Szenario einer angeblich postideologischen multipolaren Welt

Über das Buch "Clash of Zivilisations" (Kampf der Kulturen) von Samuel P. Huntington

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Die Weltordnung ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Bewegung geraten. Die Macht des Westens scheint zu schwinden, seine Werte an Bedeutung zu verlieren. Trotz der viel beschworenen Globalisierungsprozesse zerfällt die Welt in Machtzentren, nehmen die Konflikte zwischen Kulturen und Ethnien zu. Samuel Huntington zeichnet ein düsteres Bild, das bedenklich stimmt.

Der plötzliche Zusammenbruch des Kommunismus, der Fall der Mauer, das Verschwinden des Ost-West-Gegensatzes, der die ganze Welt in die Auseinandersetzung über Liberalismus und Abschaffung des Privateigentums, über kapitalistische Demokratien und sozialistische Planwirtschaften - zwei westliche, an Universalität ausgerichtete und auf Rationalität basierende Exportprodukte - gezwungen hat, kam unverhofft und überraschend. Es war, als würden die Gesellschaften auf der ganzen Welt ihre Fesseln, aber auch ihre Orientierungen verlieren und in die Leere stürzen. In schwindelerregender Geschwindigkeit bricht die Weltordnung und die Struktur der Staaten, die vielfach vom Westen mit Gewalt geschaffen wurden, zusammen und lodern auch im Inneren der westlichen Länder Konflikte zwischen ethnischen Gruppen sowie Einwanderern und Ansässigen auf.

Nur unverbesserliche Träumer konnten glauben, daß nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus die Geschichte an ihr Ende gekommen sei, daß die Welt alternativenlos westlich, kapitalistisch, demokratisch und liberal werde, daß nun der Weg zur allmählichen Herausbildung einer Weltgesellschaft mit einem globalen freien Markt und gemeinsamen Idealen und Werten vorgezeichnet war, daß die Drohung eines nuklearen, alles vernichtenden Schlagabtausches der Supermächte endgültig überwunden und der Weg in die Abrüstung möglich sei.

Sicher, der Zerfall des Sowjetreiches führte bald zu neuen Konflikten, in Afrika und im Nahen Osten gab es neue Spannungen, doch erst der grausame Bürgerkrieg in Jugoslawien, in einem Land Europas, in dem gewissermaßen uralte Gegner, Angehörige des islamischen, des christlichen und des orthodoxen Kulturkreises, unbarmherzig aufeinander einschlugen und jede Vermischung aufheben wollten, sorgte für einen großen Schock, der uns alle noch immer Bann hält und uns die Welt anders wahrnehmen ließ - als Gebrodel von vielen großen und kleinen, lokalen und globalen Konflikten, in denen kulturelle, religiöse, sprachliche und ethnische Zusammengehörigkeiten und Unterschiede offenbar dominieren und zum Teil blutig, bis hin zum Genozid ausgetragen werden.

Die Welt und die Menschen sind, wie einst im Zuge der Auflösung des Römischen Reiches, in Bewegung geraten und formieren sich neu. Und trotz aller Globalisierung und Vernetzung spielt dabei die Geopolitik, die Existenz territorialer Grenzen, eine entscheidende Rolle. Anstatt zu vereinen und Unterschiede zu nivellieren, fragmentieren die Globalisierungsprozesse und richten eine Vielzahl neuer Grenzen und Festungsanlagen auf.

Der Politikwissenschaftler Samuel Huntington, Berater des US-Außenministeriums, hat den Schock von Bosnien zu einem einprägsamen Slogan zusammengezogen: Was jetzt ansteht und wieder hinter der einst vom Westen geprägten und dann vom Ost-West-Konflikt überdeckten Globalgesellschaft hervortritt, sei der Zerfall der Welt in die Geo- und Identitätspolitik verschiedener Kultur- und Religionsbereiche, ist der Kampf der Kulturen, der Clash of Civilizations. Mit vielen überzeugenden Beobachtungen und Details, statistischen Daten und allgemeinen Einschätzungen sucht Huntington das für ihn naive Bild einer endlich friedlichen, geeinten, von gemeinsamen Werten bestimmten Weltgesellschaft zu zerstören und die Macht sowie die Unverträglichkeit der großen Kulturen herauszustellen, die nur kurz durch die Dominanz des Westen und der Vorherrschaft politischer, ökonomischer oder ideologischer Differenzen verschleiert wurde.

