EU-Hilfen für Syrien: Der scheinheilige deutsche Außenminister

Seite 2: Der gleiche Blues auf europäischer Ebene

Auf europäischer Ebene sieht es nicht anders aus. Am 11. März verabschiedete das Europaparlament eine Entschließung, die neben den Verbrechen der Regierung Assad auch die türkische Besatzung in Nordsyrien thematisiert.

In Punkt 7 fordert das Europaparlament "die Türkei auf, ihre Streitkräfte aus Nordsyrien abzuziehen, da sie diesen Landesteil außerhalb eines Mandats der Vereinten Nationen rechtswidrig besetzt." Das Europaparlament "verurteilt, dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden; ist besorgt darüber, dass die anhaltenden Vertreibungen durch die Türkei einer ethnischen Säuberung an der syrisch-kurdischen Bevölkerung gleichkommen könnten; betont, dass durch das Eingreifen der Türkei die internationalen Bemühungen gegen den IS geschwächt wurden; betont, dass die illegale Invasion und Besetzung durch die Türkei den Frieden in Syrien, im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeerraum gefährdet; verurteilt aufs Schärfste, dass die Türkei unter Bruch des Völkerrechts syrische Söldner in den Konflikten in Libyen und Bergkarabach eingesetzt hat…"

Am heutigen Dienstag reisen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel im Gegensatz zu Inhalt und Ton dieser Erklärung mit "Ostergeschenken" vom EU-Gipfel vergangener Woche zu Erdogan. Darin stellen die 27 EU-Staats- und Regierungschefs Erdogan eine verstärkte Wirtschaftszusammenarbeit und weitere Finanzhilfen für die Versorgung von syrischen Geflüchteten in Aussicht.

Der türkischen Regierung soll die Ausweitung der Zollunion und eine Visa-Liberalisierung für türkische Staatsangehörige angeboten werden, wenn sie sich kooperationsbereit im Konflikt mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern um die Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer zeigt. Auch hier wird die Scheinheiligkeit offenbar: Menschenrechtsverletzungen, das Ignorieren der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) spielen im Umgang mit der Türkei keine Rolle, man lenkt den Fokus auf die Aktivitäten der Türkei im Mittelmeer und klammert den Rest aus.

Treibendes Element der EU-Kommission hinter dieser Appeasementpolitik mit dem autortären Staatsoberhaupt Erdogan ist die Bundesregierung. Auch hier darf man fragen, was denn eigentlich ein EU-Parlament für eine Berechtigung hat, wenn ihre Beschlüsse von höherer Ebene ignoriert werden?

Führende Abgeordnete des Europaparlaments kritisieren die EU-Politik der 27 Staats- und Regierungschefs scharf: "Die Menschenrechte sollten ein Schlüsselelement bei der Formulierung zukünftiger Maßnahmen gegenüber der Türkei sein, ob positiv oder negativ...Die Botschaft, die derzeit an die türkische Regierung gesendet wird, ist falsch und gefährlich", denn sie vermittle die Botschaft an die Türkei, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit für die EU weniger relevant als geopolitische Interessen seien.

Diese Art der Kommunikation schadet der Glaubwürdigkeit und dem internationalen Image der EU ernsthaft und vermittelt dem großen Teil der pro-europäischen und pro-demokratischen Bürger der Türkei, die sich immer noch hoffnungsvoll der EU zuwenden, eine entmutigende Botschaft. Die in Artikel 21 des EU-Vertrags verankerte Pflicht, eine auf Grundsätzen und Werten beruhende Außenpolitik zu verteidigen und zu fördern, ist für alle EU-Institutionen und insbesondere für den Rat gleichermaßen verbindlich...Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit dürfen nicht auf dem Altar der Realpolitik geopfert werden.

Erklärung des Europaparlaments

Der blinde Fleck des Heiko Maas

Man könnte meinen, dass Heiko Maas die Landkarte Syriens nicht kennt. Nordsyrien und vor allem die völkerrechtswidrige Quasi-Annektion großer Teile Nordsyriens durch die Türkei scheint es nicht zu geben, obwohl der wissenschaftliche Dienst des Bundestags die Menschenrechtsverletzungen bestätigt und den Einmarsch der Türkei in syrisches Territorium als völkerrechtswidrig beurteilt hat.

Von den Gräueltaten der Türkei und ihrer islamistischen Söldner in Nordsyrien, die in dem US-Bericht ebenfalls ausführlich erwähnt werden, hat Außenminister Maas noch nie etwas gehört? Im Gegenteil, er sieht positive Signale aus der Türkei. Durch welche Brille schaut er, wenn er zu diesem realitätsfernen Urteil kommt?

Welche positiven Signale meint Heiko Maas? Den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention, der einen sprunghaften Anstieg von Frauenmorden zur Folge hatte? Das drohende HDP-Verbot? Den Bau eines weiteren Präsidentenpalastes, angesichts dessen, dass sich die Bevölkerung kaum noch Essen leisten kann? Die Todeskommandos, die in Europa gegen türkische Oppositionelle unterwegs sind? Die islamistischen Netzwerke von Ditib, Milli Görüs und den Muslimbrüdern, die in Deutschland über verschiedene Unterorganisationen Millionen an Fördergeldern erhalten?

Alle Kriegsverbrecher gehören vor den Internationalen Strafgerichtshof

Die Forderung, "dass der Internationale Strafgerichtshof die Möglichkeit bekommen muss, die in Syrien mutmaßlich begangenen Verbrechen zu untersuchen und Anklage gegen die Täter zu erheben," ist zu unterstützen. Das fordern die Politiker der demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens schon lange. Die Selbstverwaltung lädt immer wieder die Internationale Gemeinschaft ein, sich selbst ein Bild über die Situation in ihren Gefängnissen und Geflüchteten-Camps zu machen (siehe US-Bericht, S. 11).

Deswegen darf man nicht nur die Verbrechen des syrischen Regimes, sondern muss auch die der Türkei und ihrer islamistischen Söldner untersuchen und Anklage erheben. Denn nicht nur die Menschenrechtsverletzungen der syrischen Regierung sind gut dokumentiert, auch die der Türkei in Nordsyrien sind es. Der neueste US-Bericht bestätigt dies auf Seite 3 und 20ff. Es wird u.a. vom Einsatz sexueller Gewalt, Folter, Vertreibung, Verschleppung von Zivilisten in die Türkei, die Sperrung der Wasserversorgung für die Zivilbevölkerung (in Serekaniye, Anm. der Autorin), die Rekrutierung von Kindersoldaten und die Zerstörung kultureller und religiöser Heiligtümer berichtet.

"Der Einsatz chemischer Waffen, egal unter welchen Umständen, ist eine ernste Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit."

Stimmt, deshalb gehört die Türkei für ihren Einsatz von weißem Phosphor gegen die Bevölkerung von Serekaniye bei ihrem völkerrechtswidrigen Einmarsch 2018 ebenfalls vor den Internationalen Strafgerichtshof. Nehmen wir Herrn Maas beim Wort: " ...wir werden nicht ruhen, bis sie für ihre Verbrechen bestraft sind."

Und wir werden ihn an seine Worte in dem Welt-Artikel erinnern:

"Bei der Aufarbeitung dieses Jahrzehnts der Gräueltaten darf es keine blinden Flecken geben. Gerechtigkeit für die Opfer ist von essenzieller Bedeutung für den Wiederaufbau eines stabilen, friedlichen Syriens und einer glaubhaften, tragfähigen politischen Lösung im Einklang mit Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates."