Ein Genre vor der (Selbst)Auflösung?
Das Dilemma der Science Fiction-Literatur
In amerikanischen Technokultur-Zirkeln wurde schon darüber spekuliert, ob die technische Innovationsfähigkeit eines Landes nicht in direktem Verhältnis zu der Zahl der Science Fiction-Bücher stehen müsse, die in diesem zirkulieren. Dann kann es eigentlich für die Bundesrepublik nicht gut aussehen. Wolfgang Jeschke, seit fünfundzwanzig Jahren Herausgeber der größten bundesdeutschen SF-Reihe bei Heyne, weist im Editorial des SF-Jahrbuches 2000 erneut auf die schwierige Lage der Veröffentlichung von SF-Büchern in der Bundesrepublik hin. Die Zahl der umsatzstarken Wettbewerber ist im vergangenen Jahr weiter geschrumpft (gerade geht die Nachricht durch die Medien, dass Heyne vom Springer-Verlag aufgekauft worden ist).
Während SF bei den visuell orientierten Medien wie Film und TV-Serie eines der führenden Genres und bei Comic und Computerspiel sogar das führende Angebot ist, ist die Situation der SF-Literatur nach wie vor kritisch. Zwar scheinen SF-Motive stärker in die allgemeine Literatur zu diffundieren und dort auch goutiert zu werden, aber der Kernbereich des gedruckten SF-Wortes geht weiter zurück. Ist SF also zu Beginn des neuen Jahrtausends vor allem ein multimediales Phänomen? Und ist sie als Literaturgattung in einer immer weiter expandierenden "SF-Welt" überflüssig geworden?
Eine bildungsbürgerlich übertünchte Abneigung gegen die SF scheint in der Bundesrepublik eine tief verinnerlichte Einstellung zu sein. In der Eröffnungsrede zu einer Veranstaltung, die sich immerhin mit Themen der Technokultur beschäftigt, wird SF als "halbseidenes Genre" bezeichnet. Ein deutscher Techniksoziologe gibt rührig zu Protokoll, dass er kürzlich festgestellt habe, wie wichtig TV-Serien wie Star Trek für die Visionen amerikanischer Ingenieure und Wissenschaftlicher sind, und dass er jetzt beschlossen habe, die Rezeption der Serie nachzuholen. Diese Ahnungslosigkeit ist umso erstaunlicher, hat sich doch gerade die Medien-SF in den letzten Jahrzehnten zu einem riesigen Geschäft gemausert. Die SF in ihren verschiedenen Medienspielarten ist wahrscheinlich sogar das erfolgreichste Genre der Unterhaltungsindustrie geworden. Und genau dieser Erfolg hat zu der Vermutung geführt, dass der "Literaturteil" des Genres sich im Niedergang befindet, erstickt am eigenen Erfolg sozusagen. Die Wirklichkeit ist in vieler Hinsicht zu einem Abbild von SF geworden; ihre Zeichen und Symbole sind überall: in der Werbung, im TV, in Musikvideos, so dass ihre Elemente zunehmend unkenntlich werden. Die TV-Werbung beispielsweise für Telefontarife wirkt futuristisch, die Kolonisation des Mondes gibt den Hintergrund für eine Jeansreklame ab und die "längste Praline der Welt" landet im Palast eines intergalaktischen Sternenreiches.
Aber es soll um Literatur gehen. Nach einem Boom Mitte der achtziger Jahre ging es mit der Publikation hierzulande stetig bergab. Die Krise ist jedoch international. Zwar werden in den USA 250 neue SF-Bücher pro Jahr herausgebracht, aber auch dort macht man sich Gedanken zur Zukunft der SF-Literatur. Ein Autor wie Barry N. Malzberg erklärt sie denn auch gleich für tot.
