Orbán: Gute Geschäfte mit Deutschland, wenig Gefahr durch EU-Sanktionen

Archivbild von 2012: Merkel und Orbán beim Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP). Foto: European People's Party/David Plas/CC BY 2.0

Ungarn eine "kranke Demokratie"? Wirtschaftsinteressen sind wichtiger als alles andere?

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In Ungarn baut Orbán "eine kranke Demokratie" auf? Der Vorwurf kommt von der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourová. Sie äußerte ihn in einem Spiegel-Interview (gedruckte Ausgabe, vom 26.9.2020). Dort kam sie auf den "alarmierenden Zustand der ungarischen Medienlandschaft" zu sprechen.

Die Frage dazu war interessant, sie wollte wissen, welche Möglichkeiten die EU habe, über das Wettbewerbsrecht Zusammenschlüsse zu verbieten, wie es in Ungarn bei der regierungsnahen Presse- und Medienstiftung KESMA der Fall sei, die einen großen Teil der Medien kontrolliere. Jourová antwortete, dass man die EU-Wettbewerbsregeln "nicht gegen dieses Kartell einsetzen" könne. Die Geldbeträge, um die es bei diesen Zusammenschlüssen gehe, seien zu gering.

Das kann man wiederum von den Geldbeträgen nicht behaupten, die bei einer anderen Eingriffsmöglichkeit der EU, die ungarische Demokratie betreffend, eine Rolle spielen: finanzielle Sanktionen bei einem Bruch von Rechtsstaatsprinzipien. Oder wie es Katarina Barley (SPD) formuliert: "die effektive Bindung von EU-Geldern an Grundwerte".

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hätte bei einer strengen Regelung der sogenannten Rechtstaatsklausel befürchten müssen, dass sein Machtsystem bedroht ist. "Er ist auf diese Gelder angewiesen, um die Vorhaben der ihm treuen Oligarchen und einer nationalen Unternehmerschicht zu finanzieren", so eine Analyse der Blätter für deutsche und Internationale Politik.

Symptome der kranken Demokratie

Dort werden ein paar Symptome der "kranken Demokratie" in Ungarn aufgeführt: allen voran die Entmachtung des Verfassungsgerichts in wichtigen Rechtsfragen, die Beschneidung der Wissenschaftsfreiheit sowie "Instrumente zur Kriminalisierung von Menschenrechtsgruppen". Diagnostiziert wird eine systematische und gezielte Unterhöhlung des Rechtsstaates. Genauer wird dies im sogenannten Sargentini-Report des Europaparlaments beschrieben.

In dem Report wird eine "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der Europäischen Union durch Ungarn" behauptet: Es geht um die Änderungen der Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts. Besonders besorgt ist man über die Prozedur zur Ernennung der Richter, über die Einschränkung der Befugnisse des Gerichts, die Verfassungsmäßigkeit von Änderungen des Grundgesetzes zu prüfen, wie auch über ein geändertes Verfahren zur Einreichung von Verfassungsbeschwerden.

Darüber hinaus wird vorgebracht, dass der Begriff "illegale Medieninhalte" und dadurch entstehende Befugnisse, der im neuen Mediengesetz zu finden ist, nicht zur Medienfreiheit passt. Und dass der Zugang zu Informationen sowie die Medien- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt wurden.

Auch zur akademischen Freiheit, zur Religionsfreiheit und zur Vereinigungsfreiheit gibt es lange kritische Einwände. Sehr deutlich wird die Kritik an der Rechtstaatlichkeit Ungarns, wenn es um die Rechte von Minderheiten geht, um deren Schutz vor hetzerischen Äußerungen und um die Grundrechte von Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen.

Die Liste endet mit wirtschaftlichen und sozialen Rechten, die die europäische Sozialcharta nicht einhalten. Angeraten wird etwa "Rechtsvorschriften zu überdenken, durch die den lokalen Behörden die Möglichkeit eröffnet wird, Obdachlosigkeit zu bestrafen, und dem Urteil des Verfassungsgerichts, das Obdachlosigkeit entkriminalisiert hat, nachzukommen".

Nicht zuletzt wird konstatiert, dass in "Ungarn Streiks praktisch verboten sind".

Der verwässerte Vorschlag mit deutscher Handschrift

Dieser Punkt führt zurück zu den großen Geldbeträgen bzw. Geschäften, die bei den Möglichkeiten der EU mit im Spiel sind, wenn es darum geht, auf die ungarische Regierung einzuwirken, dass sie rechtsstaatliche und demokratische Grundlagen befolgt.

