Ein Sommermärchen

Seite 2: Eine eskalierende Systemkrise

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Auch Albrecht Müller hat auf den NachDenkSeiten den Zusammenhang zwischen der harten Haltung Berlins während der Griechenland-Krise und der deutschen Public-Relations-Kampagne in der derzeitigen Flüchtlingskrise hergestellt. Es gehe darum, "den Missbrauch des anschwellenden Flüchtlingsstroms für innenpolitische Zwecke aufzudecken", erklärte Müller.

Dabei ist das sozialdemokratische Urgestein aber eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. Müller ist der Ansicht, das die Flüchtlingskrise, der "plötzliche Aufbruch und Ansturm von Flüchtlingen", von der Politik gezielt initiiert wurde:

Es muss also im Hintergrund dafür geworben worden sein. Anders können sich viele Beobachter die plötzliche Beschleunigung des Ansturms nicht erklären.

Hier findet eine klassische Verwechslung von Ursache und Wirkung statt. Die zunehmenden Fluchtbewegungen gehorchen einer Eigendynamik, sie sind Ausdruck der zunehmenden, nun kaum noch zu übersehenden Krise des kapitalistischen Weltsystems, dessen offener sozioökonomischer wie politischer Zerfall in der Peripherie (Mad Max im Zweistromland) eben jene Flüchtlingskrise zuspitzen lässt. Die politischen Funktionseliten der BRD reagierten auf diese Fluchtbewegung, wie sie eben auf alle möglichen Ereignisse und Phänomene reagieren; sie versuchen, sie weitestgehend zu instrumentalisierten.

Handfestes Interessenskalkül

Selbstverständlich spielten bei der - zeitweiligen - Entscheidung der deutschen Funktionseliten, die Grenzen offen zu halten, auch andere Faktoren eine Rolle. Neben dem demografischen Wandel in Deutschland, der Räume ohne Volk schafft (Raum ohne Volk), in denen die bloße Instandhaltung der gesellschaftlichen Infrastruktur zu einer Herausforderung wird, sind hierbei wiederum schnöde Geschäftsinteressen von Belang.

Und selbstverständlich sind viele Konzerne daran interessiert, gut ausgebildete, billige und willige Arbeitskräfte unter den Flüchtlingen auszumachen. In aller Ignoranz und Brutalität hat Claudia Roth diese Logik formuliert, als sie offen eingestand, dass nicht alle Flüchtlinge "verwertbar" sein werden. Letztendlich läuft dieses bestehende Verwertungsinteresse der deutschen Exportwirtschaft - das in Wechselwirkung mit der demografischen Entwicklung steht - darauf hinaus, eine Selektion der Flüchtlingen nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit vorzunehmen.

Die Flüchtlinge hatten somit einfach Glück gehabt, dass innerhalb der deutschen Funktionseliten diese oben genannten Erwägungen eine Zeit lang die Oberhand behielten und die Grenzen offenblieben. Das deutsche "Sommermärchen", bei dem der europäische Hegemon ein "gutes Gesicht" aufsetzte, basierte somit auf einem handfesten Interessenskalkül. Innerhalb einer kurzen Zeitspanne schien das unantastbare Menschenrecht auf Asyl verwirklicht.

Doch seit dem 13. September ist damit Schluss: Das Sommermärchen im Spätkapitalismus verwirklichter Menschenrechte erwies sich als das, was es war: ein Märchen. Berlin lässt die Grenzen nach Österreich dichtmachen, während deutsche Spitzenpolitiker Sanktionen gegen diejenigen Länder fordern, die sich weigern, aus Deutschland abgeschobene Flüchtlinge aufzunehmen. Auf die simple Idee, die Flüchtlinge selbst entscheiden zu lassen, wohin sie denn nun fliehen wollen, kommt in der veröffentlichten Meinung Deutschlands niemand mehr.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière zeigte sich dementsprechend "enttäuscht über die fehlende Zustimmung etlicher europäischer Staaten zu verbindlichen Quoten bei der Verteilung von Flüchtlingen", berichtete die AFP.

Deswegen solle die EU den betreffenden Staaten die Strukturhilfe kürzen, forderte der deutsche Innenminister, der offensichtlich inzwischen auch über die Verteilung der europäischen Subventionen zu befinden hat. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beeilte sich unverzüglich, de Maizières Behauptung zu widersprechen, er unterstütze diese Initiative.

Der Bully in Berlin

Da ist er wieder, der imperialistische "bad guy" Europas, der selbstherrlich den Kurs des Kontinents festzulegen bemüht ist. Die Imagekampagne der "Deutschland AG" scheint somit grandios zu scheitern: Berlin verschafft sich gerade ein wirklich mieses Image im Osten, nachdem Schäuble und Merkel sich im Süden der Eurozone mächtig unbeliebt gemacht haben.

Das US-Magazin Foreign Policy sprach in diesem Zusammenhang deswegen nicht mehr vom "Licht der Nationen", sondern vom "Bully in Berlin", vom Berliner Raufbold, der die Grenzen schließe, um die anderen europäischen Länder in der Flüchtlingskrise auf Linie zu bringen:

Angela Merkels Management der Eurokrise war desaströs, ihre Behandlung Griechenlands unverzeihlich. Aber die deutsche Kanzlerin spielte eine positivere Rolle in der anderen europäischen Krise: den Hunderttausenden von Flüchtlingen, die aus dem Mittleren Osten und Afrika nach Europa strömten.

Nach der Schließung der Grenzen durch Berlin sei dies aber vorbei, warnte Foreign Policy. Merkel versuche, sich "unilateral" mit aller Macht durchzusetzen, und widerwillige Eurostaaten durch die Grenzschließung dazu zu nötigen, "mehr Flüchtlinge aufzunehmen". Dieses Vorgehen Berlins werde "bleibende Schäden" in den europäischen Beziehungen hinterlassen. Nach "sieben langen Jahren wirtschaftlicher Misere" und "EU-weiter Austerität" befinde sich die Europäische Union "in Desintegration", während nun die Personenfreizügigkeit ausgesetzt wurde:

Ekelhafte Nationalisten sind auf dem Vormarsch in Frankreich, Großbritannien und anderswo - und in der Regierung in Ungarn und der Slowakei.

Letztendlich bilden diese durch überschäumenden Nationalismus und Rechtsextremismus angeheizten zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen, die nun in der Einführung von Grenzkontrollen gipfelten, nur spezifisch europäische Verlaufsformen der offensichtlichen, eskalierenden Systemkrise der kapitalistischen One World, die noch zu leugnen einer pathogenen Ignoranz bedarf. Märkte kollabieren, Staaten Zerfallen, Bürgerkriege greifen um sich, Millionen sind auf der Flucht vor zunehmendem Chaos: So sieht es aus, wenn Systeme, die an objektive Entwicklungsgrenzen stoßen, an ihren eskalierenden inneren Widersprüchen zerbrechen.

Der drohende Zerfall der Eurozone bildet nur das - europäische - Moment dieses globalen Krisenprozesses. Und dieser Zerfallsprozess wird gerade von der BRD, wird von Berlin vermittels seiner repressiven Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik maßgeblich vorangetrieben, wie auch der Spiegel-Kolumnist Wolfgang Münchau korrekt bemerkt:

Das demokratische Deutschland hat seine größten politischen Fehler gemacht, wenn die Einwanderung plötzlich anstieg. Nach dem Mauerfall, während der Balkankriege und jetzt mit der panischen Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Europa zerfällt.

Von Tomasz Konicz ist im Unrast Verlag das Buch Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa erschienen.