Eine Meinung, die man angesichts der sehr realen Krise der SF-Literatur zu hören bekommt, ist, dass es sich nur um eine ganz normale Überproduktionskrise handele. Es werde einfach zuviel publiziert. Wenn man einen auf SF spezialisierten Laden betritt, möchte man dieser Meinung zustimmen. Es gibt heute praktisch niemanden mehr, der alle Neuerscheinungen im englischsprachigen Raum lesen könnte. Das ist in der Gründungsphase der SF anders gewesen. Neben etwas abstrusen Annahmen, dass die Titelbilder zu schlecht seien und potentielle Leser abschrecken, ist ein ernster zu nehmendes Argument, dass sich einfach das Leseverhalten geändert habe. Lesen scheint heute eine vornehmlich weibliche Leidenschaft zu sein, und Frauen seien nun mal nicht an Katastrophen und den Errungenschaften von Technik und Wissenschaft interessiert. Auch mache sich zunehmend die Medienkonkurrenz bemerkbar. Die Zeitbudgets für den Konsum von Unterhaltung werden neu über Kino, TV, Buch, Computerspiel und Internet verteilt - eine Entwicklung, die evident ist, aber noch keine Erklärung liefert. Nach einem kurzen Abriss der historischen Entwicklung der SF wird ein Blick in die aktuelle Diskussion der SF aber zeigen, dass die Beziehung SF/Wissenschaft heute komplexer gedacht werden muss und der SF verstärkt Probleme der narrativen Codierung ins Haus stehen.
Die Geschichte der SF
Science-Fiction-Autoren schreiben heute über Verhältnisse, die es uns ermöglichen, das Potenzial neuer Technologien wahrzunehmen.
Marshall McLuhan 1967
"Romanliteratur aus Gebieten der Wissenschaft und Technik" - so lautete eine Umschreibung der Science Fiction-Literatur, als sie in den fünfziger Jahren zum ersten Mal in der Bundesrepublik erschien. Der Philosoph Gotthard Günther war es, der den Begriff Science Fiction hierzulande einführte, als er 1952 die Reihe "Rauchs Weltraum Bücher" herausgegeben hat. "Utopischer Zukunftsroman" ist eine andere Bezeichnung aus dieser Zeit. Diese Beschreibungen deuten an, an welchem Schnittpunkt sich die SF befindet: in ihr überkreuzen sich Motive von fantastischer Literatur (Märchen, historischen Vorläufern wie der "gothic novel", zu der auch ein Werk wie "Frankenstein" gezählt wird), der Utopie (als zeitbedingte Vorwegnahme von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen oder als Projektion einer idealen Gesellschaftsform), der beginnenden Popularisierung von Wissenschaft und Technik (Entstehung der bürgerlichen Medienöffentlichkeit) und der Eigengesetzlichkeit von Literatur selbst (Erfindung von Formen des Romans, der Novelle usw.).
Die SF hat in ihrer Genre-Geschichte einige Krisen und Umbrüche erlebt. Lassen wir an dieser Stelle mal Vorläufer wie Jules Verne, Herbert G. Wells und einige andere weg, so hat sich die moderne SF als Unterhaltungsmedium in den USA der zwanziger Jahre herausgebildet. In den Pulp-Magazinen werden anspruchslose Abenteuergeschichten veröffentlicht, in denen kühne Helden den outer space erobern und die nicht von ungefähr Western-Geschichten ähneln. Der Herausgeber und Autor John W. Campbell läutet das "goldene Zeitalter" der SF in den vierziger Jahren ein, indem er in intensivem Austausch mit den SF-Schaffenden Ideen-Konzepte ausarbeitet. Diese "hard SF", die sich auf die Fortschritte in den Naturwissenschaften und der Technik beruft und zu wissenschaftlich exakten Extrapolationen ihrer Entwicklungen kommen will, ist die dominierende Form zu dieser Zeit. Die berüchtigten Roboter-Gesetze von Isaac Asimov sind dafür ein gutes Beispiel.
