Echtzeit-Theorie 2

Umleitung in den Osten

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Über Netzkunst, Coca Cola, und die Funktion der Hintergründe in alter niederländischer Malerei

Echtzeit-Theorie I

Nachdem ich eine Woche in Linz, Österreich, bei der Ars Electronica zugebracht hatte, wo es bei Parties, gesponsert von der Stadt Linz und dem ORF (staatliches österreichisches Fernsehen), ganz unglaubliche Buffets gab, ebenso wie sehr stylish gestaltete Ausstellungsräume und sogar noch funkiger und futuristisch aussehende Computer Terminals, welche die Kunst - was auch immer auf ihnen gezeigt wurde - in den Schatten zu stellen drohten, sind meine Augen nun von all dem Glanz müde geworden. Ich sehne mich nach monotonen Landschaften, alten Oberflächen und einer Welt der Texturen anstatt nach Information. Ich entschließe mich, meine Reiseroute umzuleiten und Richtung Osten aufzubrechen.

Und nun, an einem sonnigen und kalten Septembertag, betrete ich ein altes Gebäude in einer osteuropäischen Stadt, deren Namen ich hier nicht nennen möchte, da ich ähnliche Erfahrungen in einem Dutzend anderer Städte und Länder hätte machen können. Im Kopf versuche ich eine Liste jener Wesensmerkmale zusammenzustellen, die für mich die Einzigartigkeit osteuropäischer Stadtlandschaften ausmachen. Männer in Trainingsanzügen, und mit Goldketten behangen, sitzen hinter dem Steuerrad ausländischer Wagen oder stehen in Gruppen von Zweien oder Dreien vor ausländischen Geschäftsniederlassungen zusammen und unterhalten sich. Paare mittleren Alters, ebenfalls in Sportbekleidung, kaufen Nahrungsmittel ein oder studieren sorgfältig die ungeschickt in Geschäftsauslagen ausgestellten Waren. (Warum gilt Sportbekleidung im Osten als modisch erstrebenswert, als etwas, das man praktisch zu jeder Gelegenheit tragen kann, vom Einkaufen bis zum Spaziergang im Park? Ist der Grund, daß die Menschen hier das Gefühl haben, das Leben wäre hier mit all seinen Problemen, Absurditäten, der Notwendigkeit für permanentes Taktieren und einem wahrlich inhumanen Durchhaltevermögen am besten mit einer sportlichen Herausforderung zu vergleichen, ein Marathonlauf mit Hindernissen? Oder geht es einfach nur darum, sich vor dem allgegenwärtigen Schmutz zu schützen?)

Doch um mit meiner Liste von Wesensmerkmalen fortzufahren: überall präsente Zurschaustellung feiner Frauenunterwäsche in Auslagen (Frauenunterwäsche dient als ultimativer Ausdruck der Befreiung, aber auch, wie Sportbekleidung, als Schutzschicht zwischen dem postkommunistischen Körper und einer gefährlichen, chaotischen, urwüchsigen, ungeglätteten, verfallenden und irrationalen nachkommunistischen Lebenswelt; eine Möglichkeit für Frauen, sich in die Privatheit des Körpers zurückzuziehen, einen Raum für sich selbst zu beanspruchen, eine Grenze zwischen dem Körper und der Umwelt außen zu ziehen - so wie, ganz allgemein gesprochen, die Menschen über Jahrzehnte hinweg auf die permanente Bedrohung und Agression politisierter, unkontrollierbarer und schmutziger öffentlicher Räume im kommunistischen Leben reagiert haben, indem sie sich in ihre Wohnungen zurückzogen, wo sie schließlich über Kontrolle verfügten, in diesen Wohnungen mit Parkettböden und sorgfältig ausgewählten Tapeten, mit zahlreichen dicken Bänden klassischer Literatur auf den Bücherregalen und mit dem glänzenden importierten Plastiksitz auf der Toilette im Badezimmer - dem Stolz der Wohnungsbesitzer - mit Bildern halbnackter Frauen sorgfältig aus importierten ausländischen Zeitschriften ausgeschnitten und an die Badezimmertür geheftet - eine typische Version von Komfort im Kommunismus, wofür gelitten, gekämpft wurde, was über Jahre hinweg in einem gewissenhaften Vorgang Objekt für Objekt gesammelt wurde.)

