EU: "Neustart" angesichts europäischer Zerfallserscheinungen?
Seite 2: Einigkeit vor allem im Bereich Verteidigung und Sicherheit
- EU: "Neustart" angesichts europäischer Zerfallserscheinungen?
- Einigkeit vor allem im Bereich Verteidigung und Sicherheit
- Auf einer Seite lesen
Doch ob schon das der Fall ist, darf ebenfalls bezweifelt werden. Schon die Vorstellungen von Hollande und Renzi, die sich zwar "Sozialisten" nennen, aber in der Praxis bestenfalls sozialdemokratische Politik machen, und die der konservativen Merkel gehen weit auseinander. Einigkeit wurde vor allem im Bereich Verteidigung und Sicherheit gezeigt. "Wir spüren angesichts des islamistischen Terrors, angesichts des Bürgerkriegs in Syrien, dass wir mehr für unsere innere und äußere Sicherheit tun müssen", sagte Merkel beispielhaft für die drei Politiker.
Die europäische Kooperation im Sicherheitsbereich müsse angesichts der Terrorbedrohung gestärkt werden, meinte sie. Die Bundeskanzlerin forderte deshalb auch eine engere Zusammenarbeit zwischen den europäischen Geheimdiensten und Polizeibehörden. Vorangekommen sei man schon in Fragen der Grenzschutzmechanismen, stellte sie heraus. Dafür nannte sie mit Bezug auf die europäische Grenzschutzbehörde, dass "Europa ein vollkommen neues Frontex" geschaffen habe. Deutschland habe dazu seine Positionen schon verändert, nachdem man sich lange dagegen gewehrt habe, Zuständigkeiten beim Grenzschutz zu europäisieren.
Ganz ähnlich argumentierten auch Renzi und Hollande. Der Franzose erklärte, Europa müsse auf die Herausforderungen für Sicherheit und Prosperität antworten: "Es muss ein Schutzraum sein, dessen Grenzen geschützt werden müssen." Die EU solle nicht nur zusätzliche Mittel in die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen stecken, die Frankreich leisten werde, sondern auch die Geheimdienste sollten besser Daten austauschen können. Es müssten Möglichkeiten geschaffen werden, um untereinander Dateien auszutauschen, Kommunikationen und islamistische Propagandakanäle überwachen zu können. "Ich habe das Thema Verteidigung in den Vordergrund gestellt", sagte Hollande auch im Hinblick auf die Anschläge im Land. Die wurden allerdings fast allesamt von Franzosen ausgeführt, was in einem solchen Diskurs untergeht.
Umstrittene Austeritätspolitik
Der Italiener und der Franzose, und da zeigten sich dann schon deutliche Widersprüche, formulierten auch die Bedeutung, dass die Wirtschaft nicht nur in ihren Ländern wieder angekurbelt werden müsse. Vor allem junge Menschen bräuchten nicht nur in Frankreich und Italien viele neue Stellen und Perspektiven. Renzi fordert zum Beispiel ein Programm für kräftige Investitionen unter anderem in den Arbeitsmarkt, in Ausbildung und Kultur. Und auch Hollande fordert "starke Maßnahmen" im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Man müsse zurück zur Idee eines "Europas der Werte" und gegen die Vorstellung antreten, dass man es mit einem Europa der Finanzen zu tun habe.
In diesen Fragen blieb Merkel erwartungsgemäß schmallippig, schließlich wird damit die Austeritätspolitik in Frage gestellt, die die Bundesrepublik bisher stets vehement vertreten hat. Die habe "in Europa nur Schaden angerichtet", hatte zum Beispiel Renzi erst kürzlich gesagt. Und auch auf dessen Forderungen nach einer Lockerung zeigte Merkel schließlich eine kleine Geste. "Der Stabilitätspakt bietet eine Reihe von Lösungen, die wir klug anwenden können", sagte sie. Das klang so, als würden die italienischen Forderungen nach mehr Flexibilität berücksichtigt. Damit könnten wenigstens die Defizitauflagen etwas weiter aufgeweicht werden.