In den 50er Jahren tauchen Autoren auf, die verstärkt auf soziale Gegebenheiten Bezug nehmen und sich den "soft sciences" zuwenden. In den 60er Jahren wird dann die "new wave" im Genre heftig diskutiert, ein ästhetische Bewegung, die von Europa aus ihren Anfang nimmt (ausgehend von der britischen SF-Zeitschrift "New Worlds"), sich an der literarischen Avantgarde orientiert und an damaligen Werten wie der Bewusstseinserweiterung, und sich auf den inner space stürzt, auch, um SF für die politische Gegenkultur zu entdecken. Ein neu gewecktes Bewusstsein für Umweltprobleme und die Konzepte des Feminismus finden ihren Einzug im darauf folgenden Jahrzehnt. In den Achtzigern erfolgt im Genre die Implosion des Cyberpunk, der vor allem mit Williams Gibsons Konzept des "Cyberspace" den Einfluss der neuen Technologien auf das Alltagsleben im Visier hat und Fragen der Posthumanität neu stellt. Aus dem vergangenen Jahrzehnt ist nichts Sensationelles zu vermelden, außer vielleicht, dass die Autoren genug damit zu tun haben, den Niedergang des alten Weltsystems zu verarbeiten, dass verstärkt Alternativweltgeschichten geschrieben werden und schließlich der Mars als Projektionsfläche für neue Gesellschaftsformen außerhalb des irdischen Bezugssystems (wieder)entdeckt wird.
Hugo Gernsback, ein aus Europa eingewanderter Ingenieur, ist es, der in den 20er Jahren den Begriff "SF" prägte. Seiner Sicht von SF ordnet er einen klaren Zweck zu, nämlich die Vorhersage von technischen Entwicklungen - eine Haltung, die in den vierziger Jahren ihren Höhepunkt erlebt, aber im Unterschied zu den Anfängen auch literarische Qualitäten aufweist. Die sich überlagernden Motiv-Felder der SF erschweren die Versuche einer Definition der SF, die die Autoren und Kritiker John Clute, Peter Nicholls und Brian Stableford in einem lesenswerten Lexikonartikel zusammengefasst haben.
SF entstand einerseits aus der Verschmelzung vieler eigenständiger Gattungen, andererseits stellt sie auch etwas Neues dar. Ihre Entstehung ist eng verbunden mit dem Beginn der industriellen Revolution, in der Wissenschaft und Technik zum ersten Mal umfassend im Alltag der Leute auftauchen und diesen bestimmen. Der Fortschritt ist in seinen ambivalenten Erscheinungsformen vielfältig sichtbar und wird von der Vorläufern der modernen SF anschaulich gemacht. Der Einbruch der wissenschaftlichen Rationalität in die Organisation industrieller Prozesse und einer begleitenden Infrastruktur läßt die Planung, die Antizipation von Resultaten in neuer Qualität zum Gegenstand des Denkens werden, was auch in der Literatur gespiegelt wird.
Der Verlust der Zukunft
I think that SF stories today are more and more beginning to sound like Fables of the Third World: Stories whose protagonists, often human, represent cultures which have been colonized by the future. The future may come in the form of aliens, or the catnip nirvana of cyberspace, or as AIs, or as bio-engineered transformations of our own species: but whatever it touches, it subverts. SF stories of this sort can - depressingly - read rather like manuals designed to train Polynesians in the art of begging for Cargo; but they can also generate a sense of celebration of the worlds beyond worlds beyond our species' narrow path.
John Clute
Eigentlich sind Aussagen über die Krise der SF seltsam angesichts der thematischen Vielfalt, in der sich das Genre heute präsentiert. Zu klassischen Themen wie Space Opera, Invasionen, Mutationen, globale Katastrophen (ehemals z.B. der Atomkrieg), Roboter, Zeitreisen, Computer und Künstliche Intelligenz kommen neue wie Nano- und Gentechnologie hinzu. Das Genre weist auch formal ein breites Spektrum auf: von realistisch gehaltenen Techno-Extrapolationen, auch als "sciencefaction" (Die Zukunft hat es auch nicht leicht), bis zu märchenhaften Science Fantasy-Elementen, von (neu aufgelegten) utopischen Anwandlungen bis zu postmodernen Experimenten. Das Ergebnis: SF ist weniger denn je eine geschlossene Gattung.