Düster ist das Bild, das er malt. Bedient werden die Ängste der Menschen, vor allem die der westlichen Staaten, denen der Machtverlust ihrer Gesellschaften - ohne offensichtliches Bedauern - bescheinigt wird, während indische, chinesische und islamische Kulturen erstarken, die sich vom Westen nicht mehr beeinflussen lassen, sich von dessen Werten abkehren und wirtschaftlich, technisch, wissenschaftlich, politisch und militärisch an Macht gewinnen. Weil es in diesem Kampf keine Supermacht mehr gibt, sondern nur eine Vielzahl von Machtzentren, weil sich innerhalb der bestehenden, aber an Bedeutung verlierenden Staatsgrenzen immer mehr Konflikte zwischen Bevölkerungsschichten aus verschiedenen Kulturkreisen und Kämpfe an den Grenzen der Kulturkreise entwickeln, könnten sich aber auch die staatliche Ordnung und die Werte der Hochkulturen im Kampf gegen die neuen Barbaren auflösen.

Hinter dem Kampf der großen Weltkulturen lauere also der "eigentliche Kampf" zwischen Zivilisation und Barbarei, der zu einem Zustand führen könnte, in dem die neuen Raubritter der terroristischen und fundamentalistischen Banden und der transnationalen Verbrechersyndikate nach dem Gesetz des Stärkeren triumphieren. Auch viele Städte seien schon unregierbar geworden. In ihnen - in Moskau, Rio de Janeiro, Bangkok, Schanghai, London, Rom, Warschau, Tokio, Johannesburg, Delhi, Kairo, Bogota und Washington - triumphiere bereits das Verbrechen und schwindet selbst die "elementarste Zivilisation".

Bei einer Analyse, in der die Verteilung des Eigentums und des Vermögens keine Rolle zu spielen scheint (oder als gottgegeben vorausgesetzt wird) und nur der Kampf der unvereinbaren Kulturen als Erklärung gilt, bleiben dann nur die "Lösungen", wie sie vielfach jetzt bereits vollzogen werden: ethnische Reinigung von Territorien oder völlige Integration der Minderheiten, Abdichtung der Grenzen nach außen und Bildung neuer Staaten, zumindest aber von homogenen Gemeinschaften in bestimmten Räumen. Armut ist dann kein Problem mehr, das kriminelle Organisationen, Gewalttätigkeit, Drogensucht, Verwahrlosung, Revolten oder Gettoisierung hervorruft, sondern eine Folge der in "Kulturkreise" umgetauften Rassen von einst. Ob man Unvereinbarkeiten biologisch oder kulturell festschreibt, ist relativ unerheblich. huntington schreibt denn auch in einer USA, in der man gerne wieder Unterschiede der Intelligenz und der Kultur genetisch verankern würde.

Richtig ist zweifellos, daß der Kapitalismus als Wirtschaftsform, daß Wissenschaft und Technik als solche keine Demokratie, keinen allgemeinen Wohlstand und keine friedliche Weltgesellschaft auf der Basis des Individualismus automatisch erzeugen, wie viele verbissene Neo-Liberalisten noch immer glauben. Aber zu behaupten, wie dies Huntington in impliziter Konsequenz suggeriert, daß die Ökonomie und die mit ihr verbundene Eigentums- und Wohlstandverteilung praktisch keine Rolle in Konflikten spielen, sondern nur kulturelle Unterschiede, legt Zeugnis von einer Blindheit ab, deren Folgen fatal sind (und immer schon gewesen waren). Jugoslawien ist dafür ein gutes Beispiel, denn der Zerfall begann mit der Ablösung des reicheren Slowenien, worauf die Kroatiens folgte und sich erst dann die ethnisch-religiösen Unterschiede über den Wohlstandsseparatimus lagerten. Die Abtrennungswünsche der Norditaliener vom Süden Italiens lassen sich ebensowenig alleine auf den Wunsch nach kultureller Identität (noch dazu mit dem "Westen") zurückführen wie die Konflikte zwischen Wallonen und Flamen oder die Aufteilung der Tschechoslowakei.

