EU: Kein Treffen mit Putin, Geld für Erdogan, Rüffel für Orbán
Die Werte-Politik der Union: Rote Linien nach geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen; Merkels Niederlage
Neue Milliarden für Erdogan, kein Treffen mit Putin, Konfrontation mit Orbán - so lässt sich das bisherige Ergebnis des EU-Gipfels zusammenfassen, wenn man es an autokratischen Reizfiguren abbildet. Sie hätte sich mehr Mut gewünscht, sagte die deutsche Bundeskanzlerin Merkel müde nach den langen Gesprächen gestern Nacht. Sie sprach damit das Scheitern an, dass ein Treffen mit Putin "auf Chefhöhe" nicht zustande kommt.
Krachende Niederlage
Es ist Merkels vermutlich letzter EU-Gipfel. Dass die Widerstände innerhalb der Gemeinschaft gegen das Treffen mit Putin stärker waren als der Einsatz von Merkel und Macron dafür, der Chefs der beiden Länder, die seit ewigen Zeiten als Säulen der EU herausgestellt wurden, ist Teil einer "krachenden Niederlage für Kanzlerin Angela Merkel", so der EU-Korrespondent Eric Bonse. Statt Einigkeit gab es vor allem Streit, besonders über Russland und Ungarn. "Es gebe sehr unterschiedliche Auffassungen über die Zukunft Europas", beschließt Merkel ihr Statement.
"Es wird keine Treffen der EU-Spitze mit Russland geben", gab Litauens Präsident Gitanas Nausėda zu Protokoll. Zusammen mit Polen, Estland und Lettland habe Litauen den in Berlin und Paris entworfenen Plan gebremst, berichtet die SZ vom Gipfel. Nausėda begründete den Einwand damit, das die Beziehungen zu Russland immer schlechter würden; er sehe "ein neues aggressives Verhalten von Russland".
Sanktionspolitik de facto das favorisierte Mittel
Laut Beobachtungen der beiden SZ-Brüssel-Korrespondenten gab es darüber einen Konsens innerhalb der EU. "Negativspirale" und "historisch schlechtes Verhältnis" werden als Stichworte genannt. Zwar sei es "immer richtig im Gespräch zu bleiben", so Nausėda, aber ein Treffen käme zu früh, Vorbedingungen und "rote Linien" seien wichtig. Der litauische Präsident ist Sprachrohr dafür, dass die EU an ihrer harschen Position gegenüber Russland, die die Union nach der Annexion der Krim 2014 eingenommen hat, nichts ändert.
So bleibt die Sanktionspolitik de facto das favorisierte Mittel.
"Beschlossen wurde nur die Erarbeitung eines Plans für Strafmaßnahmen, der auch Wirtschaftssanktionen umfasst. Es gebe 'die Notwendigkeit einer entschlossenen und koordinierten Reaktion der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf jede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivität Russlands', heißt es in der Gipfelerklärung." (FAZ)
Was man damit politisch erreicht, könnte genau das Gegenteil dessen sein, was man bezweckt. Darauf laufen viele Einwände hinaus - etwa gegen die Sanktionen, die kürzlich gegen Belarus ausgesprochen wurden. Kritiker der Maßnahmen geben zu bedenken, dass man damit Alexander Lukaschenko dazu bringt, dass er sich in der Folge noch stärker an Putin annähert. Die Bevölkerung trägt den Schaden.
Auch die "sehr sehr ehrlichen" Kontroversen (Merkel) mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán über das Gesetz zur "Darstellung von Homosexualität sowie Geschlechtsumwandlungen in Büchern, Filmen oder Anzeigen" (Ungarn: Fiedesz-Gesetz für eine homophobe Pädagogik), die von großer Empörung geprägt waren, könnten zu einem unerwünschtes politisches Ergebnis führen, nämlich der Stärkung Orbáns als Gegenreaktion zur politischen Pädagogik seitens der EU.
Harsche Ermahnungen und Drohungen gab es schon im Vorfeld. Die deutsche Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte das Gesetz als "Schande" bezeichnet und rechtliche Schritte angekündigt. Der niederländische Ministerpräsiden Mark Rutte legte einen Austritt Ungarns aus der EU nahe. "Meiner Meinung nach haben sie in der Europäischen Union nichts mehr zu suchen."
"An die Regeln und Werte halten"
Portugals Premierminister António Costa trat mit seiner Kritik etwas sachter auf. Ungarn sei dem Club doch freiwillig beigetreten. "Aber wenn ihr drin seid, dann müsst ihr euch an die Regeln und Werte halten."
Als Verteidiger der Position Orbáns werden Janez Janša, Ministerpräsident Sloweniens, und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki genannt.
Das Prinzip der Regeln und Werte hat allerdings seine Grenzen und Lücken. Der Einsatz gegen die Diskriminierung der LGBTI-Gemeinschaft, wie er etwa in einem Schreiben von "Merkel und 16 weitere Staats- und Regierungschefs" an die Adresse Ungarns ausgedrückt wird, sei bislang nicht Merkels Priorität beim Verhältnis zu Ungarn gewesen, wie Eric Bonse anmerkt: "Doch wie ernst ist dieses späte Bekennerschreiben für sexuelle Vielfalt wirklich gemeint? Was können sich die LGBT und andere Minderheiten in Ungarn von dem Appell kaufen - angesichts der Tatsache, dass Merkel bis zuletzt ihre schützende Hand über den rechtslastigen Regierungschef Viktor Orbán gehalten hat?"
Zu erinnern wäre da zum Beispiel an das enge, kooperative Verhältnis zwischen der deutschen Auto-Industrie und Ungarns Regierungschef, der mit Größen der Unionsparteien jahrzehntelang auf bestem Fuß stand (Orbán: Gute Geschäfte mit Deutschland, wenig Gefahr durch EU-Sanktionen).
Regeln und Werte der EU, wie etwa Menschenrechte oder der Umgang mit Oppositionellen, stehen auch nicht im Mittelpunkt der auf geopolitische Pragmatik und Abwehr von Migranten basierenden Politik mit dem autokratischen türkischen Präsidenten Erdogan.
Die EU möchte den "Flüchtlingspakt" erneuern: Dafür will man tief in die Kasse greifen: Die 27 EU-Staaten sind sich offensichtlich darüber einig, Ankara zusätzliche 3,5 Milliarden Euro an Flüchtlingshilfe zu bezahlen. Kritiker dieses Abkommens stellen sich schon lange die Frage, wohin das Geld genau fließt.
Kein Geheimnis ist, dass Erdogan aus der Angst vor den Migranten in der EU politisches Kapital schöpfte, um regelmäßig saftige Drohungen auszustoßen und seine nationalistischen, gegenüber Minderheitsrechten brachial vorgehenden "Projekte" möglichst ungestört zu verfolgen.