Die Positionierung von Autoren in der realen Welt ändert sich und erfährt eine hohe Respektabilität. Sie fungieren als Berater in Hollywood und Washington, schreiben Sachbücher oder tummeln sich auf dem lukrativen Gebiet der Futurologie, der Zukunftsforschung. Die Futurologie hat - trotz ihrer Fehlschläge - einen ungeheuren Aufschwung genommen und produziert mit ihren Szenario-Methoden einen SF-"Nebenmarkt", in den SF-Autoren eingespannt sind (Autoren wie Bruce Sterling oder William Gibson werden mit dem bekanntesten Futurologen-Club, dem Global Business Network, in Verbindung gebracht).
Viel ist spekuliert worden über den Einfluss, den die SF auf den technischen Fortschritt gehabt hat. Werden abwechselnd Satelliten, PCs und die Atombombe genannt, um die Prognosekapazität dieser Literaturform zu untermauern, sind eine Menge anderer Erfindungen nicht als ihre imaginäre Errungenschaft bekannt geworden, darunter die Nanotechnologie und das Internet. Die konkrete Form dieser Techniken wird sowieso immer nur in einer relativen Annäherung beschrieben. Insofern kann man sagen, dass ein Internet als eine Art Welt-Datenbank vorweg imaginiert worden ist, und das ist ja nicht ganz falsch. Das Internet ist vorgedacht worden mit dem "Cyberspace" von William Gibson, der Gespräche über Virenprogrammierung Anfang der 80er Jahre als Anregung nahm, während seine Erfindung wiederum die Fantasien von Internet-Unternehmern beflügelt.
Ein berühmtes Zitat von Herbert George Wells aus dem Jahre 1921 warnt vor der Vernichtung der fossilen Rohstoffe zum Zwecke der Fortbewegung - in einer Zeit, in der es noch keinen nennenswerten Autoverkehr und schon gar keinen internationalen Flugverkehr gab. Nach wie vor werden Artikel zum Thema publiziert, was die SF zur Zukunftsforschung beitragen könnte. Vor einigen Monaten ging die Nachricht durch die Medien, dass irgendwo in einer EU-Einrichtung systematisch SF-Bücher gesammelt und auf technologisch verwertbare Ideen überprüft werden. Es ist bekannt, dass viele Raketenwissenschaftler, die die Mondlandung mit auf den Weg gebracht haben, eifrige SF-Leser waren, ebenso wie heute die Bosse im Silicon Valley auf ihre SF-Lesefrüchte von Romanen neueren Datums verweisen. Trotzdem bedeutet die Prognoseerwartung eine heillose Überforderung der SF, da zukünftige Entwicklungen in Technik und Gesellschaft aufgrund ihrer Überdeterminiertheit nicht vorhergesagt werden können. SF kann für Entwicklungen sensibilisieren, aber das geschieht auf nebensächliche metaphorische Weise. Schließlich erwartet auch niemand vom Krimi-Genre einen ernsthaften Beitrag zur Verbrechensbekämpfung.
Und trotzdem lassen sich Effekte beschreiben, die die SF vor neue Herausforderungen stellen
- SF ist sicher DIE Literatur eines Zeitalters, das die Beschleunigung kultureller Erfahrungen erlebt, während es in früheren Jahrhunderten kaum solche Veränderungen gab, die sich im Alltagsleben bemerkbar gemacht hätten. SF wird als ein Medium bezeichnet, um sich imaginär auf die Veränderungen vorzubereiten. Es scheint jetzt, dass die Beschleunigungszyklen so zunehmen, dass sie in der Form der Literatur möglicherweise diese Vorgänge nicht mehr wiedergeben kann.
