EU-Gipfel: "Für ein soziales Europa"

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Die Machtverhältnisse sprechen dagegen. Merkel bleibt zuhause

Für Portugal ist der heutige EU-Sozialgipfel wichtig, Sozialpolitik ist ein Schwerpunkt der portugiesischen Linksregierung, für die deutsche Kanzlerin nicht. Merkel bleibt zuhause im "Homeoffice" in Berlin, sie wird "nur virtuell mitreden".

Sie lässt sich per Video zuschalten. Ihre Amtszeit geht zu Ende, für sie gibt es bei diesem Gipfel nichts zu gewinnen. Hier wären Ideen und Konzepte gefragt und der Einsatz für eine neue Ausrichtung. Das sind alles keine Stärken der "Weiter-so"-Kanzlerin. Und dafür dass alles beim Alten bleibt, sorgen schon genügend andere.

Sozialpolitik ist Sache der einzelnen Nationalstaaten. So lautet ganz dezidiert die Position von EU-Mitgliedsstaaten, die dies schon Ende April vorab erklärt haben. Darunter die "frugal four", Holland, Dänemark, Schweden und Österreich, dazu die osteuropäischen Staaten, Ungarn und Polen, sowie Estland.

Sie wollen keine neue EU-Kompetenzen in der Sozialpolitik. "Nationale Zuständigkeiten und das Prinzip der Subsidiarität unter den derzeitigen EU-Verträgen" müssten geachtet werden, schrieben neun Staaten in einem Brief an die portugiesische Arbeitsministerin und amtierende EU-Ratsvorsitzende Ana Mendes Godinho, wie der ORF berichtet. Laut Tagesschau sind es elf Länder, die vor weitreichenden Eingriffen in die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gewarnt haben; Bulgarien wird noch aufgezählt und baltische Staaten im Plural.

Kernaussage: Man will keine verbindliche Richtlinie. Genau das wäre aber der ganz große Schritt, den sich die sozial ausgerichtete Regierung in Portugal für ein sozialeres Europa erhofft. Exemplarisch etwa bei den Mindestlöhnen.

Man braucht allerdings nur auf die Vorteile etwa der deutschen Autohersteller zu sehen, die sie an der ungarischen Sozial- und Lohnpolitik haben, um einerseits zu erkennen, wie sehr die deutsche Autoindustrie und die angeschlossene Politik von Orbán profitiert und mit ihm verquickt ist, und anderseits wie die mächtigen Interessen an eben dem Lohngefälle aussehen, gegen das der Gipfel ein Zeichen setzen soll (Orbán: Gute Geschäfte mit Deutschland, wenig Gefahr durch EU-Sanktionen). Die Skandinavier wollen ebenfalls keine neuen EU-Regeln für Mindestlöhne, weil sie an ihren bewährten Tarifverträgen festhalten wollen.

Zu tun wäre einiges, wenn man die Verbesserung des Gefälles als Maß und Anspruch nimmt, um den EU-Kritikern zu zeigen, dass die Rede von einer EU, die sich hauptsächlich an den Interessen von Konzernen und der dominierenden Wirtschaftsmächte ausrichtet, übertrieben ist:

Die Unterschiede in der EU sind gewaltig - von einem Mindest-Stundenlohn von zwei Euro in Bulgarien bis zu 12,73 Euro in Luxemburg. Deutschland liegt mit 9,50 Euro im oberen Drittel.

Tagesschau, Wie sozial darf's denn sein?

So lag der mittlere Bruttoverdienst in Dänemark 2018 nach Angaben von Eurostat bei 4057 Euro pro Monat - in Bulgarien waren es gerade mal 442 Euro. In einer EU-weiten Umfrage 2019 sagten 6,9 Prozent aller Befragten, sie könnten aus Geldnot ihre Wohnung nicht ausreichend heizen. In Deutschland waren es 2,5 Prozent - in Bulgarien 30,1 Prozent, in Portugal 18,9 Prozent. In Deutschland waren im Januar 2021 laut Eurostat 6,2 Prozent der jungen Leute unter 25 Jahren arbeitslos - in Spanien 39,9 Prozent.

stern, Darum geht es beim EU-Sozialgipfel

Es geht um ein Zeichen des Fortschritts, das von dem heutigen Sozialgipfel ausgehen soll, lauten die Erwartungen an die Zusammenkunft in der portugiesischen Hafenstadt Porto, wo die EU-Gipfelvertreter morgen bereits wieder ins geopolitische Feld vorstoßen, um mit dem neoliberalen indischen Premierminister Modi einen Partner für indopazifische Ambitionen zu finden.

Grundlage für eine bessere soziale Ausrichtung wäre die Umsetzung der "Europäischen Säule der Sozialen Rechte", zusammengesetzt aus einem 20-Punkte Programm, das beim Sozialgipfel in Göteborg im November 2017 erstellt wurde.

Man könnte ein starkes Zeichen setzen

Die Zeit für eine sozialere Ausrichtung der EU wäre günstig. Dass die Pandemie die soziale Ungleichheit in einem scharfen Ausmaß zur Kenntlichkeit gebracht hat, ist seit Monaten Thema politischer Analysen, Meinungen und Erklärungen. Man könnte also ein starkes Zeichen setzen.

Das Ausrichterland Portugal, das die Ratspräsidentschaft innehat, hat sich sowohl in der Bekämpfung der Pandemie unter den EU-Staaten hervorgetan wie auch mit seiner Politik, die unter einer linken Regierung mehr auf soziale Gerechtigkeit achtete als auf Kennziffer-Vorgaben der Austeritätsreformer wie dem IWF.

Geht es nach dem EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit sollte von dem Treffen in Porto "eine starke politische Botschaft" für ein soziales Europa ausgehen. Als konkretes Ziel setzte sich die EU-Kommission ein fernes:

"In zehn Jahren sollen rund 80 Prozent der Erwachsenen einen Arbeitsplatz haben, 60 Prozent sollen einmal im Jahr an einer Fortbildung teilnehmen, die Zahl der von Armut gefährdeten Europäerinnen und Europäer soll um 15 Millionen sinken."