Ein Lob der Parasiten
Viren, auch die seltsamen Arten der Memetik, gehören der Gattung der Parasiten an. Diese haben bekanntlich keinen guten Ruf, beuten sie doch ihre Wirte aus und ruinieren sie gelegentlich. Ein Kraut gegen sie scheint nicht gewachsen zu sein. Auch kulturell oder gesellschaftlich haben Schmarotzer keinen guten Stand. Parasiten muß man entfernen, weil sie Leistungskraft und Gesundheit des individuellen oder sozialen Organismus schädigen. Einige Gründe, warum es längst an der Zeit wäre, die Parasiten zu rehabilitieren, gibt der folgende Text. Zumindest zeigt er, daß sich evolutionstheoretisch einiges Überraschendes sagen läßt. Die gesamte Kette des Lebens läßt sich als in sich verschacheltes System von Parasiten beschreiben. Es kommt also alles auf die Perspektive an! Noch sind sich freilich die Memetiker nicht darüber einig, ob sie die Meme als Parasiten oder als den Genen analoge kognitive Grundbausteine betrachten sollen. Als Parasiten haben sie möglicherweise ähnlich wie in der Biosphäre die Evolution der Intelligenz und der Kultur vorangetrieben und vor Stillstand bewahrt.
Der Parasit ist ein Erreger. Er bringt das Gleichgewicht oder die Energieverteilung des Systems zum Fluktuieren. Er dopt es. Er irritiert es. Er entzündet es. Oft hat dies Gefälle keine Wirkung. Es kann Wirkungen hervorrufen - und durch Verkettung oder Reproduktion sogar gewaltige.
Michel Serres
Parasiten und Globalisierung der menschlichen Lebenswelt
Trotz der bereits seit Milliarden stattfinden Evolution haben sich die Mikroorganismen, Paradefall der Parasiten, erhalten können. Ohne sie gäbe es auch gar kein "höheres" Leben, das auf deren Stoffwechselprozesse innerhalb und außerhalb ihrer Körper und Zellen angewiesen ist. Ohne Darmflora könnten Wirbeltiere beispielsweise nicht verdauen. Viele Mikroorganismen schaden den höheren Tieren nicht. Manche sind aggressiv gegenüber bestimmten Organismen, verursachen aber bei anderen keine Störungen. Übertragungen von einem Wirt zum anderen können auf höchst komplizierten Wegen vor sich gehen und mehrere Zwischenstationen durchlaufen. Ein Befall etwa von Menschen kann so aussehen, daß die Krankheit latent vorhanden ist und nur einzelne erfaßt, sie kann sich aber auch explosionsartig verbreiten.
Die Welt alles Lebenden ist ein immenses Schlachtfeld, auf dem die verschiedenen Arten als Glieder unentwirrbar verflochtener Nahrungsketten mehr oder weniger zwingend miteinander verknüpft sind.
Jacques Ruffié
Parasiten haben die Geschichte der Menschheit schon immer beeinflußt und deren Evolution mit bestimmt. In ihren bösartigen Varianten haben sie nicht nur einzelne, sondern ganze Völker, wie in Amerika, ausgelöscht und Gesellschaften dezimiert, wie während der Zeit des Schwarzen Todes, als manchmal zwischen 50% und 70% der Menschen des mittelalterlichen Europas starben. Daher ließe sich, wie Jacques Ruffié sagt, eine "Anthropologie der großen Infekte" schreiben, die die Menschheitsgeschichte durch Auslese prägten und Kulturen durch Reaktion auf diese eine andere Richtung einschlagen ließen. Wer sich für die Welt der Mikroorganismen und ihren Einfluß auf die Menschen interessiert, dem sei das Buch "Der Pilz, der John F. Kennedy zum Präsidenten machte" von Bernard Dixon ans Herz gelegt. Es gibt in Form von knappen Porträts einen repräsentativen Überblick über die gewaltige Vielfalt der Mikroorganismen und ihren Einfluß auf die Menschen.
Im Vergleich zum Menschen und zu den anderen 'höheren' Organismen ist die Anpassungsfähigkeit und Vielseitigkeit von Mikroorganismen so groß, daß sie zweifellos noch dann die Erde besiedeln und deren Gesicher verändern werden, wenn wir längst von der Bühne abgetreten sind. Mikroben - und nicht Makroben - regieren die Welt.
Bernard Dixon
Kleinste Eingriffe in eine ökologische Nische können Parasiten zum Verschwinden bringen oder neue erzeugen. Wanderungsbewegungen und Globalisierung vernetzen nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Parasiten, sofern diese sich an die veränderten ökologischen Bedingungen anpassen können. Und auch die Parasiten befinden sich in permanenter Evolution, tricksen mit ihrer rasanten Mutationsrate die Immunsysteme, die Medikamente und die Abwehrmaßnahmen der Menschen aus, um ihr Überleben zu sichern.
Menschen haben sich wegen ihrer kognitiven Offenheit und ihrer Erfindungsgabe - darin den Bakterien vergleichbar - fast auf dem ganzen Planeten dauerhaft verbreiten können, indem sie dessen Ökologie umbauten, neue Nahrungsquellen erschlossen und Wege fanden, in künstlichen Systemen ein ihnen förderliches Mikroklima herzustellen und Gefahren abzuwehren. Während die meisten anderen Arten in ihrem Verhalten und in ihren Lebenswelten spezialisiert sind und sich durch diese enge Anpassung an Nischen neue Arten entwickelt haben, blieb sich der Mensch gleich und hat als Anpassung nur andere Kulturen hervorgebracht, deren Randbedingung lange Zeit ebenfalls weitgehende räumliche Isolation der Populationen war.
Die Anwesenheit eines Räubers multipliziert die Vielfalt.