- Sieht man sich die visuelle SF an, erhält man sowieso das Gefühl eines allgemeinen Fantasie-Stillstands. Viele TV-Serien oder Filme wirken reichlich selbstreferentiell und recyclen alter Stoffe. Die Zukunft ist aber auch nicht mehr das, was sie einmal war. Nicht umsonst hat man "Star Trek-Voyager" den Vorwurf gemacht, schwache Geschichten zu erzählen und dafür alles im modernisierten techno-bubble zu ertränken. Star Trek mit seinen schon historischen Warp-Wandlern und Gravitonen-Generatoren, den Multiphasentraktor-Strahlen und den berühmten Heisenberg-Kompensatoren muss da - Techniksoziologen, aufgepasst - nicht zum Leitbild des Technikdesigns werden, sondern steht symbolisch für die zunehmende technische Komplexität. Und das Recycling alter Ideen könnte auch auf die SF-Literatur in höherem Maße zukommen.
- Hinzu kommt der Eindruck, dass die Wirklichkeit seit den seligen Anfängen der SF ihre eigene Beschreibung in Form der SF in breiter Front eingeholt hat. Der Abwurf der Atombombe sorgte dafür - so wie es sich in Darstellungen etwas zynisch liest -, dass die SF zum ersten Mal in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Die Mondlandung war eine gesellschaftliche Wunscherfüllung par excellence (mit nachfolgender Desillusionierung). Das waren einige große Linien der Technikentwicklung, die in den letzten Jahren einer unübersichtlichen Zahl von technologischen Fronten gewichen sind.
- Wie ist überhaupt noch Extrapolation möglich? Man stößt zufällig im Internet beim Newsticker von Bild der Wissenschaft online auf folgende seltsame Titelzeile: "Das Brookhaven-Experiment mit seltsamer Materie wird die Erde wohl nicht zerstören". Liest man den kurzen Bericht, erfährt man, dass es um neue Physik-Experimente in einem aufgerüsteten Beschleuniger geht, die vielleicht unerwünschte Nebenwirkungen hätten zeitigen können, ein Thema, das ähnlich in mehreren zeitgenössischen SF-Romanen auftaucht, so in "Der ewige Friede" von Joe Haldeman und "Cosm" von Gregory Benford (beide bei Heyne). Ein aktueller "Zusammenfall" von Realität und Fiktion?
- Es ist (noch) schwerer geworden, den Naturwissenschaften auf der Spur zu bleiben. Die Naturwissenschaften sind in ihrer Kommunikation heute so abstrakt, dass die meisten ihnen nicht folgen können. Selbst wenn eine Mission der SF sein sollte, aktuelles Wissen zu popularisieren (und einige glauben immer noch daran), steht sie vor großen Schwierigkeiten der Darstellung. Die Naturwissenschaftler produzieren außerdem mittlerweile ihre eigenen "großen Erzählungen", vielfältige Spekulationen in Sachbüchern.
- Die Funktion des Nachdenkens über und des Warnens vor zukünftigen Erscheinungen geht stärker auf die allgemeine Literatur über. Stichwortartig sei hier verwiesen auf Michel Houllebecq oder den neuen Roman von John Updike.
- Die Zukunft erscheint zunehmend als eine "Mauer", die sich jeglicher Erkenntnis, sei es wissenschaftlicher oder literarischer Art, entzieht. SF kann offenbar immer weniger eine Zukunft ausmalen. Auf paradoxe Weise hat die SF gewonnen, indem sie die imaginären Grundlagen der Technokultur mitgelegt hat, deren Auswirkungen jetzt ein "Wahrnehmungshindernis" erzeugen.
Der britische Kritiker und Kolumnist für SF Weekly, John Clute, versucht eine umfassendere Erklärung der SF-Krise. Das Genre verwandele sich tiefgreifend. Die Menschheit bewege mehr denn je "die Räder ihrer eigenen Geschichte", und SF habe sich durch ihre historische Leistung instandgesetzt, genau das zu tun. Nun sei die Illusion, die Zukunft zu beherrschen, einer tiefen Unsicherheit gewichen.
