile am Brandenburger Tor Fragen auf: Ausgelegt für bis zu 100.000 Menschen, umfasst sie 24.000 Quadratmeter Kunstrasen in einem satten Grün.

Auf der Hand liegt hier die Kritik an den ökologischen Folgen: Die Berliner Zeitung berichtete von Kritik durch Plastik-Experten. Denn wie passt es zusammen, immer von Nachhaltigkeit zu reden, jeden Joghurtbecher und jedes Supermarkttütchen zu einer Bedrohung der Weltmeere zu erklären, dann aber eine derartige Mikroplastikschleuder in den Boden zu tackern und damit die Böden des Tiergartens und das Grundwasser zu kontaminieren?

Wer zahlt das alles?

Die zweite Frage sind die Kosten: Allein das Kunstrasenmaterial kostet 1,2 Millionen Euro. Die beiden Fanmeilen am Brandenburger Tor und vor dem Reichstag kosten Berlin insgesamt rund 24 Millionen Euro. Wer zahlt die eigentlich?

Laut Tagesspiegel vom 7. Juni kassiert die Uefa für die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland 1,7 Milliarden Euro. Risiken und Kosten tragen komplett die Steuerzahler. Seit der ersten Prognose von 2017 haben sich die Kosten fast verdoppelt.

Das berichtet das Portal Frag den Staat und spricht von "grundgesetzwidrigen Zusicherungen". Dem Rechercheteam Correctiv erklärte der Berliner Senat auf Anfrage, dass in die Kalkulation 2017 "die Auswirkungen der Corona-Pandemie und der energie- bzw. inflationsbedingten Preissteigerungen" infolge des Ukrainekrieges noch nicht absehbar gewesen seien.

Innensenatorin Iris Spranger (SPD) nannte zudem noch die Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen als Grund.

Die Uefa übernimmt laut Senatsverwaltung die Kosten für die technische Ausstattung der Fanzonen sowie für Teile der Videoleinwände im mittleren einstelligen Millionen-Bereich.

Resonanzflächen für Gefühle

"Berlin ist heiß, die Fanmeile ist heiß", sagen die Kommentatoren – man kann es schon am ersten Tag nicht mehr hören. Oder auch diesen Satz: "Die Frage hat die Nation in den letzten Wochen bewegt: Gibt es ein neues Sommermärchen?"

Was ist nun aber eigentlich eine "Live-Schalte auf die Fanmeile"? Was da passiert, ist, dass das Publikum zu Hause das Publikum woanders ansieht und sich gegenseitig bestätigt fühlt. Massen schauen einander an.

Eine Art von Resonanzfläche wird vom Fernsehen gebaut. Es geht hier nicht darum, irgendwelche Informationen zu bekommen, sondern sich in bestimmte Gefühle hineinzunudeln.

"Du bist Masse"

Wir kennen diesen Moment: Die Kamera schweift durch ein volles Fußballstadion vor dem Spiel in Erwartung des Kommenden oder sogar während des Spiels. Sie zeigt zuerst die Massen, die Farben der Fans, dann aber Zuschauer in Nahaufnahme.

Sie pickt sich schöne Menschen oder Paare oder Kinder oder kurios gekleidete Fans heraus, und dann gibt es diesen Moment, in dem die Herausgepickten sich selbst auf der großen Leinwand erkennen.

Den Moment der Erkenntnis, der ihnen sagt, dass jetzt und hier in diesem Augenblick die ganze Welt sie sieht. Fame für ein, zwei, vielleicht auch fünf oder zehn Sekunden. Hoffentlich läuft der Rekorder zu Hause. Sie lachen, winken. Warum?

Was geschieht da? Der Einzelne wird aus der Masse herausgehoben und zugleich als Teil von ihr erkannt und verherrlicht. Der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis sagt uns eigentlich nicht: "Du bist etwas Besonderes, etwas Einmaliges." Sondern er sagt uns: "Du bist wie alle."

In "Masse und Macht" beschrieb Elias Canetti das Stadion:

Erregung ist ihnen versprochen worden – aber unter einer ganz entscheidenden Bedingung : Die Masse muß sich nach innen entladen. Die Reihen sind übereinander angelegt, damit alle sehen, was unten vorgeht. Aber das hat zur Folge, daß die Masse sich selber gegenüber sitzt. Jeder hat tausend Menschen und Köpfe vor sich.

Solange er da ist, sind sie alle da. Was ihn in Erregung versetzt, erregt auch sie, und er sieht es. Sie sitzen in einiger Entfernung von ihm ; die Einzelheiten, die sie sonst unterscheiden und zu Individuen machen, verwischen sich. Sie werden sich alle sehr ähnlich, sie benehmen sich ähnlich. Er bemerkt an ihnen nur, was ihn jetzt selber erfüllt. Ihre sichtbare Erregung steigert die seine.