Tom Ray
Die über die Geschichte hinweg insgesamt zunehmende Verflechtung und Vernetzung der Menschen und ihrer Kulturen fördert nicht nur die Ausbreitung ähnlicher Meme oder deren verschärften Konkurrenzkampf, wie dies Samuel Huntington in Clash of Civilizations drastisch beschreibt, sondern auch die globale Verbreitung von biologischen Parasiten oder, im Falle der Netzwerke, von Computerviren. Ähnlich wie Memetiker und Epidemiologen vor neuen Seuchen warnen, die sich in großer Geschwindigkeit wie Gerüchte verbreiten können, klagen Sicherheitsexperten über die mangelnde Sicherheit des Internet, in dem sich Computerviren, bislang noch reichlich dumme Geschöpfe, ziemlich ungestört verbreiten können. Ihre Zahl steigt ebenso wie die der Rechner sprunghaft an. Bekannt sind heute bereits 12000 unterschiedliche Computerviren. Schützen könne man sich vor allem dadurch, wie Klaus Brunnstein unlängst sagte, daß man "regen Binär-Kontakt mit häufig wechselnden Partnern vermeidet". Die Abwehr von Parasiten oder Memen könnte nur heißen: Abschied vom globalen Dorf und zurück ins lokale Dorf. Noch aber schaffen die Menschen mit ihrer globalen Lebenswelt eine Umwelt, der sich die kleinen Lebewesen allmählich anpassen, von denen man noch bis in die 60er Jahre hinein meinte, daß man ihre schlimmsten Exemplare bis zum Jahre 2000 ausrotten könnte.
Der Umfang der Homo-sapiens-Population nimmt zu und wird zur Jahrtausendwende die Sechs-Milliarden-Grenze überschreiten, d.h. die Chance für pathogene Mikroben vervielfachen sich. Wenn - wie einige prognostiziert haben - 100 Millionen Menschen dieser Population mit HIV infiziert sein werden, verfügen die Mikroben über einen enormen Pool an immunschwachen Petrischalen auf zwei Beinen, in denen sie blühen und gedeihen, Gene tauschen und sich endloser evolutionärer Experimente unterziehen können.
Laurie Garrett
Grundlegendes
Offenbar tritt natürliches Leben dann auf, wenn eine gewisse Komplexität erreicht ist, die es ermöglicht, Lernprozesse als Text in einem Gedächtnis zu speichern, das diesen kopieren und in Instruktionen zum Bau einer neuen Maschine umsetzen kann. Eine der wesentlichen Eigenschaften des Lebens ist ja, unter geeigneten Randbedingungen sich nicht nur als Organismus über eine bestimmte Zeit hinweg erhalten und teilweise reparieren, sondern sich auch selbstreproduktiv fortpflanzen zu können. Beides impliziert ein Gedächtnis, das nicht nur digitale und zweidimensionale Information speichert, sondern auch die Instruktion zur Bildung des eigenen dreidimensionalen Organismus sowie von neuen Organismen enthält.
Durch Kopierfehler, durch Einflüsse von außen (Viren!) oder im Falle der geschlechtlichen Fortpflanzung durch die Zusammenfügung von zwei Gedächtnistexten ist überdies die Möglichkeit gegeben, daß das Gespeicherte sich verändern kann, wodurch die Überlebenschancen der Texte sich durch "Anpassung", d.h. durch interne Umstrukturierung, steigen können. Ob dadurch in der immer noch gelegentlich teleologisch geprägten Sprache der Evolutionstheorie eine Optimierung beinhaltet ist, kann man natürlich bezweifeln, denn es gibt keine irgendwie geartete Möglichkeit, Kriterien der Anpassung über die banale Aussage hinaus anzugeben, daß manche Organismen überleben, also daß sie "funktionieren", mit der sich verändernden Realität fertigwerden und Nachkommen in die Welt setzen. Das Leben verändert selbst seine Randbedingungen, wenn es etwa im Präkambrium mit dem Übergang von anaeroben zu aeroben Organismen erst die sauerstoffhaltige Atmosphäre durch die Photosynthese aufgebaut hat, die zur Grundlage des heutigen eukaryontischen Lebens wurde. Katastrophen, auch selbstinduzierte, gehören offenbar der Evolutionsgeschichte an.
Eingelagert in die Prinzipien der Evolution ist vielfach auch die Idee des Fortschritts, also etwa die der allmählichen "Verbesserung" von Populationen durch ansteigende Komplexität, obgleich noch immer über 90% der existierenden Lebewesen in Form von Mikroorganismen existieren, die nicht wesentlich komplexer wurden, gleichwohl sich aber glänzend den veränderten Bedingungen angepaßt haben. Die meisten von ihnen sind für "höhere" Lebewesen unschädlich oder kooperieren mit ihnen sogar in einer Symbiose, doch zeigt sich bei krankheitsauslösenden Viren, daß sie ungeheuer schnell mutieren können, um das Immunsystem zu täuschen. Die ungeheure Vielfalt der Antikörper allein - man nimmt an, daß es 10 8 verschiedene gibt - zeugt von der Vielfalt der gewissermaßen gespeicherten Mikroorganismen, gegen die sie schützen sollen. Die Antikörper werden aus der Mutation von wenigen Grundstrukturen erzeugt und vervielfältigen sich dann lawinenartig in einer Variante, wenn ein Antigen von den Rezeptoren eingefangen wurde. Im Immunsystem und vermutlich auch im neuronalen Netzwerk des Menschen wird der Mechanismus der Evolution also in gewissem Sinne kopiert, verstärkt und beschleunigt.
Die höheren Organismen sind jedenfalls nur die Spitze eines Eisberges, bevölkert von einer Vielzahl von Mikroorganismen und Parasiten, auf deren Vorhandensein sie angewiesen sind und die im evolutionären Wettrüsten noch immer die Chance haben, die komplexeren Lebewesen durch eine tödliche Kommunikation zu vernichten, indem sie das Programm von dessen Zellen umfunktionieren. Ihre gelegentlich schnelle Mutationsrate macht sie zu einfachen, aber äußerst effizient lernenden Maschinen, die sich geschickt wechselnden Umständen und Wirten anpassen können.
Jenseits der Bewertung mittels Anpassung bürgt die biologische Information jedenfalls für einen Prozeß, der innerhalb eines instabilen komplexen Systems, mit dem der die Information tragende Organismus in Wechselwirkung steht, ständig Neues entstehen und realisierte Texte sterben lassen kann. Wenn man den Einfluß von Parasiten auf die Evolution von Organismen betrachten will, steht jedoch die Anschauung im Weg, daß die Evolution primär durch genetische Mutation oder durch die Selektion von Varianten entsteht. Parasiten könnten dann zwar einen Organismus durch Krankheit schädigen, aber nur dessen Genom verändern, ohne generationenübergreifende Mutationen zu bewirken. Die Selektion greift dann nur von außen durch Selektion derjenigen an, die weniger oder keine Nachkommen zeugen können.