Als Beispiel für eine literarische SF-Reflexion mag der neue Roman von Gibson dienen. William Gibson ist ein Autor, der maßgeblich den Cyberpunk mitgeprägt hat. In seinem neuen Roman "Futurematic" (Die Zukunft als Flohmarkt), dem abschließenden Teil der "Virtual light"-Trilogie, verfolgt er ein anspruchsvolles Konzept, das sich um die Virtualität der Geschichte selbst dreht und Zukunft auf neue Weise verstehen will. Er betont von Anfang an in dem Buch, dass in seiner fiktiven Welt etwas Besonderes vor sich gehe, etwas Großes, aber er kann und will die angekündigte "neue Welt" nicht zeigen. "Was am Ende von 'Futurematic' steht," meint Gibson in einem freitag-Interview, "ist eine Art historisches, schwarzes Loch. Die Geschichte der drei Bücher läuft mit solcher Kraft auf dieses Ende hinaus, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie sie überhaupt noch weitergehen sollte. Ich habe keine Ahnung, wohin die Synergie zwischen dem Digitalen und der Nanotechnologie uns führen wird." Man kann darüber streiten, ob das unscharf bleibende Ende des Buches wirklich der Komplexität des beschworenen grundlegenden Wandels entgegenkommt, ist dieser doch so weitreichend und für unser heutiges Bewusstsein so abstrakt, als dass man ein umfassendes und sinnvolles Bild von ihm zeichnen könnte.
Gibson versucht, sich einem anderen Bewusstsein von Geschichte zu nähern, in der die Technik nur ein Aspekt ist. Ist sein "Cyberspace"-Konzept ein Meilenstein in der Geschichte der SF, so war es doch gebunden an die feste Struktur einer verorteten Computertechnik. In "Futurematic" ist es die Virtualität von Geschichte selbst, das Gesamt ihrer Potenziale und Triebkräfte, die mittels Nanotechnologie eine neue Ausprägung erfahren wird, was die Auslöschung der Geschichte und der Subjektivität bedeuten kann, wie wir sie kennen. Die Zukunft ist pluralistisch in dem Sinne, dass sie von verschiedenen Bewusstseinen gestaltet werden kann, wobei es eben darauf ankäme, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und über eine entsprechende Wahrnehmung zu verfügen (so erklärt sich auch der Titel der amerikanischen Originalausgabe "All Tomorrow`s Parties", es geht um die Beteiligten aller möglichen Zukünfte). Es scheint, als habe sich Gibson durch die Analyse von Clute anregen lassen, dass man Geschichte heute als "Vielfalt von Optionen" darstellen oder begreiflich machen müsse.
SF als Spielart des Fantastischen
The 20th century is almost dead, and I think 20th century SF is dying. We need a new kind of fiction.
Bruce Sterling
Eine Frage ist bisher vernachlässigt worden, die im Zentrum einer Umschreibung dessen steht, was SF ist: Handelt diese Literatur von der Zukunft oder nicht? William Gibson wird nicht müde zu betonen, dass er die Werkzeuge der SF nur benutze, um über die Gegenwart zu schreiben, die längst selbst "reinste SF" ist. Oder wie der SF-Autor und -Kritiker Samuel R. Delany meinte: "SF handelt nicht von der Zukunft; sie benutzt die Zukunft als eine Erzählform, um die Gegenwart in deutlich verzerrter Form darzustellen."
Der Krimispezialist Thomas Wörtche nimmt den Umstand, dass unter dem Label SF sowohl rückwärtsgerichtete Space Operas, postmodern beeinflusste Sprachspielereien als auch Satiren erscheinen, zum Anlass, ein nicht überzeugendes Plädoyer für die Auflösung eines "missverstandenen Genres" zu halten (in: freitag 3, 1998). Man kann nur über eine Vorstellung von Zukunft schreiben. SF ist ein Spiel mit Möglichkeiten an den Grenzen dieser Vorstellung und balanciert auf eigenartige Weise realistische und fantastische Literatur-Elemente aus. Diese Einkreisung des Phänomens SF ist ein allgemeiner Nenner, trotz der stilistischen und inhaltlichen Ausdifferenzierung des Genres.