Um aber nun wirklich mit meiner Liste von Wesenszügen fortzufahren, die, wie immer klarer wird, alle mit dem Gegensatz zwischen Privatpersonen und ihrer Umwelt zu tun haben, ein Gegensatz, den es in dieser Form im Westen nicht gibt, bzw. der nicht diese Größenordnung annimmt: Wir sollten auch einen so typischen Anblick einbeziehen, wie den von einer Frau oder eines Paares, das sehr gestylt und tadellos gekleidet ist, und auf einen Bus oder eine Straßenbahn wartet, vor dem Hintergrund einer total verfallenden und verschmutzten, degenerierten Stadtlandschaft, in der die Gebäude so aussehen, als wären sie 300 Jahre nicht mehr gestrichen worden, oder, um noch genauer zu sein, als wären sie von einem Designer gewissenhaft so gestrichen worden, daß sie so aussehen, als hätte man sich über Jahrhunderte nicht um sie gekümmert (obwohl das kommunistische Regime doch nur einige Jahrzehnte gedauert hat).

In der Tat, die ganze Stadtlandschaft kann mit der Filmkulisse von "Brothers Quay" verglichen werden, nur daß sie noch verfallener ist und der Grad des Verfalls durch die Eleganz der Stadtbewohner unterstrichen wird, die hier versuchen, ein Leben zu führen, Kinder zu haben, Affären und Karrieren und all das inmitten einer surrealen und grausamen Umgebung. Und noch ein anderes Merkmal: Coca-Cola Zeichen überall, an jeder Ecke, an jedem Kiosk, an jedem Gebäude. Offensichtlich geht es schneller, den Beginn des neuen postkommunistischen Lebens mit solchen Zeichen zu signalisieren, als jede Lenin-Straße oder jeden Revolutionsplatz umzubenennen. Und noch ein Merkmal: Ein besonderer Ausdruck in den Gesichtern der Leute und eine bestimmte Art sich zu verhalten; eine sehr sanfte Melancholie, das Akzeptieren des Schicksals, ein Hauch von Unsicherheit, eine gewisse Schüchternheit. Klar, die Männer in Trainingsanzügen und mit den Goldketten sind eine Ausnahme, sie sehen nicht schüchtern aus. Und sicherlich gibt es noch mehr Merkmale, die aber nicht so entscheidend sind.

Als ich das alte Gebäude betrete, das die Medienabteilung einer Kunstschule beherbergt, folge ich einer Flucht mehrerer Räume, die, für meinen verwestlichten Blick, gewohnt an saubere Geometrie und helle Farben, aussehen, als wären sie gerade bombardiert worden. Schachteln voller Papiere liegen herum, verrostete Rohre und aller möglicher Müll, jedoch nicht westlicher Müll, reich in seiner Heterogenität und Farbvielfalt, sondern osteuropäischer Müll, schwer und monoton wie die Umgebung selbst. Alte Fernsehgeräte aus den 60iger Jahren und andere, schwer definierbare elektronische Ausrüstungsgegenstände sind auf Regalen in dem schmalen Korridor aufgehäuft, der zu Toiletten ohne Türen führt (ich muß sofort an eine Freundin denken, die in Kalifornien lebt und auf die Frage, warum sie Russland verlassen habe, antwortete, es gäbe nur einen Grund, sie habe die öffentlichen Toiletten in Russland nicht mehr ausgehalten). Doch diese Räume sind nicht bombardiert worden. Sie sind, so wird mir erklärt, die Arbeitsräume der Medienabteilung.