Unsicher freilich ist, ob die "automatische" Mutation des Genoms im Zusammenhang mit der Selektion wirklich für die Evolution so bedeutsam ist, wie die klassische Theorie es meinte. Allein der mittlerweile allgemein akzeptierte Sachverhalt, daß komplexere Zellen durch Symbiose entstanden sind und daß Bakterien untereinander Genstücke austauschen können, scheint der genetischen Informationstechnologie einen höheren Wert einzuräumen. Beispielsweise verändern sich Moleküle, an die nur geringe funktionelle Ansprüche gestellt werden, offenbar schneller als solche, an die höhere Anforderungen gestellt werden. Erklären läßt sich durch das klassische Modell auch nicht, warum bei einigen Linien die phänotypische Veränderung schneller vor sich geht als bei anderen. Und die meisten Allele, die durch Mutation entstehen, gehen durch Zufall wieder verloren, wobei viele Mutationen zwar zur Bildung von nicht-identischen Proteinen führen, diese aber in einer großen Vielfalt in Organismen vorliegen und Unterschiede oft keine phänotypischen Wirkungen zeigen. In aller Regel scheinen Mutationen innerhalb der genetischen Drift entweder letal oder neutral zu sein, was hieße, daß Einflüsse der Umwelt oder Selbstorganisationsprozesse innerhalb des Organismus eine höhere Wirksamkeit haben könnten, als man dies noch vor einiger Zeit vermutet hat.
Meist fehlen beispielsweise Übergangsformen, Brüche und Bifurkationen scheinen ziemlich plötzlich zu geschehen. Da Organismen selbst höchst komplexe Systeme sind, die verschiedene Ebenen sich selbst organisierender Systeme integrieren, wäre auch hier anzunehmen, daß Übergänge nicht kontinuierlich sich ereignen, sondern sprunghaft. Die Einbahnstraße der Entwicklung vom allmählich sich verändernden Genom zum sich im selben Rhythmus verändernden Organismus erscheint auch deswegen zweifelhaft, weil gelegentlich, wie bei Seeigeln oder Laubfröschen, die geschlechtsreifen Tiere nahezu gleich aussehen und auch dieselben Verhaltensweisen zeigen, ihr Wachstum aber sehr verschieden sein kann. So sind die Larven bei sehr nahe verwandten Seeigel gänzlich unterschiedlich, manche können frei schwimmen und Plankton essen, andere lassen sich treiben und können nur am Boden Nahrung aufnehmen. Auch daraus könnte man schließen, daß der Druck der Außenwelt größer ist als die an hier identischen Genen angelegte morphogenetische Entwicklungen.
Schon aus wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen heraus kann freilich die im Genom gespeicherte Information nicht die Instruktion für jede Zelle und auch nicht für die dreidimensionale Form eines Proteins in einer Eins-zu-Eins-Entsprechung festlegen. Vielleicht ist das Genom eher als Katalysator und Morphoregulator zur Bildung von dreidimensionalen Mustern und interagierenden chemischen Prozessen zu verstehen, während etwa die Lokalisierung einer Zelle und ihre spezifische Aktivität aus der Lage und Aktivität von lokalen Zellkollektiven, d.h. aufgrund einer Oberflächenkommunikation zwischen benachbarten Molekülen und Zellen, bestimmt wird, die Teile des Genoms nach Bedarf an- und abschalten. Der genetische Code gäbe dann nur Richtung und Grenzen für eine Entwicklung vor, die selbst wiederum Vielheit und Variabilität innerhalb des Organismus mittels des evolutionären Mechanismus hervorbringt und eine Abgleichung der unabhängig voneinander evolvierenden verschiedenen Zelltypen ermöglicht.
Akzeptiert man eine solche Vorstellung, so wäre die mechanistische Intention, aus der vollständigen Kartierung des Genoms und seiner Protein-, Steuer- und Strukturcodes die morphogenetische Entfaltung des Phänotyps ableiten und dann gezielt differenziert auch beeinflussen zu können, ein Phantasma. Schon bei nicht-linearen Algorithmen ist aus dem Programm das künftige Verhalten eines Computers, in dem Hard- und Software anders als bei biologischen Systemen getrennt sind, nicht mehr vorhersagbar. Wenn die Beziehungen zwischen Geno- und Phänotyp nicht-linear sind und stark auf der Wechselwirkung zwischen Teilen beruhen, die nicht durch eine zentrale Rechen- und Organisationseinheit gesteuert werden, dann läßt sich allein aus dem genetischen Programm weder der dreidimensionale Organismus noch dessen Verhalten vorhersagen.
Modell der Machtübernahme
Die Definition des Lebens - die Fähigkeit von offenen metabolischen Systemen zur Vermehrung, Variation und Vererbung - ist bekannt und auch der Umstand, daß der Übergang ins Unbelebte nicht scharf markiert, sondern fließend ist. Schwierigkeit macht jedoch der Übergang, da man sich nur schwer vorstellen kann, wie die schon ziemlich komplizierte RNA als Vorläufer der DNA spontan hätte entstanden sein können. Man versucht also Brücken zu finden. Ein überzeugender, jedenfalls faszinierender Vorschlag geht vom Bau eines Torbogens aus, für den man zunächst ein Gerüst konstruieren muß, das man dann, wenn der Bogen sich selber stützt, wieder abreißt.
Selbstreproduktiv und mutierend können in gewisser Hinsicht auch Kristalle sein. Auf diese Fähigkeit hat der Chemiker Graham Cairns-Smith seine bekannte Hypothese zur Entstehung des Lebens durch Machtübernahme aufgebaut. Da DNS- oder RNA-Moleküle recht kompliziert sind, geht er davon aus, daß zunächst ein anderer Replikator existiert haben muß, nämlich einfache, aber sich selbst verdoppelnde anorganische Kristalle, wie man sie im Lehm findet. Sobald sich der Kern eines Kristalls spontan herausgebildet hat oder ein entsprechender "Same" in eine übersättigte Lösung fällt, kann er wachsen und eine feste, geordnete Gestalt werden. Hin und wieder bricht er auseinander und die Teile wachsen ebenfalls weiter. Weil beim Wachstum von den sehr regelmäßigen Kristallstrukturen aber auch chemische oder mechanische Fehler auftreten können, die sich im weiteren Wachstum replizieren, besitzt er auch einen Mechanismus der Mutation, wobei die Wachstumsvarianten beispielsweise durch das Auseinanderbrechen an die "Kinder" vererbt werden. Manche Kristalle können schneller wachsen und sich ausbreiten, so daß hier bereits eine Vorform der Evolution auftritt, in der Information hervorgebracht und an neue Generationen weitergegeben wird.