Die Zukunft der SF ist selbst genauso wenig vorherzusagen. Vielleicht lassen sich aber einige Punkte beschreiben, die den neuen Möglichkeits-Raum der SF umreißen, ohne ihn gleich "auflösen" zu müssen:
- Die SF nimmt eine Mittelstellung ein zwischen den vorgestellten Polen einer rein realistischen und einer rein fantastischen Literatur, mit stärkerem Hang zum Fantastischen. Jede Literaturart habe - dem französischen Kritiker Roger Caillois - zufolge ihre eigenen Formen und ihre eigenen Regeln, nach denen das Unwahrscheinliche und das Unglaubliche in einer Erzählung vorkommen darf. Die SF ist eine kontrolliertere Angelegenheit, etwas als "wahrscheinlich" und "unglaublich" zu gestalten als die Fantasy, die klassischen Fantastik oder das Horror-Genre. Es werden Dinge als möglich oder glaubhaft präsentiert wie Aliens, Zeitreisen, überlichtschnelle Raumfahrt, für die fiktive wissenschaftliche Erklärungen gegeben werden.
- SF wirkt, wie schon gesagt, zum Teil veraltet: man behält Bilder von Technologien bei, die älteren kulturellen Zuständen verhaftet bleiben. Sie bieten ja auch eine gewisse "Sicherheit": die Leute haben sich an galaktische Reiche gewöhnt (siehe den phänomenalen Erfolg von "Star Wars"). Zum anderen findet eine stärkere Durchmischung der Genres statt: Krimi mit SF, Horror mit SF, Fantasy mit SF usw., was zu Problemen der "Codes" führen kann, der impliziten Regeln.
- Das Verhältnis Wissenschaft/SF lässt sich wohl nur als komplex beschreiben. Es gibt die Meinung, dass Märchenstrukturen, Strukturen des Fantastischen in der SF mit einem wissenschaftlichen Anstrich (als Spiel mit Pseudo-Wissenschaften: der techno-bubble) versehen werden, um sie für die technische Lebenswelt kompatibel zu machen. Die Zeitreise als irreales Gedankenspiel, das mehr aussagt über die zeitgenössischen Wunschvorstellungen der Geschichtssituation, in der es entstanden ist.
- Die Wissenschaft ist mit Fiktionen kaum noch einzuholen. Themen aus der Wissenschaft sind wegen ihres zunehmenden Abstraktionsgrades schwerer zu dramatisieren. Aber es wird Überraschungen geben, neue Metaphern, neue Symbole. Andere Geheimnisse, andere "Mythen", die die SF imaginär offenbart, werden in der komplexen Modellierung von Prozessen liegen, der Information, der Ansteuerung von Prozessen der Selbstorganisation.
- Die Form des Romans ist eine Tradition des 19. Jahrhunderts und spiegelt Vorgänge der bürgerlichen Selbstbehauptung in einer bestimmten Erfahrungswelt. Heute werden Erfahrungen in größeren Kontexten über andere Medien vermittelt. Die SF sieht sich neuen Formen der Unterhaltung gegenüber, die mit großer Wahrscheinlichkeit weiterhin ihre Motive übernehmen, sie aber zugleich als literarische Darstellungsform zurückdrängen. Die neuen Raumerfahrungen im Zuge der Globalisierung, die der Literaturtheoretiker Frederic Jameson beschreibt, sind für die Romanform möglicherweise nicht geeignet. Die SF wird transformiert in neuen Experimenten wie der Vernetzung der Fiktionen.
- Der Code der SF muss abgrenzt werden vom Märchen, dessen Strukturen heute vor allem in der Fantasy-Literatur weiterexistieren, von der Utopie, von der Prognose-Beschäftigung mit Zukunft. Letztlich bleibt es aber eine Geschmacksache, ob man kleine pädagogisch wertvolle Dosen Wissenschaft eingeträufelt bekommen oder aber ein irres Abenteuer genießen möchte, das in unmöglichen imaginären Verhältnissen passiert. Lieben doch manche die SF, weil sie die größten Freiheiten der Fantasie lässt und durch keine Regeln eines wie auch immer gearteten Realismus eingeschränkt ist.