Schließlich betreten wir das Computerlabor, das etwas weniger ruinös wirkt und in dem einige Silicon Graphics Rechner stolz in der Mitte des Raumes blinken. Ein ernst dreinschauender junger Mann - ein postgraduierter Student - erläutert mir sein Internet-Projekt. Mich durchfährt ein plötzlicher Ruck, ein unerwarteter und schmerzhafter Schnitt von einer Welt in die andere - aus der alten, verfallenden, melancholischen, untergehenden aber gleichzeitig warmen, komfortablen und sehr menschlichen Welt, (denn was kann menschlicher sein als osteuropäische Innenräume, bevölkert von halbkaputten Gegenständen, die Zeuge von Generationen menschlicher Dramen waren, und, durch Dekaden menschlicher Nutzung, selbst beinahe menschlich geworden sind, oder wie Haustiere - eine Umgebung, die Menschen willkommen heißt und beschützt, die sie mit einem besonderen psychologischen Nebel umhüllt, ähnlich wie die Hintergründe in niederländischen Bildern aus dem 17. Jahrhundert, die Innenräume zeigen) - hinein in einen universellen elektronischen Raum: Reihen von Verzeichnislisten, aggressiv aneinandergereihte Icons ohne jedes Merkmal einer Nationalität, die perfekte Ordnung eines Computer-Desktops, die meinen Blick attackiert und herausfordert. Ich fühle mich, als wäre mir eine heiße Tasse Tee plötzlich von den Lippen weggezogen worden; als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen und stattdessen eine grelle elektrische Birne eingeschaltet; oder als hätte ich in einem Flughafenhotel einen kleinen Raum betreten und dabei einen anonymen Raum entdeckt, mit Oberflächen aus nacktem Metall, die, im Kontrast zu den leeren Oberflächen eines alten niederländischen Stillebens, das mich baden und streicheln, wärmen und in Wohlbehagen wiegen würde, nur meinen Körper reflektiert, ihn auf mich zurückwirft und mich mit mir alleinläßt.

Die Computeroberflächen zwingen mich, ein anonymer Passagier zu sein, erinnern mich, daß ich bald wieder abreisen muß, diesen Raum verlassen, dieses Gebäude, dieses Verzeichnis, diesen Server - immer im Transitzustand, immer in Bewegung, niemals ankommend; ich werde gezwungen, nicht mehr als ein Festkörper zu sein, der, für einen bestimmten Zeitraum, einen Platz in einem Flugzeug, der ihm zugewiesen wurde, besetzen wird (mich so der philosophischen Definition fügend, daß ein Objekt etwas ist, das ein Volumen im Raum ausfüllt); oder ein Paket von Daten, das zwischen Servern verschickt wird, nicht mehr. Saubere Oberflächen, von Hotelzimmern, Flughafen-Lounges oder Computerbildschirmen; in jedem Fall, immer gezwungen aufzubrechen, und nirgends für längere Zeit zu bleiben.

Was ist eigentlich der Computerraum? Es ist der Raum, in dem alle Zeichen gegeneinander ausgetauscht werden können, ein Raum, in dem alles nur ein Zeichen ist - kurz gesagt, ein Raum, in dem der Marktplatz zu einer Ontologie wurde, in dem alles nur aus Transaktionen besteht, (Botschaften fragen Server ab; Aufzeichnungen befragen ihre Datenbanken; Modems verhandeln miteinander die zu benutzenden Übertragungsgeschwindigkeiten und -Protokolle) sowie aus Übersetzungsvorgängen (zwischen verschiedenen Arten von Medien, zwischen Computersprachen, zwischen Usereingaben und Betriebssystemen), und in dem es keinen Platz für Atmosphären gibt, Stimmungen oder Ineffizienz. Nun, wenn der Computerraum zu unserem Raum wird, der Raum in dem wir täglich mehr Lebenszeit verbringen, wie können wir in diesen Raum zumindest ein wenig von diesen niederländischen Gemälden einbringen, ein wenig Luft, ein wenig Bedächtigkeit und das Gefühl, verweilen zu können, etwas von den Hintergründen dieser Gemälde, deren einzige Funktion es ist, den abgebildeten Objekten Raum zum Atmen zu geben, und damit Würde - aber auch uns Wärme zu geben, uns Fluchtorte für unserer müden Augen zu geben, nachdem sie den scharfen Schnitt einer Zitronenschale oder die glänzenden Reflexionen auf einem Silberbecher aufgenommen haben; um ein Spiegel für unseren Atem zu sein, ein Äquivalent für jene Momente in Unterhaltungen zwischen guten Freunden, in denen nichts gesagt wird, aber dennoch Bedeutung entsteht.