Irgendwann begannen die wachsenden und sich vermehrenden Kristalle organische Verbindungen zu produzieren, die ihnen zum Überleben verhalfen. Manche organische Verbindungen können von Ton gebunden werden. Vielleicht fördern einige das Kristallwachstum, vielleicht begünstigte RNA auch nur die Stabilität des Tons. Cairns-Smith vermutet, daß diese organischen Makromoleküle, die bislang eher Werkzeuge waren, sich plötzlich, nach dem Auftritt einer ersten selbst-reduplizierenden einfachen RNA, schneller vermehrt haben könnten als die Kristalle und so langsam aus dem Status von Parasiten, die auf eine Wirtszelle angewiesen waren, zu autonomen Wesen wurden, welche das kristalline "Leben" allmählich ausgebootet haben. Machtübernahme (Take-over) heißt daher, daß ein Teil einer sich selbst organisierenden Struktur sich verselbständigt und seine Vorform verdrängt. Wenn diese Hypothese stimmen sollte, dann könnte aus der Kristallbildung weiterhin neues Leben entstehen, was wir vielleicht nur noch nicht beobachtet haben, vielleicht haben sich über auch durch die Entstehung des auf DNS und RNA basierenden Lebens die Randbedingungen verschoben. Pikant ist diese Hypothese der Übernahme auch dadurch, daß mit den wiederum auf Silizium basierenden Computern möglicherweise sich eine erneute Machtübernahme vollzieht, so daß das biologische Leben nur ein Zwischenspiel des auf Silizium aufbauenden Lebens wäre. Schließlich beginnt im Augenblick bereits sogenanntes Künstliches Leben etwa in Form von zellulären Automaten oder von Computerviren zu wachsen. Noch sind sie auf ein Gerüst angewiesen ...
Seitdem wurden weitere Vorschläge für die Brücke zwischen Leben und Nicht-Leben gemacht, die auf dem Modell der Machtübernahme und eines komplizierten Parasitenverhältnisses basieren. Möglicherweise, so ein Vorschlag des Physikers Freeman Dyson, haben sich am Ursprung des Lebens zwei verschiedene Gebilde entwickelt. Das eine war fähig zum Stoffwechsel, konnte wachsen und sich durch Platzen vervielfältigen, das andere war ein Informationsträger, der sich replizieren konnte. Würde nun ein Informationsträger in eine solche, zum Stoffwechsel fähige leblose Zelle eindringen und fände darin die zu seiner Kopie notwendigen Stoffe vor, so könnte eine neue Organisationsform entstehen. Möglicherweise also ist die RNA und später die DNA selbst ein Parasit, der sich, als Zellkern eingelagert in das Zellplasma, heute noch von der zum Stoffwechsel fähigen Zelle unterscheiden läßt, aber mit dieser zu einer symbiotischen Beziehung zusammen gegangen ist. Andererseits könnten sich in einer leblosen Zelle auch Bestandteile angehäuft haben, die sich wie Parasiten störend auf den Stoffwechsel ausgewirkt und schließlich zu einer Ko-Evolution geführt haben.
Auch der von Manfred Eigen entwickelte molekulardarwinistische Ansatz geht von der These aus, daß Selektionsmechanismen bereits im unbelebten Bereich der Materie wirksam sind, so daß das Leben aus der Selbstorganisation von Makromolekülen hervorgeht, die durch den Eintritt in Hyperzyklen generiert werden. Das ist jenseits jeder wissenschaftlichen Erklärung der Lebensentstehung schon deswegen spannend, weil hier deutlich wird, daß Selbstorganisation dann eintritt, wenn sich unter bestimmten Bedingungen verschiedene Prozesse gegenseitig aufschaukeln und sich in gewissem Sinne gegenseitig "benützen", woraus Neues in den Grenzen der wechselwirkenden Kräfte emergieren kann. Das Neue wiederum benutzt oder "versklavt", sofern es die lebendige Fähigkeit der Speicherung und Instruktion besitzt, die Agenten und integriert sie beispielsweise wie eine Zelle die Mitochondrien oder Chloroplasten, wie ein Virus die Zelle, wie ein vielzelliger Organismus die verschiedenen Zelltypen oder wie ein Organ die Parasiten, was immer auch heißt, daß unter bestimmten Umständen die angeeigneten Agenten, fremden Organismen oder überhaupt Kräfte aus der Umwelt das Verhältnis umdrehen können. Der Uhrmacher wäre also noch blinder, als es die genetische Evolutionstheorie uns suggeriert. Und der kreative Zufall innerhalb der Evolution wäre, abgesehen von Veränderungen der Umwelt relativ zum Organismus, nicht wesentlichen bestimmt durch zufällige Genmutationen, sondern ergibt sich aus den nicht im Detail vorhersehbaren Wechselwirkungen zwischen Populationen ( Molekülen, Zellen, Viren, Bakterien etc. ) unter- und miteinander.
Nur als kleine Nebenbemerkung sei gesagt, daß man auch glaubt, die Samenzellen, die das Erbgut zum Ei befördern, ihre Geißel einst selbständigen Geißelbakterien verdanken. Möglicherweise sind auch diese wie Mitochondrien in eine Zelle eingedrungen, haben sich mit ihr vereinigt, weil sie genug Energie schmarotzen konnten, während ihre Geißel vor der Zellwand blieb und sich weiter bewegen konnte. So also könnte Sexualität dank eines Parasiten ihre Grundlage gefunden haben.
Überall Parasiten, Symbiosen und Kämpfe
Voraussetzung der Evolution ist eine gegebene Vielfalt von verschiedenen, jedenfalls nicht identischen selbstreproduzierenden komplexen Systemen, weil erst dann Selektion als kreativer Mechanismus auftreten kann. Entgegen den populären Bildern des Evolutionsbaumes mit einem Stamm, der sich immer weiter verzweigt und so in seiner Krone erst Vielfalt zeigt, spräche dies dafür, daß auch am Ursprung bereits viele Zweige vorhanden sind, daß also unabhängig voneinander mehrmals einzellige und dann auch mehrzellige Lebewesen entstanden sind.
Die Vielfalt der Bakterien ist jedenfalls ungeheuer groß und es ist noch nicht gelungen, einen Stammbaum aus den verschiedenen Formen, Stoffwechselarten und Umweltanpassungen zu konstruieren. Dafür sind sie nicht differenziert genug, und vermutlich sind sie sehr oft parallel oder hintereinander entstanden. Offenbar können verschiedene Bakterien auch miteinander kommunizieren, indem sie in einer Vorstufe zum genetischen Cross-over, das mit der sexuellen Paarung eine Art stabilisiert, Genstränge austauschen und so ihre DNS-Pläne beliebig rekombinieren. Bakterien verfügen also über ein allgemeines Kommunikationssystem, wobei sie auch mit Pflanzen und Tieren DNS-Teile austauschen können.
