Ein Marshall-Plan für Nordafrika

Seite 2: Ein implodierendes Libyen droht die Nachbarländer zu destabilisieren

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In Libyen entlädt sich der Youth Bulge in einem Bürgerkrieg, welcher das Land zu zerreißen droht. Alte Rivalitäten unter Stämmen und Regionen, die der Ex-Diktator Ghaddafi geschickt gegeneinander auszuspielen wusste, befeuern diesen Konflikt, ebenso wie die unzähligen Waffen und der Ölreichtum des Landes. Viele Beobachter befürchten, dass der Konflikt in Libyen über kurz oder lang auch die Nachbarländer destabilisieren wird.

Dem IS ist es nicht nur gelungen um die Stadt Sirte einen Küstenstreifen unter ihre Kontrolle zu bringen, sondern auch Tausende von kampfwilligen jungen Männern aus dem Ausland anzuziehen. Viele von ihnen entstammen der verarmten und frustrierten Unterschicht der Nachbarländer. Die Gefahr ist groß, dass etliche von ihnen verroht, radikalisiert und mit Kampferfahrung, wieder in ihre Heimatländer zurückkehren werden.

Die Sorge, dass der IS versuchen könnte, sein Operationsgebiet auch auf die Nachbarländer auszuweiten, wird mittlerweile von vielen Beobachtern geteilt. Zwei Anschläge auf Touristen und ein Anschlag auf die präsidentielle Garde in Tunesien im vergangenen Jahr haben diese Gefahr zunehmend ins Blickfeld gerückt. Die Attentäter sollen zuvor in Libyen an der Seite der IS-Dschihadisten gekämpft haben.

Die Terrorgefahr bietet Aufschub für den korrupten Staatsapparat

Die Anschläge haben auf verschiedenen Ebenen eine fatale Wirkung für Tunesien, welches als einziges arabisches Umbruchland seinen Demokratisierungskurs bisher weitestgehend halten konnte. Einerseits bleiben die dringend benötigten Touristen und Investitionen aus. Die durch die Umstürze ausgelösten Hoffnungen auf neue Perspektiven und Lebenschancen, welche vor allem die junge Generation hegte, haben sich noch nicht materialisiert - und immer mehr junge Menschen verlieren allmählich den Glauben daran, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird.

Doch die dschihadistische Gefahr verleiht auch dem in weiten Teilen immer noch korrupten und repressiven Staatsapparat wieder mehr Spielraum. Angesichts der Bedrohung durch militante Dschihadisten haben die alten Seilschaften es leichter die dringend benötigten Reformen von Polizei und Justiz aufzuschieben. Auch wirtschaftliche Reformen weg von der alten Vetternwirtschaft hin zu einer diversifizierteren Wirtschaft, die Teilhabe für breitere Bevölkerungsschichten ermöglicht, lassen auf sich warten.

"Einen zweiten Aufstand gegen die im Kampf gegen die Armut unfähige Regierung gibt es nur wegen der Terrorgefahr nicht", sagt der politisch aktive Houssam Shougar aus Sidi Bouazid, der staubigen Kleinstadt im Landesinneren Tunesiens, wo vor 5 Jahren durch die Selbstverbrennung des 26-jährigen Straßenverkäufers Mohamed Bouazizi die arabischen Proteste ausgelöst wurden.

Verunsicherung und Lethargie in Ägypten

Noch stärker spürbar ist diese Mischung aus Verunsicherung und Politlethargie in Ägypten. Im bevölkerungsreichsten nordafrikanischen Land herrscht heute unter der Regierung des Ex-Generals Al-Sisi unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes eine brutalere Repression und eine paranoidere Atmosphäre als unter dem Ex-Diktator Hosni Mubarak.

Währenddessen verschlechtert sich die ökonomische Situation großer Teile der Bevölkerung durch den schwachen Kurs der ägyptischen Währung und die anhaltende Inflation weiter. In Kombination mit dem allmählichen Reduzieren der staatlichen Subventionen durch die Regierung al-Sisis hat dies die Preise für Lebensmittel stark ansteigen lassen. An dieser realen Verschlechterung der Situation vieler Haushalte ändern auch einige prestigeträchtige Großprojekte wie die Erweiterung des Suez-Kanals wenig.

Etliche Ägypter halten die nächsten Unruhen nur für eine Frage der Zeit. Ahmad-al-Shobrawy, ehemals Mitglied der zivilgesellschaftlichen Bewegung "Kefaya" (Genug), äußert gegenüber Telepolis, dass in den Straßenkaffees von Kairo die Unzufriedenheit über General al-Sisi mittlerweile immer deutlicher zu vernehmen ist. Er sagt: "Al-Sisi ist ein Mann des Militärs. Er hat keine Ahnung vom Regieren oder von der Wirtschaft. Er denkt nur in Kategorien der Sicherheit - und Sicherheit ist für ihn vor allem die Sicherheit der staatlichen Institutionen."

Der sinkende Ölpreis bringt das algerische Regime in Zugzwang

Im größten Land der Region Maghreb, in Algerien, sieht die Lage etwas anders, aber kaum besser aus. Algerien ist ein klassischer Renten-Staat, 97% der Exporteinnahmen des Landes stammen aus Öl und Gas. Die Wirtschaft ist kaum diversifiert, die Entwicklung einer Industrie, welche in den 1970er Jahren losgetreten wurde, ist schon lange zum Erliegen gekommen. Zugleich klammern sich opake Seilschaften aus Kreisen des Geheimdienstes und des Militärs an die Macht und profitieren massiv von den Rohstoffeinkünften - während sie sich hinter den Kulissen interne Machtkämpfe liefern.

Während der arabischenAufstände gab es auch in Algerien fast täglich Proteste. Mit der oppositionellen Gruppe "Rachad" bildete sich während dieser Tage ein Pendant zur zivilgesellschaftlichen Bewegung "Kefaya" in Ägypten. 2011 konnte die algerische Regierung ein großflächiges Übergreifen der Proteste durch eine Erhöhung der Sozialausgaben noch verhindern.

Kenner des Landes sagen, dass weite Teile der Bevölkerung noch zu sehr vom "dunklen Jahrzehnt" der 1990er-Jahre traumatisiert waren. Damals lieferten sich der Staatsapparat und Teile der islamistischen Opposition einen Bürgerkrieg, in dem auf beiden Seiten Massaker an der Zivilbevölkerung keine Seltenheit waren. Nach geläufigen Schätzungen kamen bis zu 200.000 Menschen ums Leben.

Doch mittlerweile wächst in Algerien - wo das Durchschnittsalter 25 Jahre beträgt - eine Generation heran, welche nicht mehr von Erinnerungen an die blutigen 1990er Jahre geprägt ist. Diese junge Generation sucht genauso wie ihre Altersgenossen in den nordafrikanischen Nachbarländern nach Partizipationsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven, was immer wieder aufflammende kleine Proteste im Land widerspiegeln.

Der niedrige Ölpreis verschlechtert nicht nur die wirtschaftliche Lage, sondern auch den Handlungsspielraum der Regierung, durch Sozialausgaben die Bevölkerung zu beschwichtigen.

Wenn sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, wird es definitiv wieder zu Protesten kommen. Doch im Gegensatz zu 2011 wird die Regierung dann nicht mehr über Mittel verfügen, um sozialen Frieden zu kaufen.

Dalia Ghanem Yazbeck, Carnegie Middle East Center