Ich bin innerlich ein wenig verärgert, weil ich plötzlich in diese kalte Computerwelt versetzt wurde - aus Höflichkeit und Solidarität verfolge ich jedoch weiter die Ausführungen des Studenten, unterbreche ihn manchmal durch Fragen. Sein Englisch ist nicht sehr gut. Ich verstehe die Details des Projekts nicht, beschließe aber, nicht darauf zu drängen. Das Projekt hat etwas mit der Visualisierung von Usern zu tun, die sich auf der Projektsite einloggen. Ihre Internetadressen werden auf Punkte aufgetragen, die zusammen ein virtuelles Objekt formen. Oder etwas in dieser Richtung. Ich stelle höflich noch einige Fragen und versuche, den Studenten zu ermuntern. Was, denke ich, hat das Projekt mit dem Raum zu tun, in dem wir uns befinden, mit seiner besonderen, postsozialistischen Atmosphäre von Verfall und Vernachlässigung, seinem osteuropäischen Gefühl von Nebel, von jener Art von Verfall, der mich wärmt wie der Hintergrund eines Gemäldes, das ich früher an diesem Tag in einem Museum betrachtet habe? Was hat das Projekt mit der Stadt zu tun, die jenseits dieses Fensters liegt, dieser Stadt, die verzweifelt versucht, sich dem Westen anzuschließen, indem sie sich mit Coca Cola Schildern bekleidet, indem sie Touristen und Mafia-Leute aus allen Ländern willkommen heißt, indem sie ihre Bars und Restaurants die ganze Nacht geöffnet hält, so daß ein Tourist oder Mafiamann niemals Hunger oder Durst fühlen muß? Was hat dieses Projekt mit der Vergangenheit der Stadt zu tun, ihren Boulevards und Bezirken, ihren Fassaden aus Renaissance und Barock, ihren goldenen Plätzen und Monumenten und dem Schloß hoch über dem Fluß? Was hat dieses Projekt schließlich mit dem Leben seines jungen Schöpfers zu tun, mit seiner Erfahrung, während der letzten Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft aufzuwachsen, der kurzen Begeisterung in den ersten Jahren nach dem Ende des Kommunismus und der dann langsam wachsenden Enttäuschung, daß das Neue, wie die Cola-Schilder überall in der Stadt, vom Alten umgeben bleibt, einem Alten, das es langsam auffrißt, vergiftet, auflöst, es mit einer Patina von Korruption bedeckt, von zerbrochenen Freundschaften, zerstörten Hoffnungen und Träumen?