Man vermutet beispielsweise, daß die eukaryotischen Zellen, die einen Kern mit DNS und kleinere, membranbegrenzte Untereinheiten enthalten, aus einer Symbiose mit Prokaryonten, die nur einen einzigen DNA-Ring besitzen, hervorgegangen sind. Und auch der eukaryontische Zellkern scheint mindestens drei Arten von Genen zu enthalten, so daß er eine Chimäre aus DNA-Texten sein könnte. Man nimmt etwa an, daß die Mitochondrien, das biochemische Kraftwerk der Zellen, einst parasitische Bakterien waren, die in andere Einzeller eindrangen, aber in den Wirtszellen ihre Identität weitgehend behalten konnten. Die von den Parasiten abgegebene Energie konnte nach einer gewissen Zeit der Erkrankung, Selektion und Adaption dann von den Wirtszellen benutzt werden, beispielsweise dazu, sich zu Vielzellern zu entwickeln, nachdem das isolierte Dasein einmal beendet war, während die Parasiten im Inneren der Wirtszelle von Außeneinflüssen gesicherter waren. Lynn Margulis glaubt überdies, daß schon die Wirtszellen vor der Zeit, als die Mitochondrien-Vorfahren in sie eindrangen, aus symbiotischen Zusammenschlüssen einfacherer Organismen hervorgegangen sind.
Daneben gibt es noch die Viren, die normalerweise nicht zu den lebenden Organismen zählen, aber bereits Stränge aus DNA oder RNA besitzen und von einer Proteinhülle umgeben sind. Anders als die Organellen, die ebenfalls einen eigenen genetischen Code aufweisen, haben sie sich nicht in die Wirtszelle integriert, welche man als Zelle von Zellen verstehen kann, sondern sie bewahren ihre Information, indem sie Zellen infizieren und sie zu ihrer Vermehrung umfunktionieren. Bis sie eine entsprechende Zelle und deren Gentext anzapfen und für sich arbeiten lassen, z.B. indem sie ihren genetischen Code an den der Wirtszelle anfügen, befinden sie sich in Ruhestellung und sind "leblos". Viren können also entweder das Programm der Zellen umhüllen oder es im Sinne einer genetischen Machtübernahme unmittelbar verändern.
Parasiten und Evolution des Künstlichen Lebens
Aus diesen vielen Wechselwirkungen der Aneignung, der Symbiose und des Parasitismus, könnte man die Vermutung ableiten, daß Parasiten die Evolution zumindest beschleunigt haben und daß auch der Kampf zwischen jenen Parasiten, die parallel zu den ersten lebenden einzelligen Organismen entstanden sind, und Wirtszellen einen wesentlichen Faktor des kreativen, aber natürlich auch tödlichen Mechanismus der Evolution darstellt. Ohne Bakterien würde höheres Leben nicht existieren können. Auch Viren gehören zur Umwelt von lebenden Organismen, und die Evolution scheint nicht besonders fähige Einzelindividuen oder einzelne Genstücke zu belohnen, sondern Populationen, die miteinander in kooperativer Wechselwirkung stehen, was auch Beziehungen zwischen Parasit und Wirtsorganismus oder Beutetieren und Jägern einschließt. Ist die Nische zu einfach, werden die Organismen nicht bedroht, so findet oft keine weitere Entwicklung mehr statt, sondern eine Reduktion des Programms.
Interessant in dieser Hinsicht ist, daß das Künstliche Leben seine ersten, wenn auch vielfach ungeliebten Erfolge mit Parasiten, also den sogenannten Computerviren feierte. Wie biologische Viren haben sie ein Programm, d.h. ein Information speicherndes Gedächtnis, das, einmal infiziert, den Computer als Wirtsorganismus benutzen, sich in einen anderen Computer kopieren und sich vermehren kann. Viren agieren in der Computerökologie autonom und sie kommunizieren mit deren Programmen, was nicht unbedingt heißt, daß sie ihren Wirtsorganismus und die Nische der vernetzten Computer mit ihren stetig anwachsenden Datenräumen schädigen. So hat Harold Thimbleby beispielsweise selbstreproduzierende Viren, die er "lifeware" nannte, so programmiert, daß sie Datenbanken miteinander verglichen und bei Nicht-Übereinstimmung selbständig die fehlenden Daten in die andere Datenbank kopierten. Fred Cohen glaubt gar, daß symbiotische Computerviren in Zukunft die Hauptarbeit bei den untergeordneten Aufgaben in Informationssystemen besorgen könnten. Niemand weiß zwar, ähnlich wie bei gentechnisch veränderten Mikroorganismen, ob diese weiterhin "freundliche Helfer" bleiben, wenn sie einmal in eine evolutionäre Drift eintreten. Allerdings werden die meisten Viren bislang sowieso nicht von den Systembenutzern programmiert, sondern die Computer werden von außen mit mehr oder weniger schädlichen Viren infiziert. Die Folge ist eine Art des Wettrüstens: die Computersysteme werden besser gesichert und die Viren dementsprechend intelligenter gemacht.
Man nimmt an, daß die sexuelle Paarung in der biologischen Evolution sich unter anderem auch deswegen durchgesetzt hat, weil dadurch der Eingriff von Bakterien besser abgewehrt werden konnte. Noch gibt es freilich nur rudimentäre Formen der Mutation, mit denen sich Computerviren neuen Umgebungen anpassen können. Ihre Evolution wird durch menschliche Programmierer vorangetrieben, aber es wird vermutlich bald möglich sein, Computerviren zu entwickeln und freizusetzen, die sich verändern können, um den Suchprogrammen zu entgehen und sich neuen Umgebungen flexibler anzupassen.