Religiöse, sprachliche oder ethnische Unterschiede werden sicherlich einerseits durch Macht, aber andererseits auch durch Gleichberechtigung oder Chancengleichheit und Anerkennung der kulturellen Eigensinnigkeiten eingedämmt, und ebenso sicher sind sie Zufluchten, die radikalisiert werden, wenn keine Aussicht auf ein gleichberechtigtes Miteinander besteht. Huntington fährt mit seiner letztlich allgemein anthropologisch begründeten These vom "Kampf der Kulturen" in gefährlichen Untiefen, bedient, bei allen einleuchtenden Beschreibungen der Neuordnung der Welt nach der westlichen Hegemonie, durch seinen scheinbaren Realismus der Analyse gerade jene Ressentiments, die eben den Clash of Civilizations begünstigen. Daß die vermeintlichen Weltkulturen selbst wieder ein Amalgam aus anderen darstellen, wird allerdings stillschweigend oder berechnend übergangen. Suggeriert wird, daß sie schon immer bestanden haben und daß dies auch weiterhin so bleibeb wird.

Angst vor dem Chaos - eine alte Strategie der Herrschaftssicherung

"Recht und Ordnung sind die erste Vorbedingung einer Zivilisation, und in vielen Teilen der Welt - Afrika, Lateinamerika, der früheren Sowjetunion, Südasien, dem Nahen Osten - scheinen sie sich aufzulösen, aber auch in China, Japan und im Westen in schwere Bedrängnis zu geraten. Weltweit scheint die Zivilisation in vieler Hinsicht der Barbarei zu weichen, und es entsteht die Vorstellung, daß über die Menschheit ein beispielloses Phänomen hereinbrechen könnte - ein diesmal weltweites finsterstes Mittelalter."

Wieder einmal also wird die Angst des (westlichen) Bürgertums vor dem altbekannten Chaos geweckt, werden geschichtlichen Zyklen des Aufgangs, der Blütezeit und des Niedergangs von Kulturen in einer darwinistisch gesprägten Sprache formuliert, versucht sich jemand an einer neuen "Morphologie der Weltgeschichte" und dem sich ankündigenden "Untergang des Abendlandes", zu dem jetzt auch noch die USA gehören. Das erinnert an die Zeit vor dem Faschismus, der sich dann solche "Erkenntnisse" und Ängste angeeignet und auf seine Weise gelöst hat. Seltsamer- oder bezeichnenderweise spielt der europäische Faschismus und Nationalismus für die Geschichte des Westens offenbar keine Rolle. Huntington warnt denn auch nur vor dem Trugbild einer multikulturellen Gesellschaft, die notwendig von Konflikten zerrissen werde, lehrt die Unvereinbarkeit diesmal nicht der Rassen, sondern der Kulturen, dekonstruiert die vorgeblich universellen Werte der Aufklärung als kulturelle Eigenschaften und Machtinstrumente und warnt vor dem Verlust der Werte und des Zusammenhalts der Menschen eines Kulturkreises.

Das alles ist vornehmlich für die Menschen des Westens, der durch das Christentum und die Aufklärung geprägten Länder geschrieben, die für ihn nicht nur an Einfluß verlieren, sondern auch innerlich schwach werden oder verweichlichen. Gegen die Feinde aus den eigenen Reihen - gegen "eine kleine, aber einflußreiche Minderheit von Intellektuellen und Publizisten" - wird gesagt, daß "die Probleme des moralischen Zerfalls, des kulturellen Selbstmords und der politischen Uneinigkeit des Westens" überwunden werden müssen. Nationalismus wird von ihm nicht mehr als Heilsweg verkündet, wohl aber der Zusammenschluß des weißen, christlich geprägten Westens gegen seine Widersacher. Was dem Westen als "reife Gesellschaft" fehle, sei der innere Zusammenhalt und der gemeinsame Feind.