Warum? Warum hätte dieses Projekt auch an hunderten anderen Orten auf dieser Welt geschaffen werden können? Erst später verstehe ich. Es ist eigentlich sehr einfach und hat mit der kulturellen Rolle zu tun, die das Internet ausserhalb der USA und einiger weniger anderer hochentwickelter Länder einnimmt. Für den gesamten Rest funktioniert das Internet als ein Agent der Modernisierung, wie das auch andere Kommunikationsmittel getan haben - Eisenbahn, Post, Telephon, Auto, Flugzeug, Radio. Das Internet ist eine Möglichkeit für Leute, einen singulären sozio-linguistischen Raum zu betreten, der definiert ist durch ein bestimmtes euro-englisches Vokabular, durch die Namen von Stars, durch Computerkompetenz und durch Popmusik. Für Leute an verschiedenen Orten ist es ein Weg, der Modernität beizutreten - einem homogenen Raum aus Währungswechselstuben, Coca Cola Zeichen, Raves, Club-Mode, CDŽs und ewiger Jugend, die selbst das beste Symbol für ständige Bewegung und Veränderung ist, ein Zeichen dafür, seine Wurzeln und Traditionen zurückzulassen - ein Raum, in dem alles in Währungssymbole übersetzt werden kann, ebenso wie ein Computer alles in Bits konvertiert.

Das ist der Grund, warum wir im Westen nicht kultur-spezifische Internetkunst erwarten sollten, ebenso wie keine Internetdialekte, keine nationalen Schulen von Netzkunst. Es ist auch der Grund, warum ich von diesem jungen Mann nicht verlangen kann, daß sein Projekt etwas von seiner einzigartigen Identität wiedergibt, oder von seiner einzigartigen Geschichte, seiner Kultur. Das wäre ein innerer Widerspruch. Zu glauben, daß verschiedene Länder verschiedene Schulen von Netzkunst entwickeln würden, wäre dasselbe als zu erwarten, daß sie ihre speziellen Versionen von Coca Cola entwickeln würden. Die ganze Bedeutung und Funktion von Coca Cola aber ist, daß es überall auf der Welt gleich ist.

Das Netz ist ein Agent der Modernisierung ebenso wie eine perfekte Metapher für diese. Das Netz ist die Post, das Telephon, das Auto, die Eisenbahn an ihr Extrem gebracht. Deshalb sollten wir nicht überrascht sein, daß ein typisches Netzkunstprojekt, ob es nun in Seattle oder Bukarest gemacht wird, in Berlin oder Odessa, von Kommunikation handelt, vom Internet selbst. Netzkunstprojekte sind Materialisierungen sozialer Netze. Diese Projekte machen die Netzwerke sichtbar und schaffen sie zugleich, ebenso wie Raves, Clubbing-Mode und Piercing, CDŽs, Namen von Musikgruppen, transnationaler Unternehmen, von Produkten. Für junge Leute in Oslo und Warschau, Belgrad und Glasgow ist es ein Weg, die Modernität zu betreten und für den Rest der Gesellschaft zu ihrem Agenten zu werden.

Und ebenso wie es naiv wäre, eine "Tankstellenkunst" ernst zu nehmen (obwohl wir uns natürlich sofort eine ernsthafte Museumsaustellung über das Bild der Tankstelle in der modernen Landschaftsmalerei vorstellen oder in Erinnerung rufen können, und sogar dicke Kunstmonographien oder anthropologische Studien über dieses Thema), so ist auch die Kategorie der Netzkunst ein logischer Fehler. Die sogenannte Netzkunst ist einfach bloß die sichtbare Manifestation von sozialen, linguistischen und psychologischen Netzen, die von eben diesen Projekten geschaffen oder zumindest sichtbar gemacht werden, und von Leuten, die den Raum der Moderne betreten, jenen Raum, in dem alte Städte den Preis für den Anschluß an die globale Ökonomie bezahlen, indem sie sich selbst disneyfizieren, der Raum, in dem jeder einen Preis bezahlt: die Kommunikation von Person zu Person mit der virtuellen Kommunikation eintauschend (Telephon, Fax, Email), geschlossene Gruppen gegen virtuelle Gemeinschaften, die öfter als alles andere wie Bahnhöfe sind, wo alle immer nur im Kommen und Gehen sind, zum Unterschied von den gemütlichen Cafes der alten Avantgarde; heruntergekommene aber warme Innenräume eintauschend gegen glänzende, helle aber kalte Oberflächen. Kurz gesagt, Kerzenlicht gegen Glühbirne, mit allen Konsequenzen, die dieser Tausch nach sich zieht.