Bei genetischen Algorithmen, die die Evolutionsmechanismen der Selektion, der Mutation und des genetischen Cross-over durch Paarung benutzen, um Programme zur Lösung von Aufgaben zu optimieren, deren Struktur man nicht im Detail können muß, werden Populationen von nicht-identischen Programmen oder ganz zufällig aus Nullen und Eins zusammengesetzten Ketten einem Lösungsraum ausgesetzt und dann nach ihrer Qualität bewertet. Programme sind ein Bit-Code aus Regeln, die Merkmale und Handlungen codieren. Damit genetische Algorithmen nicht-linear organisiert sind, um sie nicht auf eine dominante Regel zu reduzieren und so für komplexe Situationen untauglich zu machen, konkurrieren auch die Regeln miteinander und alle Regeln, die an einer "gelungenen" Aktion beteiligt waren, werden belohnt, d.h. verstärkt. Solche sich allmählich heterarchisch und hierarchisch organisierenden Programme können sehr flexibel sein, aber sie werden natürlich einer starren Umwelt ausgesetzt und von außen bewertet. Zudem sind ihre Populationen, verglichen mit denen biologischer Arten, meist noch sehr klein. Ihr Vorteil liegt darin, daß sie die Generationenfolge in hoher Geschwindigkeit durchlaufen können und sich so die Evolution beobachten läßt, wobei, anders denn in der biologischen, alle Entwicklungsstufen und Sackgassen erhalten bleiben.
Mit der steigenden Kapazität von Parallelrechnern - die "Verknüpfungsmaschine" von Hillis entstand übrigens im Kontext der Forschung über Künstliches Leben - wird man allerdings Programm-Populationen züchten können, die der Individuenzahl von natürlichen Populationen hinreichend nahekommt. Obgleich bei genetischen Algorithmen, die man wieder mit Viren vergleichen kann, vor allem durch das Cross-over wirklich neue Baupläne oder Verhaltensweisen auftreten können, weist John H.Holland darauf hin, daß auch hier sich bereits Phänomene wie Symbiose, Parasitismus, Mimikry, Räuber-Beute-Koevolution, Nischenbildung und Aufspaltung einer Art in neue Stammeslinien beobachten lassen. Übrigens zeigte sich bei genetischen Algorithmen, daß die Mutationsrate gegenüber dem Crossing-over für die Evolution eine nahezu vernachlässigenswerte Größe war. Beschränkt sind genetische Algorithmen und Zellularautomaten in ihrer Selbstorganisation vor allem dadurch, daß sie nicht in einer komplexen Umwelt existieren, auch wenn sie selbst in der Lage sind, über rückgekoppelte Prozesse ohne übergeordnete Regeln relativ komplexe kollektive Verhaltensweisen aus der Reaktion von einzelnen "Organismen" in lokal begrenzten Situationen hervorzubringen.
Daß die Existenz von Parasiten und damit die genetische Machtübernahme ein wichtiger Katalysator für die Vielfalt und Komplexität des Lebens gewesen sein könnte und möglicherweise noch immer ist, hat Dany Hillis in einer Computersimulation auf einer seiner Verknüpfungsmaschinen mit 64000 parallel arbeitenden Prozessoren zeigen können. Er hatte "Organismen", d.h. binäre Zahlenketten, die Gene repräsentieren und auf der Basis von genetischen Algorithmen rechnerischen Aufgaben lösen sollten, in ein evolutionäres Wettrüsten mit Parasiten geschickt, die gleichfalls bei Erfolg belohnt wurden. Beide Arten koevoluierten, indem sie immer geschickter auf die Angriffe oder Verteidigungsstrategien reagierten. Immer wenn die Organismen sich stabilisiert und immunisiert hatten und es so schien, als wären die Parasiten aus dem Rennen, entstand plötzlich wieder eine neue Flut von Angreifern, die ihre Sicherheitssysteme knackten. Hillis fand heraus, daß während den Phasen des Stillstands beim Phänotypus, hier definiert durch seine rechnerischen Fähigkeiten, sich bereits Veränderungen im digitalen Erbgut vollzogen, die ab einem kritischen Punkt dann plötzlich zu einer größeren Veränderung führten. Diesen Wechsel von Perioden des Stillstands und schnellen Innovationen haben Evolutionsbiologen auch immer auf der Ebene des Phänotyps beobachtet, aber sie können nicht erklären, wie dieser plötzliche Wandel geschieht, der ja im Gegensatz zum Dogma der Änderung mittels Häufung von kleinen Schritten steht. Auffallend war überdies, daß die Organismen viel mehr Generationen benötigten, um sich zu optimieren, wenn im Computerbiotop keine Parasiten existierten. Deren Anwesenheit beschleunigt also den Evolutionsprozeß und die Vielfalt, indem sie die Evolution am Rand des Chaos hält, also für Ungleichgewicht sorgt.
Auch die sprunghaft erfolgende Innovation bei den Parasiten und den Organismen läßt sich als eine Übernahme denken. Zunächst werden Allele produziert, die entweder neutral sind oder für andere Funktionen gebraucht werden konnten, da in der Natur nicht das Prinzip der Identität, sondern das flexiblere der Ähnlichkeit herrscht. Ist aber einmal eine Menge an alternativen Genen vorhanden, die durch Rückkopplung zu einem anderen Verhalten führen, das "Vorteile" mit sich bringt, könnte sich eine neue Eigenschaft durch Paarung sprunghaft ausbreiten.
Der Biologe Thomas Ray hat mit "Tierra" ein evolvierendes System entworfen, bei dem die digitalen Lebewesen in Konkurrenz um Prozessorzeit und Speicherplatz stehen und sich durch verschiedene Mutationen ihres Erbgutes verändern. Die Umwelt verändert sich auch durch eine Art des Rechnerrauschens und die Organismen aus 80 Gen-Befehlen haben nur eine begrenzte Lebenszeit, d.h. selbst gut "angepaßte" müssen irgendwann ihren Speicherplatz abtreten. Nachdem das System einige Zeit lief und Mutanten entstanden, die effektiver arbeiteten, tauchten auf einmal Organismen mit nur 45 Gen-Befehlen auf, die sich nicht selber fortpflanzen konnten. Aus diesem Grund mußten die Parasiten einen Wirt suchen, um deren Replikationscode zu benutzen. Weil sie einfacher waren, konnten sie sich schneller ausbreiten als die komplizierteren Lebewesen, hatten sie aber zu viele Wirte zweckentfremdet und getötet, ging natürlich auch ihre Zahl zurück. Mit den Parasiten entstehen neue Randbedingungen zwischen Lebewesen, die ein evolvierendes System gewissermaßen wie ein Katalysator anheizen und woraus durch gegenseitiges Wettrüsten auch Mutanten eine Lebenschance erhalten, die in einer stabilen Umwelt mit einem gleichbleibenden Lösungsraum nicht überleben könnten.
