ESC: Ukraine in der Zwickmühle
Das Land muss entweder einer russischen Rollstuhlfahrerin die Teilnahme verweigern oder von seinem Prinzip abweichen, dass Personen, die nach 2014 die Krim besuchten, nicht einreisen dürfen
Der European Song Contest (ESC) ist ein jährliches Schlagerspektakel, für das sich in Westeuropa vor allem Homosexuelle begeistern und das in Osteuropa mehr einem sportlichen Wettbewerb gleicht, bei dem nationale Gefühle und Befindlichkeiten zum Ausdruck kommen (vgl. Der ESC als politisches Stimmungsbarometer).
Das zeigte sich im letzten Jahr besonders deutlich, als die von der Ukraine entsandte Sängerin Susana Dschamaladinowa alias "Jamala" den Wettbewerb in der schwedischen Hauptstadt Stockholm gewann: Die in Kirgisistan aufgewachsene Tochter einer Armenierin und eines Krimtataren sang dort mit "1944" ein Lied mit einem krimtatarischen Refrain, das von der Vertreibung dieser Volksgruppe durch den Georgier Josef Stalin von der Halbinsel handelt, auf die Hitler die Südtiroler umsiedeln wollte.
Boykottdebatte
Ruslan Balbek, der (ebenfalls krimtatarische) stellvertretende Ministerpräsident der Regionalregierung der Krim, kritisierte das als Missbrauch des Schicksals seiner Volksgruppe und als "politisches Spektakel", mit dem Kiew versuche, den Fernsehzuschauern in anderen Ländern mit dem Rückgriff auf eine 72 Jahre alte Tragödie eine angebliche aktuelle Verfolgung von Krimtataren zu suggerieren (vgl. Umfrage: Ukrainer glauben nicht an Rückgabe der Krim).
Die russische Empörung über "1944" wurde noch dadurch gesteigert, dass in der Zuschauerwertung der russische Beitrag von Sergej Lasarew vorne lag, aber von der Jury so niedrig bewertet wurde, dass die Ukrainerin siegte. In Russland gab es deshalb sogar Stimmen, die 2017 einen Boykott des Wettbewerbs forderten, der regelmäßig im Land des jeweiligen Siegers aus dem letzten Jahr stattfindet. Das hätte jedoch dem Interesse entgegengestanden, die Fußball-Weltmeisterschaft 2018, die Russland ausrichtet, möglichst von Boykotten anderer Länder freizuhalten.
Ukrainischer Geheimdienst prüft
Am Sonntag entschied sich eine Jury des russischen ARD-Äquivalents Perwy Kanal dann für eine russische Teilnehmerin, die die Ukraine vor potenziell größere Probleme stellt als ein russischer Boykott: Julia Samoilowa, eine 27-jährige Casting-Show-Berühmtheit, die wegen spinaler Muskelatrophie seit ihrer Kindheit an den Rollstuhl gefesselt ist. In den vergangenen drei Jahren sang die Stimme aus der westsibirischen Öl- und Gasrepublik Komi nicht nur bei den Paralympischen Spielen 2014 in Sotschi, sondern auch in der Stadt Kerch, die auf der Krim liegt.
Die trat 2014 nach einem Machtwechsel in Kiew und einer Volksabstimmung aus der Ukraine aus und schloss sich der russischen Föderation an, was die aktuelle ukrainische Staatsführung nicht hinnehmen will. Sie hat deshalb eine Reihe von Sanktionen verhängt, zu denen mehrjährigen Einreisesperren für darstellende Künstler gehören, die nach dem Zugehörigkeitswechsel Auftrittsangebote auf der Halbinsel wahrnahmen. Aus Sicht der ukrainischen Regierung haben sich solche Personen nämlich des illegalen Grenzübertritts schuldig gemacht.
Verhängt die Ukraine deshalb auch gegen Samoilowa eine Einreisesperre, setzt sie sich nicht nur dem Vorwurf aus, unfair musikalische Konkurrenz fernzuhalten: Sie muss auch mit der Mutmaßung umgehen, dass sie einen politischen Streit auf dem Rücken einer Schwerbehinderten austrägt - ohne humanitäre Rücksichtnahme. Bislang hat man der ukrainischen Geheimdienstsprecherin Jelena Gitlanskaja zufolge noch keine Entscheidung gefällt, sondern lässt den SBU "prüfen", ob Samoilowa ihr englisch betextetes Lied "Flame is Burning" in zwei Monaten im International Exhibition Centre (IEC) in Kiew vortragen darf.
Risiko politisch motivierter Buhrufe geringer
Kremlsprecher Dmitri Peskow nach kann die Entscheidung für einen Sänger oder einer Sängerin, der oder die auf der Krim war, alleine schon deshalb "keine politische Provokation" sein, weil es in Russland kaum jemand gebe, der noch nicht dort auftrat oder Urlaub machte. Das russische "Erste", nennt an Kriterien, die die Jurymitglieder dazu bewogen, sich für Samoilowa zu entscheiden, dass die Sängerin "bezaubernd" sei, gute Chancen habe, und "zeige, dass physische Einschränkungen kein unüberwindliches Hindernis sind, wenn Menschen etwas erreichen möchten".
Das Risiko, dass Samoilowa von russlandfeindlichen Zuschauern aus politischen Motiven ausgebuht wird, ist bei der Rollstuhlfahrerin wahrscheinlich geringer als bei den nicht behinderten Tolmachevy-Schwestern und Polina Gagarina, denen das 2014 und 2015 widerfuhr. Die Russin ist allerdings nicht die erste Rollstuhlfahrerin, die an einem ESC-Wettbewerb teilnimmt: Die Polin Monika Kuczynska, die 2015 mit dem Stück "In The Name Of Love" mit zehn Punkten auf Platz 23 landete, war nach einem Unfall ebenfalls gelähmt.
Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA), an der Samoilowa leidet, entsteht die Lähmung durch absterbende Nervenzellen im Rückenmark. SMA-Kranke haben bislang eine deutlich geringere Lebenserwartung als andere Menschen. Nusinersen, ein Medikament gegen die seltene und durch einen Gendefekt verursachte Krankheit, gibt es erst seit Kurzem. In ihrer Kindheit wurde die Sängerin deshalb nach eigenen Angaben erfolglos von Wunderheilern zu Wunderheiler geschleppt, bis sie herausfand, dass einzig Musik eine gewisse therapeutische Wirkung auf sie hatte. Seit ihrer Casting-Show-Teilnahme wird sie von Alla Pugatschowa betreut, einer Art Kreuzung aus russischem Ralph Siegel und weiblichem Svengali.
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