Die Masse, die sich selber so zur Schau stellt, ist nirgends unterbrochen. Der Ring, den sie bildet, ist geschlossen. Es entkommt ihr nichts. Der Ring aus faszinierten Gesichtern übereinander hat etwas sonderbar Homogenes. Er umfaßt und enthält alles, was unten vor sich geht. Keiner von allen läßt es los, keiner will weg. Jede Lücke in diesem Ring könnte an den Zerfall, das spätere Auseinandergehen gemahnen.

Aber es ist keine da: diese Masse ist nach außen und in sich, also auf zwiefache Weise geschlossen.

Elias Canetti, Masse und Macht

Die Moderatoren

Zur EM gehören die EM-Kommentatoren. Magenta TV ist ein neuer medialer Player. Im Studio steht ein ausgenudelter Johannes B. Kerner, aber der zweite Magenta-Kanal bietet einen interessanten Taktik-Kommentar und immer wieder Bild-Totalen vom Spielfeld, was einen ziemlich interessanten Einblick bietet.

Per Mertesacker und Chris Kramer bilden im ZDF ein gewohnt ein gutes Team. Nachdem das DFB-Team die letzten drei Auftaktspiele nicht gewonnen hatte, traute sich ZDF-Experte Christoph Kramer immerhin vor dem Schottenspiel: "Wir brauchen unbedingt diesen Auftaktsieg für Glaube, für Aura."

Die mediengewandte Laura Freigang sprach im ZDF-Hauptstadtstudio, zu dem aus unerfindlichen Gründen hin- und hergeschaltet wird, von der "Magie in der Luft" und sagt wie gewohnt nichts Falsches.

Katrin Müller-Hohenstein saß neben ihr und man dachte nicht über das nach, was sie sagte, weil sich alle nur mit ihren sonderbaren weißen Simpsons-Socken beschäftigten. Der ZDF-Social-Media-Account lief dermaßen über, dass Müller-Hohenstein ganz am Ende der Übertragung dann darauf eingehen musste.

Man fragte sich bei dieser Art der Berichterstattung natürlich, warum jetzt unbedingt zwei Frauen über die Herrenmannschaft reden müssen, statt dass man sich in Mainz vielleicht mal noch einen Experten für die Schotten sucht. Man stelle sich das mal umgekehrt vor: Aktive Nationalspieler, etwa Josuah Kimmich oder Ilkay Gündogan, reden über die Frauen.

Aber Laura Freigang sagt wie erwähnt nichts Falsches, und sogar oft etwas völlig Richtiges: "Warum Euphorie bremsen? Das macht Spaß! Wenn die Euphorie da ist, kann sie ein Team tragen und zum 12. Mann werden."

Vor allem Kramer aber hat die Qualität, in klarer Sprache gut und kritisch zu analysieren: "Es bleibt ein einsames Geheimnis des schottischen Trainers, warum sie uns so viel Freiraum geben und insbesondere auch Toni Kroos gewähren lassen. Sie haben es uns heute sehr leicht gemacht. Die Herangehensweise der Schotten ist eine Katastrophe."

Es werde bei dieser Europameisterschaft darauf ankommen, "wie uns der Gegner empfängt".

Favoritensiege allerorten

Das nächste Spiel der deutschen Gruppe A ging überraschend aus. Denn man hatte gedacht, dass es ein ausgeglichenes Spiel sein würde; tatsächlich war die Schweiz deutlich besser als die Ungarn, obwohl die doch zuvor über eineinhalb Jahre nicht verloren hatten. Jetzt steht Ungarn gegen Deutschland unter Druck. Das macht das Spiel erst recht spannend.

An den ersten Tagen spielten die Spanier überraschend gut und schlugen Kroatien mit Zauberfußball aus Tempoverlagerungen, Achsenverschiebungen und steilen Pässen klar mit 3:0.

Am Abend begeisterten die Italiener erstmal mit schicken Anzügen und schicken Jerseys und dann damit, wie sie das unerklärliche 0:1 nach 30 Sekunden in einer Viertelstunde in ein 2:1 ummünzten; schließlich taten sie genau das, was nötig war, was sie machen mussten, aber kein bisschen mehr. Das Flair Italiens! Wozu 3:1 oder 4:1 gegen die Albaner gewinnen? 2:1 ist auch ein Sieg. Wir ersparen uns jetzt alle in der Konstellation Italien-Albanien naheliegenden Flüchtlingswitze.

Aber wenn es stimmt, dass die Hälfte des Publikums im Westfalenstadion Albaner waren, dann waren etwa 1,5 Prozent der albanischen Bevölkerung im Stadion.

Eine vollkommen einseitige und auch ungerechte Aufmerksamkeit gibt es für England. Irgendwie müssen die Deutschen mit den Engländern sympathisieren, nicht mit den Franzosen oder den Spanien. Nur, weil Kane in der Bundesliga spielt?

Kein osteuropäisches Team hat am ersten Wochenende gewonnen, auch wenn die Engländer nur mit Glück das 1:0 nach Hause brachten.