- Eine nicht zu unterschätzender Nebenaspekt erschwert die Rezeption von SF. Eine allgemeine utopische Glorifizierung der Zukunft ist momentan nicht gerade populär, die Sichtweise von Potenziale wird, wenn überhaupt, auf ein schmales Gegenwartsfenster beschränkt. Das Ausmalen einer alternativen Gesellschaftsform steht nicht sehr hoch im Kurs. Eine indirekte Ausnahme sind die diversen Mars-Romane, die tatsächlich über andere gesellschaftliche Verhältnisse auf dem roten Planeten nachdenken. Ein anderer, sich unbefriedigend lesender Versuch eines zukünftigen Geschichtsentwurfs ist der des Historikers Warren Wagar, auf den H.J. Krysmanski am Ende eines Vortrags über den amerikanischen Planetarismus hinweist.
Dass SF nach wie vor eine Denk-Provokation darstellen und den Fantasieraum in immer neue Dimensionen ausweiten kann, beweisen beispielsweise die Romane des australischen Autors Greg Egan, die mit Glossar und wissenschaftlichen Literaturhinweisen erscheinen. An dieser Stelle zum Abschluss nur ein Hinweis auf die Kurzgeschichte "Kopfüber!" von Ian Watson, die in der aktuellen Nummer 39 des semiprofessionellen SF-Magazins Alien Contact erschienen ist. Nach einer angedeuteten Nanokatastrophe, in der ungezählte Nanomaschinen den ganzen Planeten ummodeln, überleben nur die wenigen, die sich zufällig haben kryonisch teilbehandeln lassen. Die Mikromaschinen bauen riesige Kolosse, die einen intelligenten, für Menschen unverständlichen Plan durchführen und auf die kosmische Reise gehen, wobei sie die mit künstlichen Körpern versehenen menschlichen Köpfe als eine Art Maskottchen mitnehmen. Eine Kostprobe:
"Diese Kolosse sind mit tiefen Thermalwurzeln zur Ausnutzung der inneren Energie des Planeten verankert - und es sind Schiffe. Wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind, sollen ihre Matrix-Anlagen gleichzeitig aktiviert werden. Dadurch wird ein globales Matrix-Feld erzeugt. Wenn die Welt implodiert und zu einem Punkt schrumpft, werden all die tausend prunkvollen Riesenpfeile simultan in die kosmische Matrix transferiert - nicht zu irgendwelchen Sternen unserer Galaxis, sondern in die Nähe ebenso vieler erdähnlicher Planeten, die jedoch in ganz anderen, viele Millionen Lichtjahre entfernten Galaxien liegen können. Für dieses PROJEKT wurde die Welt geglättet und sämtliches Leben ausgelöscht, mit Ausnahme unserer konservierten Köpfe. Für die Expansion ins Universum!"
Immerhin mal ein neues Konzept, anstatt immer nur Raumschiffe im Hyperraum zu fantasieren. Vielleicht ist diese "kosmische Matrix" ein neues Symbol, eine neue Metapher. Die Story lässt einen schon den "sense of wonder" spüren, also dass man ein Gefühl für das Abenteuer bekommt, Teil eines gigantischen unbekannten Kosmos zu sein. Und die Grenzen des Vorstellbaren auszuweiten, wird in jedem Zeitalter eine sinnvolle Aufgabe sein. Aber warum soll die SF nicht selbstkritisch an ihre Auflösung denken, wenn sie schon in ihren besten Werken die kulturelle Normalität infragestellt? Warum sollte die SF nicht eines Tages genauso überholt sein wie die "gothic novel" oder der englische "Ritterroman"?
SF-Geschichten, so nebenbei, waren für Gotthard Günther vor vierzig Jahren nur eine Art Zwischenlösung, der Versuch eines neuen "Märchenstils", ohne aber die Literatur einer wahrhaft "planetarischen Kultur" vorwegnehmen zu können.