Parasiten - Katalysatoren der Evolution?
Parasiten scheinen also zumindest ab einer bestimmten Komplexität im Laufe der Evolution des Lebens aufzutreten und diese weiter voranzutreiben, gleich ob dies im Sinne eines Wettrüstens oder als Symbiose geschieht. Parasiten des biologischen Lebens gibt es in einer ungeheuren Vielfalt, vermutlichen übertreffen ihre Arten bei weitem die aller anderen Tierarten. Größere Parasiten zeigen eine verrückte Vielheit von Metamorphosen und nutzen eine unwahrscheinliche Folge von Zwischenwirten aus. Parasiten sind Räuber und Gäste, die ein komplexes System aus dem Gleichgewicht bringen und verändern: sie sind Agenten der Metamorphose, machen die Evolution offen für unvorhersehbare Entwicklungen, die sonst nur durch Katastrophen der physikalischen und chemischen Umwelt eintreten. Möglicherweise greifen sie nicht nur von außen ein, schädigen oder verbessern einen Organismus, nisten sich in ihn ein oder sorgen für ein Rauschen, sondern leiten auch direkt Mutationen der Wirte durch ihre Informationsarbeit ein.
Ihre Verhaltenseigenschaften sind aber nicht auf die Parasiten beschränkt, die in einen Wirt eindringen, in ihm leben und mit dessen Gedächtnis spielen, denn jede Form der Übernahme und der Kreation ist parasitär, weswegen auch die Wirte wiederum als Parasiten in einem verschachtelten Netzwerk zu bezeichnen sind. Schließlich ist das Leben insgesamt ein Parasit der Erde, die von ihm überzogen und verändert wurde. Und jeder Wirt, der von Parasiten bewohnt wird, ist selber wieder ein Parasit anderer Lebewesen zumindest insofern, als er von anderen Organismen lebt. Waren die RNA oder die DNS vielleicht Parasiten eines Lebens auf der Basis von Silikon, so sind sie danach selbst zum Parasiten der Wirtszelle geworden, den sie als Überlebensmaschine benutzten, in der sich möglicherweise das neuronale System als weiterer Parasit entwickelt hat, das nun wiederum zum Wirt einer neuen Lebensform wird, aber bereits der Träger jener Lebensformen ist, die man als Kultur bezeichnet.
Die Evolution eines neuen Verhaltens, das auf der Sequenz von vielen motorischen und sensorischen Aktoren und Millionen jeweils miteinander konkurrierender und kooperierender Neuronen beruht, läßt sich jeweils als Übernahme und damit als parasitäre Benutzung von vorhergehenden einfacheren Verhaltenssequenzen der neuronalen Maschinerie verstehen, die bislang in einem ganz anderen Lösungsraum angesetzt wurden. So könnte, was der Neurobiologe William Calvin vermutet, die sensomotorische Verhaltenssequenz, mit Steinen Nüsse präzise aufzuhämmern, dazu benutzt worden sein, das Werfen von Steinen auf bewegliche Ziele zu erlernen. Diese Fähigkeit, verschiedene rückgekoppelte sensorische, projektive und motorische Verhaltenssequenzen in einer übergreifenden "Melodie" durch Selektion vieler in Millisekunden durchgespielter und bewerteter Varianten zu organisieren, könnte dann wiederum die Möglichkeit eröffnet haben, eine differenzierte Sprache aus komplizierten Verkettungen aufzubauen, wobei derselbe Seqenzmechanismus auch das Spielen und Rezipieren von Musik erlaubt. Ist die parasitäre Übernahme einmal gelungen, so sind neue Nischen entstanden, die sich parallel weiterentwickeln und komplexer werden, wenn neue Parasiten entstehen, die routiniertes Verhalten meist durch chocartige Komplexitätsreduktion herausfordern.
Abgewandelte Theorien der Machtübernahme setzen sich gegenwärtig besonders im Bereich der Kognition und nicht nur unter der Fahne der Memetik durch. Das spricht nicht unbedingt für deren Wahrheit, wohl aber für unsere gegenwärtige Empfänglichkeit für solche Mechanismen der Innovation, die blind entstehen. Harry Jerison etwa erklärt die Evolution des Bewußtseins aus der vorhergehenden Evolution eines größeren Gehirns im Übergang von Reptilien zu Säugetieren. Aus einem Selektionsdruck heraus mußte mehr multimodale Information über die Außenwelt verarbeitet und so integriert werden, daß sie sich beispielsweise auf dasselbe Objekt beziehen. Mittels der Enzephalisation wurde für Jerison das Platzproblem gelöst, das daraus entsteht, daß neue sensorische Leistungen viele Millionen Nervenzellen zur Verarbeitung benötigen, aber dafür an den Sinnesorganen kein Platz mehr vorhanden war. Die fehlenden Neuronen wurden folglich im Gehirn entwickelt. Weil die ansteigende Menge an Informationen neue Verarbeitungsweisen erforderlich machten, entstand das Bewußtsein als eine neue Form der Informationsverarbeitung und -darstellung, die eine effektivere Verhaltenssteuerung und Lernen ermöglichte.
Der Biologe Christopher Wills hat zur Erklärung der Evolution der menschlichen Kognition eine weitere Metapher geprägt: die vorauseilende oder durchgegangene Gehirnevolution. Wills geht davon aus, daß nicht die Genselektion eine entscheidende Rolle bei der Menschwerdung spielt, sondern die Duplikation von Allelen, die sich im Genom ansammeln und nicht zur Geltung kommen, solange die Organismen gut angepaßt sind. Der Doppelgänger kann im Lauf der evolutionären Entwicklung neue Funktionen übernehmen, ohne daß dabei völlig neue Gene geschaffen werden müßten. Das Henne-Huhn-Problem würde dadurch nicht gelöst, sondern etwas komplexer, denn die neuen, in Funktion durch Selektionsdruck kommenden Gene erzeugen ihren phänotypischen Ausdruck nur im Kontext der anderen Gene und der Aussetzung des Organismus an die Umwelt. Ensteht Stress durch sich verändernde Umweltbedingungen, dann könnten einige dieser angesammelten und bislang nutzlosen Allele plötzlich zur Wirksamkeit kommen und sich in neuen phänotypischen Unterschieden zeigen, was auch das erstaunliche Phänomen erklären könnte, warum große evolutionäre Veränderungen eher plötzlich und in Schüben vor sich gehen. So weist Wills darauf hin, daß bei Skelettfunden festgestellt wurde, daß die Hominiden sich bereits seit dreieinhalb Millionen Jahren von dem Zweig der Menschenaffen getrennt hatten und daß im Zeitraum zwischen drei und einer Million Jahre vor der Gegenwart die Hominiden ein wesentlich größere Variation aufwiesen oder gar in vielen verschiedenen Arten existierten. Daher könnte es, ausgehend vom durchgegangenen Gehirn, zu einer Mehrfachentstehung des Menschen und schließlich zur Machtübernahme des homo sapiens gekommen sein, wobei der Trend zur Enzephalisierung allerdings breit wirksam war, da auch die Gehirne anderer Tiere einen ähnlichen Vergrößerungsschub erlebt haben.