Dafür spricht, dass zuletzt Deutschland ja schon einen massiven Schwenk vorgenommen hatte, als es um die Strafen für die Defizitsünder Spanien und Portugal ging. Merkels Finanzminister Schäuble, der lange den Chor derer angeführt hatte, die beide Länder hart bestrafen wollten, zog letztlich die Fäden dafür, dass die EU-Kommission keinerlei Geldstrafen verhängt hat (Definitiv keine Defizitstraften gegen Spanien und Portugal).
Was den Umgang mit der Flüchtlingsfrage angeht, gab es ebenfalls kein klares Bild, konkrete Beschlüsse gab es ohnehin auf dem Treffen nicht. Man arbeite darauf hin, dass es beim nächsten EU-Gipfel Mitte September in Bratislava konkrete Resultate geben werde. Über alle Zweifel hinweg, angesichts der dramatischen Vorgänge in der Türkei, wo auch davon gesprochen wird, dass Erdogan einen zweiten Staatsstreich durchführt, um die Opposition auszuschalten, will Merkel alternativlos offenbar am Flüchtlingsdeal festhalten. Die Kooperation mit der Türkei sei richtig, sagte sie. Andernfalls sei es nicht möglich, den Kampf gegen die Schlepper zu gewinnen, macht sie sich von Erdogan in der Frage abhängig.
Der Italiener Renzi hatte seinerseits allerdings einen Plan im Gepäck, der auf eine engere Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten setze, auch um Flüchtlinge wieder loswerden zu können. Demnach soll es in deren Herkunftsländern verstärkt Investitionen geben, wenn die abgelehnte Asylbewerber zurücknehmen. Und wie in der Frage, wie die Konjunktur angekurbelt und verstärkt Stellen geschaffen werden sollen, spielt auch hier die Geldfrage wieder eine zentrale Rolle. Rom hat deshalb vorgeschlagen, dieses Vorhaben über Eurobonds zu finanzieren.
Bekannt ist, dass Berlin es aber strikt ablehnt, Schulden zu vergemeinschaften. Und hier ist man an einem der großen strukturellen Probleme der Eurozone angelangt. Denn, so meinen Experten bis zum Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, das Vergemeinschaften von Schulden ist eine der wenigen realen Möglichkeiten zur Rettung des Euro, "der einfach bei seiner Geburt ein kompletter Fehler" gewesen sei. Über den Brexit hinaus wird es über kurz oder lang zu einer Zerreißprobe für Europa kommen, weil Deutschland nicht bereit ist, nötige Schritte zu gehen. Und sollte es nicht zu einer "einvernehmlichen Scheidung" kommen, wie sie Stiglitz zur Rettung des europäischen Projekts vorschlägt, wäre der Brexit gegenüber einem unkontrollierten Zerfall der Eurozone vermutlich ein nur sehr überschaubares Ereignis.
Kein Neustart in Sicht
Zentrale Probleme, wie er sie erneut aufgezeigt hat, werden aber weiterhin von den Regierungschefs nicht behandelt. Sie werden wohl in Gesprächen wie in Ventotene erst dann auftauchen, wenn das erste Land sich auf den Weg macht, um die Eurozone zu verlassen, um wieder eigenständig Zins- und Wechselkurspolitik machen zu können. In Portugal wird zum Beispiel schon länger über die Frage diskutiert, "sich von der Unterwerfung unter den Euro zu befreien". Ein "Neustart" der Gemeinschaft, von der nun Renzi träumt und Hollande und Merkel gesprochen haben, wird es so sicherlich nicht geben. Und selbst wenn Deutschland nun zu einer weiteren Aufweichung der Stabilitätsziele bereit sein sollte, wird das Aufbrechen der zentralen Probleme, die unter anderem mit dem Euro bestehen, bestenfalls etwas in die Zukunft verlagert.
Wenn "Europa die Lösung für die schwerwiegenden Probleme unserer Zeit ist", wie Renzi gegenüber denen betonte, die glauben, dass tatsächlich Europa oder der Euro das Problem sei, dann müssten dringend entsprechende Konzepte erarbeitet werden. Vielleicht sollte man sich dann die inhaltlichen Vorstellungen der Vordenker im Manifest von Ventotene einmal anschauen, statt darüber zu schwadronieren, dass deren Visionen schon umgesetzt seien.