Nur der Halbfavorit Dänemark hatte gegen Slowenien Schwäche gezeigt.

Ansonsten Favoritensiege allerorten.

Politischer Mbappé

Bellingham hin oder her, noch heißt der größte Held des gegenwärtigen Weltfußballs Kylian Mbappé. Vor zwei Jahren schon hatte der Guardian auf ganz großartige Weise beschrieben, wie dieser Superstar durch eine Mischung aus Talent, PR und Humanismus "gemacht" wurde.

Es sind eben nicht nur Agenten und PR-Maschine, sondern auch "Wärme und gute Beratung" (Guardian), die die öffentliche Persona des Franzosen markieren:

Für ihn ist das alles ein Spiel, für das er von Anfang an die Regeln festgelegt hat. Auch in dieser Hinsicht ist er ein ganz besonderer Spieler.

Heute berichtet der Guardian, dass sich Mbappé auch politisch klar positioniert hat: Im Vorfeld der Parlamentswahlen Ende Juni fordert der Fußballspieler seine Landsleute auf, bei den Wahlen "gegen die wachsenden Extreme" zu stimmen.

"Ich möchte stolz darauf sein, Frankreich zu repräsentieren," sagte der Star wenige Stunden vor dem ersten Spiel des EM-Favoriten am Abend gegen Österreich, und sprach ungewohnt ausführlich über Politisches und offen über seine Befürchtungen.

Die gesellschaftliche Lage in Frankreich sei "katastrophal". So etwas wie derzeit habe es "noch nie gegeben", so Mbappé:

Und deshalb möchte ich mich an das gesamte französische Volk wenden, aber auch an die Jugend. Wir sind eine Generation, die etwas bewirken kann. Wir sehen, dass die Extremen an die Tür der Macht klopfen, und wir haben die Möglichkeit, die Zukunft unseres Landes zu gestalten.

Am Samstag erst hatte der französische Fußballverband zu "Neutralität" aufgerufen, und dazu, die Nationalmannschaft nicht zu politisieren. Die Spieler der "Bleus" entschieden anders: Stürmer Marcus Thuram forderte die Menschen auf, "täglich zu kämpfen", um zu verhindern, dass die "Front National"-Nachfolgepartei RN an die Macht kommt, und auch Mbappé ging direkt darauf ein: "Ich teile seine Meinung. Ich teile dieselbe Meinung, als ich über Vielfalt, Toleranz und Respekt sprach", sagte Mbappé. "Es gibt eine Situation, die noch wichtiger ist als das Spiel. Ich möchte kein Land repräsentieren, das nicht meinen Werten oder unseren Werten entspricht."

Rangnick im Kicker

Der aus Deutschland stammende österreichische Nationaltrainer Ralf Rangnick hat dem Kicker ein Interview gegeben, das nicht nur für Fußballfans aufschlussreich ist.

Konkret werde es darum gehen, "dass wir richtig mutig und konzentiert spielen und auch von unseren Stärken überzeugt sind", erklärte der 65-Jährige. "In erster Linie wird es darauf ankommen, welche Leistung wir bringen und nicht daraufzusetzen, dass Frankreich vielleicht ein bisschen weniger gut spielt, als sie es normalerweise können."

Heute trifft Österreich auf seinen ersten EM-Gegner Frankreich.

Zeitmaschine

Kurzer Ausflug mit der Zeitmaschine: Genau zehn Jahre ist es her, da gewann die deutsche Nationalmannschaft zum Auftakt der WM in Brasilien ihr Eröffnungsspiel gegen Portugal mit 4:0. Es leitete ein Turnier ein, das mit dem vierten deutschen WM-Titel enden sollte. Und dem Sündenfall des beschämenden 7:1, der in den folgenden Turnieren bestraft wurde.

Drei Tage vorher, am 13.06.2014 hatten die Niederlande in der Wiederauflage des WM-Finales von 2010 den amtierenden Weltmeister Spanien mit 5:1 besiegt - nach einem 0:1-Rückstand durch Elfmeter (Schütze: Xabi Alonso).

Genau vor 38 Jahren, am 18.06.1986, hatte Spanien seinen bis heute höchsten WM-Sieg erzielt: 5:1 im Achtelfinale der WM in Mexiko gegen die favorisierte Mannschaft aus Dänemark - nach 0:1-Rückstand durch Elfmeter (Schütze: Jesper Olsen). Emilio Butragenjo schoß vier Tore in diesem Spiel, das fünfte spanische Andoni Goikoetxea ein Tor. Wer damals zugeschaut hat, erinnert sich.

Tabellenrechner

Wer Zeit und Lust dafür hat, kann seine persönlichen Tipps gleich durch die KI jagen, um sich die entsprechenden Achtelfinal-Paarungen ausrechnen zu lassen.

Bei Sport.de gibt es auch die Möglichkeit, die Startelf statistisch gegenzuchecken.