Ich danke dem Studenten und verlasse das Gebäude. Draußen versucht ein Paar ein kaputtes Auto anzuschieben; feine Frauenunterwäsche ist in einem kleinen Geschäft zur Schau gestellt; einige Taxis warten auf nichtexistente Fahrgäste. Es wird kalt und ich schließe meinen Mantel. Am folgenden Tag verlasse ich die Stadt. Die Erinnerung, die mir bleibt, ist die eines jungen Paares, beide in gestylten (zumindest nach der örtlichen Mode) zusammenpassenden Sportanzügen, ein Auto in der Mitte der Straße an einem Sonntagmorgen anschiebend. Von ihnen abgesehen ist die Straße leer. Die Luft ist klar und die Umrisse der Gebäude sind in klares Septemberlicht getaucht. Das Auto will nicht anrollen. Das Paar lacht. Ihre Gesichter zeigen eine Mischung aus Entschlossenheit und Zufriedenheit, Melancholie und Zufriedenheit.

Zwei Wochen später bin ich in einem anderen osteuropäischen Land, und werde vom Flughafen in die Stadt gefahren. Als wir in die Außenbezirke der Stadt kommen, fahren wir an einem Pärchen in Sportbekleidung vorüber, die neben einem Auto mit geöffneter Motorhaube stehen. Bevor sie außer Sichtweite sind, habe ich Gelegenheit, einige der krummen Linien der Karosserie des Wagens wahrzunehmen, seinen schmutzigen Motor und vielleicht ein oder zwei Details des Gesichts der Frau. Ist das dasselbe Paar, das ich noch aus der anderen Stadt in Erinnerung habe? Sind sie hierhergekommen, in der Hoffnung auf mehr Glück (folgt man der englischen Zeitung, die ich im Flugzeug gelesen habe, geht es diesem Land wirtschaftlich etwas besser. Die Kommunisten führen marktwirtschaftliche Reformen ein. Der westliche Tourismus nimmt zu. Ein neuer BMW-Händler hat gerade im Schloß eröffnet, während McDonalds im Begriff ist, eine Flaggschiffniederlassung in der alten Oper zu eröffnen, die sicherlich zu einem Magneten der Stadt werden wird, zum zentralen Treffpunkt ihrer Jugend; und es gibt sogar einen Internet-Provider, der Zugang über ISDN anbietet, was nur den entsprechenden Betrag von zwei Jahresgehältern kostet). Es kann aber nicht dasselbe Paar sein. Sie sehen viel älter aus, ebenso wie ihr Auto. Und dieses Paar lacht nicht mehr. Ihre Gesichter sehen mehr in sich geschlossen aus, verzweifelter. Dieses Paar wird warscheinlich nie das Internet benutzen, doch ihre Kinder werden es nutzen - in der Hoffnung, dem Verfall zu entgehen, und dem Schicksal zu entrinnen, ein Paar mittleren Alters zu werden, das sich über die Motorhaube eines Wagens beugt, der seit Jahrzehnten nicht mehr lackiert wurde und aussieht, als wäre er durch die Sahara gefahren worden.

Zug, Telephon, Radio, Musikvideos, Clubbing-Mode, CDŽs und jetzt das Internet - das sind die Werkzeuge der Modernisierung, Eintrittskarten in die Welt der sauberen Ecken, eine Welt bestehend aus uniformen hellen Oberflächen, eine Welt so hervorstechend und scharf wie die Pixel, die ihre Bilder formen und in der kaputte Autos einfach irgendwo außer Sichtweise stehengelassen werden, wo nur Athleten Sportbekleidung tragen und auch nur während der Wettbewerbe.

Lev Manovich, September/Oktober 1997

Aus dem Englischen von Armin Medosch

Echtzeit-Theorie I