Es gibt natürlich auch andere Formen der Übernahme, bei der Hirnareale wie etwa das Vorderhirn, das einst vorwiegend für Geruchsempfindungen zuständig war, von neuen Funktionen besetzt werden. In diesem Fall ist der Riechlappen extrem geschrumpft. Auch die Sprachkompetenz belegt nicht nur ein Hirnareal, sondern hat über viele die Macht übernommen. Neuronenpopulationen sind überdies plastisch, d.h. sie können nicht nur lernen, also sich neu verknüpfen, sondern auch ganz neue Funktionen übernehmen, wenn andere Areale beschädigt wurden oder eine neue Funktion wie beispielsweise Fahrradfahren erlernt wird. Steigende Kapazität des Gehirns bewirkt durch Rückkopplung Wahrnehmungs- und Verhaltensveränderungen, die möglicherweise auch einen Druck auf die Morphologie ausüben. So sind Primaten, die einen ähnlichen Enzaphilisierungsschub durchgemacht haben, gar nicht so sprachunfähig, sie haben lediglich nicht die motorischen Fähigkeiten, die zum Sprechen notwendig sind und konnten vielleicht deshalb nicht in die sprachliche Evolution eintreten, die große Bereiche des Gehirns verändert und eine sehr hohe Vernetzung erfordert.
Entscheidend für die "Intelligenz" des Menschen ist nicht allein seine Gehirngröße, sondern der Umstand, daß das menschliche Gehirn einen Großteil seiner Entwicklung bereits nach der frühen Geburt im Dialog mit der Außenwelt vollzieht, vor allem aber, daß sich die Zahl der Verbindungen zwischen den Neuronen enorm gesteigert hat. So kann eine menschliche Nervenzelle mit zehn- bis hundertmal so vielen anderen Nervenzellen in Verbindung stehen wie ein Rattenneuron. Wir nehmen daher nicht unbedingt quantitativ mehr wahr als etwa die Ratte, sondern wir können durch Vergleiche und Speicherung nur mehr Informationen aus dem sensorischen Input ziehen.
Wir müssen uns daran gewöhnen, daß Gleichgewicht und direkte Optimierung keine Orientierungsgrößen sind, mit der sich biologische, psychische und soziale Systeme am Leben erhalten lassen, sondern daß vielmehr das Eindringen von "bösartigen" Viren und Parasiten neue Lebens-, Denk- und Kunstformen hervorbringt, daß wir also das "Böse" vielleicht nicht nur als Antrieb akzeptieren, sondern daß wir es möglicherweise selbst produzieren müssen, um zu überleben, was heißt, um uns und die belebte sowie unbelebte Umwelt, in der und von der wir immer auch als Parasiten leben, zu verändern. Egal ob wir dabei langfristig oder über Gentechnik auch kurzfristig uns selbst biologisch überholen oder ob wir eine postbiologisches Leben freisetzen, das uns im Wettrüsten hinter sich zurückläßt, in dem wir vielleicht auch symbiotisch weiterleben könnten oder durch das wir neue Wissens- und Technikmutationen erfinden, so werden wir jedenfalls ungemütlicherweise zur Anerkennung gezwungen, daß wir nicht das stabile Endprodukt der Evolution sind, die wir von außen lenken und kontrollieren können. Und selbst wenn wir es erreichen könnten, bestimmte Entwicklungen etwa im Hinblick auf KI, KL oder Gentechnologie zu bremsen, so geraten wir dadurch nur in eine andere evolutionäre Drift, die, ebenso wenig vorhersehbar und gefeit gegenüber plötzlichen Mutationen, neue Parasiten und Viren entstehen läßt. Die Mimetik ist vielleicht nur ein erster Ausdruck für diese Veränderung unseres Denkens, die man nicht vorschnell und mit Ängsten aus der Vergangenheit als bloße Fortsetzung des Sozialdarwinismus abtun sollte.
Literatur
Bernard Dixon: Der Pilz, der John F. Kennedy zum Präsidenten machte und andere Geschichten aus der Welt der Mikroorganismen. Heidelberg-Berlin-Oxford 1995
William Calvin: Die Symphonie des Denkens, München 1993
Graham Cairns-Smith: Seven clues to the origin of life. Cambridge 1985
John L.Casti: Verlust der Wahrheit, München 1989
Friedrich Cramer: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 1988
Richard Dawkins: Der blinde Uhrmacher, München 1986
Gerald Edelman: Unser Gehirn - ein dynamisches System, München 1993
Evolution. Die Entwicklung von den ersten Lebensspuren bis zum Menschen. Heidelberg 1988
Laurie Garrett:Die kommenden Plagen. Frankfurt a. M. 1996
Stephen Jay Gould: Zufall Mensch, München 1991
John.H.Holland: Genetische Algorithmen, in Sektrum der Wissenschaften, Heidelberg 9/1992
Harry J. Jerison: Evolutionäres Denken über Gehirn und Bewußtsein, in V.Braitenberg/I.Hosp (Hg.): Evolution. Reinbek bei Hamburg 1994
Bernd-Olaf Küppers: Der Ursprung biologischer Information, München 1986
Steven Levy: KL - Künstliches Leben aus dem Computer, München 1993
Roland Posner ( Hg.): Warnungen an die Zukunft. Atommüll als Kommunikationsproblem. München 1990
Tom Ray: Netlife - Das Schaffen eines Dschungels im Internet, in S.Iglhaut, A.Medosch, F.Rötzer (Hrsg.): Stadt am Netz. Mannheim 1996
Josef H. Reichholf: Der schöpferische Impuls. München 1992
Jacques Ruffié/Jean-Charles Sournia: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit. Stuttgart 1987
Robert Wesson: Die unberechenbare Ordnung. Chaos, Zufall und Auslese in der Natur, München 1993