Multikulturalismus gefährdet die USA und den Westen; Universalismus im Ausland gefährdet den Westen und die Welt.

Natürlich plädiert Huntington nicht für das alte Ventil eines neuen Krieges, um eine Nation, eine Gesellschaft, einen Staat oder eine Kultur zusammenzuschweißen, schließlich sollen ja die großen Weltkulturen auf der Basis einer minimalistischen Ethik gemeinsam gegen die neuen Barbaren angehen und kooperieren. Er plädiert aber für eine wechselseitige Enthaltung, bei Konflikten in Länder anderer Kulturkreise zu intervenieren, und für Verhandlungen zwischen den "Kernstaaten" der Kulturkreise, wobei nur schwierig ist, wer der Kernstaat des islamischen Kulturkreises ist. Gleichwohl plädiert er aber für eine Festung "Westen" und die Schaffung einer neuen westlichen Identität unter der Führung der USA, deren Wurzeln in Europa liegen. Nichts mehr also mit dem Gegensatz zwischen der Alten und der Neuen Welt, jetzt heißt es vor allem gegen die gelbe Gefahr zusammenzurücken.

Wenn Nordamerika und Europa ihre moralischen Grundlagen erneuern, auf ihre kulturellen Gemeinsamkeiten bauen und Formen einer engen wirtschaftlichen und politischen Integration entwickeln, die ergänzend neben ihre Sicherheitszusammenarbeit in der NATO treten, könnten sie eine dritte, euroamerikanische Phase des wirtschaftlichen Wohlstands und politischen Einflusses stiften.

Besonders gefährlich aber scheint mir die implizite Intellektuellenhatz von Huntington und seine Verabschiedung der europäisch geprägten, auf der in Europa seit der Antike, aber mit starken Einflüssen seitens der "morgenländischen" Kulturen konstruierten universellen Vernunftprinzipen zu sein. Natürlich hat der Westen gegenüber anderen Kulturen und in Konflikten innerhalb seiner die angebliche Universalität der Vernunftforderungen nicht eingehalten, die anderen Kulturen unterjocht und ungeheuer viel Elend und Leid angerichtet.

Doch der moderne, gegen die Religion, aber von deren Monotheismus in seinem universellen Geltungsanspruch abgeleitete Begriff der Vernunft entstand gleichwohl unter den Bedingungen der Fragmentarisierung und der Glaubenskriege als Versuch einer versöhnenden Lösung durch die Etablierung einer Instanz, die jenseits oder unter den kulturellen Eigensinnigkeiten oder gesellschaftlichen Machtverhältnissen liegt. Die französische Revolution wurde zwar beherrscht vom aufstrebenden Bürgertum, aber sie formulierte gegen die Herrschaft einer Klasse allgemeine Menschenrechte und enthielt bereits die Idee, daß soziale Ungleichheit auch ökonomisch und durch Besitzverhältnisse bedingt ist, während die amerikanische Revolution sich primär gegen eine fremde Macht auflehnte und ansonsten davon träumte, daß bei Wahrung der Besitzverhältnisse jeder ein Grundeigentümer und damit ein Gleicher unter Gleichen werden könnte, weil ein vermeintlich leerer Raum zur Expansion vorhanden war.

Huntington sieht Europa vor allem unter der Perspektive der Einheit, doch wäre vielleicht gerade die europäische Einigung unter Wahrung der kulturellen Vielfalt und im Bewußtsein der Immigrations- und Assimilierungsgeschichte ein Modell nicht für den Kampf der Kulturen, sondern für eine Toleranz, die eine multiple Identität nicht ausschließen muß und den individualistischen Kapitalismus durch eine Umverteilung des Reichtums in Schranken hält und dafür sorgt, daß Regionen, Klassen, Ethnien, Religionen oder "Kulturen" sich nicht gegenseitig mittels Unterbietung von Rechten Konkurrenz machen.

Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Europa Verlag, München-Wien 1996. 583 Seiten.

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