Vom neuen EU-Vorschlag zum Rechtsstaatmechanismus heißt es, dass er sehr verwässert ausfällt, dass die Regierung Orbán davon nichts zu befürchten hätte und dass dies zu einem großen Teil an der deutsche Regierung liegt, die nicht gerade auf Härte drängte.

Vielleicht hätte die EU noch eine Chance gehabt, das Abgleiten von EU-Ländern wie Ungarn oder Polen in die Autokratie aufzuhalten. Doch seit Montag ist klar: Das wird schwierig. Und verantwortlich dafür ist nicht zuletzt die Bundesregierung.

Spiegel

Nach dem Entwurf müssen Verstöße gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien künftig eine "ausrichtend direkte Wirkung" auf die EU-Mittel haben, die Ungarn oder andere Länder anzapfen wollen. Für Kürzungen der Mittelzuwendungen aus Brüssel reicht es also nicht mehr, dass Orban die Richter an die Leine legt oder die Medien knebelt. Damit geht der deutsche EU-Vorsitz auf Orban & Co zu.

Lost in Europe

Der Vorschlag zum neuen Rechtsstaatsmechanismus ist verknüpft mit der Abstimmung über den neuen riesigen EU-Haushalt, der die 750 Milliarden Corona-Wirtschaftshilfe enthält. Man braucht dafür die Stimme Ungarns, sonst wird das Wiederaufbaupaket blockiert.

"Wir kauften mehr Waffen von den Deutschen als die Bundeswehr"

Auch die Interessen deutscher Unternehmer in Ungarn spielen eine Rolle. Es geht nicht nur um die großen Autohersteller VW, Audi, BMW und Daimler, die Werke in Ungarn haben, wo die Arbeiter nicht streiken können und ganz andere Bedingungen bei der Arbeitszeit und der Entlohnung haben als in Deutschland oder um Magyar Telekom, Ungarns größtes Telekommunikationsunternehmen, sondern auch um lukrative Waffengeschäfte.

"Wir kauften mehr Waffen von den Deutschen als die Bundeswehr", sagt ein ehemaliger ungarischer Regierungsvertreter. Die größte Order betreffe 44 neue und 12 gebrauchte Leopard-Panzer und 24 Panzerhaubitzen, genannt werden darüber hinaus 2000 Selbstfahrlafetten aus bayerischer Produktion sowie Airbus-Hubschrauber.

Zu erfahren ist das in einem Hintergrundbericht über deutsch-ungarische Beziehungen der Publikation direkt36.hu. Das Magazin für investigativen Journalismus zeigt an, welche Möglichkeiten es in der schwierigen Mediensituation in Ungarn noch gibt. In dem Bericht von Panyi Szabolcs werden die politischen und geschäftlichen Beziehungen zwischen deutschen Politikern und Wirtschaftsführern zu Orbán, seinen Regierungsmitgliedern und anderen ungarischen Partnern genauer unter die Lupe genommen.

Es sind auch für die deutschen Unternehmen sehr einträgliche Beziehungen, da sie von ungarischen Subventionen, auch zur Corona-Zeit, sehr profitieren. Die politisch-wirtschaftlichen Beziehungen sind derart eng, dass sich deutsche Unternehmerchefs, wie in dem Bericht mehrfach erwähnt, direkt an den ungarischen Regierungschef wenden.

Insofern fällt das Interesse, dem Partner an die Kandarre zu fahren, nicht allzu stark aus, worauf auch der pragmatisch orientierte Orbán ("lieber im Bündnis mit der mächtigen CDU, als mit der AfD, die nicht an die Macht kommt", heißt es im Artikel) gezählt hat. Er sah der EU-Bemühungen über Strafaktionen gegen Ungarn sehr gelassen entgegen, ist dem Bericht "How Orbán played Germany, Europe’s great power ("Wie Orbán Deutschland, Europas große Macht, bespielt") zu entnehmen.

Demgegenüber ist sein Schlagabtausch mit der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourová, eine reine Prestigesache. Orbán ist wieder einmal beleidigt und fordert ihren Rücktritt. Zuhause ist er Hofberichterstattung gewohnt: Die ihm nahestehende Medienstiftung KESMA gebietet laut SZ "über ein Konglomerat von fast 500 Medien - darunter Fernseh- und Radiosender, Zeitungen und Internet-Portale".