Ein Verfassungsschützer während der Tat am Tatort

Seite 2: Verfassungsschützer unter Tatverdacht

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Temme meldete sich nach Bekanntwerden der Tat nicht als Zeuge. Er wurde zwei Wochen danach als jener sechste Besucher des Internetcafés ermittelt und wegen dringenden Tatverdachts verhaftet. Der Verdacht wurde später fallengelassen, das Verfahren gegen ihn im Januar 2007 eingestellt.

Aus dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin, der Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht in München und dem Landesuntersuchungsausschuss von Hessen sowie aufgrund der Recherchen von Opferanwälten und Journalisten kennt man heute zahlreiche Einzelheiten des Falles, die den Verfassungsschützer unverändert in den Blickpunkt rücken und die erneut nicht zur allgemeinen exklusiven Zwei-Täter-Böhnhardt-Mundlos-Theorie der Bundesanwaltschaft passen.

Unter anderem hatten die Ermittler schon 2006 herausgefunden, dass der VS-Mann Temme am 9. Juni 2004 in Köln war, als in der dortigen Keupstraße die Nagelbombe gezündet wurde. Er habe eine Tagung besucht. Die Öffentlichkeit erfuhr von diesem Aufenthalt erst im Juli 2016 aus dem Mund eines Kasseler Polizisten im hessischen NSU-Ausschuss. Der Sachverhalt ist umso bemerkenswerter, als gegen Temme ursprünglich auch wegen anderer Ceska-Morde ermittelt wurde.

Warum war Temme in dem Internetcafé? Er selber bleibt stoisch bei seiner Version: Am 6. April 2006 habe er auf einer Kontakt-Webseite gechattet, rein privat, dann bezahlen wollen, den Besitzer nicht gesehen, sei auf die Straße gegangen, zurückgekehrt, nach hinten gegangen, wo die Toiletten sind und wieder nach vorne. Weil Halit Yozgat nicht da gewesen sei, habe er ein 50 Centstück auf den Tresen gelegt und das Lokal verlassen.

Er habe nichts wahrgenommen, was mit dem Mord zu tun gehabt haben könnte, auch kein dumpfes Fallgeräusch gehört, nichts gerochen und auf der Straße niemanden gesehen. Wer den Mann bei einem seiner Auftritte erlebt hat, dem fällt es erst Recht schwer, diese Schilderung zu glauben. Sein verkniffenes Verhalten erinnert an das der Angeklagten Wohlleben und Zschäpe.

Zeuge, Komplize, Täter?

Da man heute davon ausgehen kann, dass Temme anwesend war, als Yozgat erschossen wurde, stellen sich zwingende Fragen. Kann er, als er das Internetcafé verließ, den Sterbenden tatsächlich nicht bemerkt haben, der hinter dem Tresen lag? Aber warum meldete er sich dann nicht hinterher als Zeuge? Oder sah der großgewachsene Mann Halit doch liegen? Warum ging er dann weg? Ist er letzten Endes sogar verstrickt und übergab dem oder den Mördern die Tatwaffe in der Plastiktüte?

Oder war er gar - konsequent zuende gedacht - selber der Mörder? Ein Opferanwalt fragte ihn vor Gericht genau das. "Natürlich nicht", antwortete Temme. Diese Denkvarianten sind übrigens nicht weit von den Ermittlungshypothesen entfernt, die die Kasseler Kriminalpolizei 2006 verfolgte: Erstens: "Temme war der Täter", zweitens: "Temme und ein V-Mann waren Mittäter". Eine dritte Hypothese stellte damals das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen auf: "Temmes V-Mann war der Täter".

Gemessen daran dreht sich die Aufklärung seit zehn Jahren im Kreise.

Und noch eine Variante ist denkbar: Selbst wenn Temme an dem Mord nicht aktiv beteiligt war, war ihm dann vielleicht eine passive Rolle zugeschrieben worden? Nach eigener Aussage war er jede Woche mehrmals in dem Internetcafé. War das den Tätern bekannt und sollte er als Verfassungsschützer Zeuge eines Mordes werden? War das eine der Botschaften dieser Tat?

Was ist die "Kasseler Problematik" des Verfassungsschutzes?

Eine Handlungsebene des Mordfalles Kassel führt in den hessischen Verfassungsschutz. In welchem Ausmaß entzieht sich bisher allerdings dem öffentlichen Einblick. Ist der Yozgat-Mord nur Temmes Geschichte, wie es seine Vorgesetzten und auch er selber glauben machen wollen? Oder hängt die Behörde mit drin? Jedenfalls gibt es eine Reihe erklärungsbedürftiger Indizien. So hatte zwei Wochen vor dem Mord, am 24. März 2006, die wiesbadener Zentrale in einem Rundschreiben auf die Ceska-Mordserie hingewiesen und die Quellenführer angehalten, ihre Quellen danach zu befragen - und das, obwohl der letzte Ceska-Mord ein dreiviertel Jahr zurücklag. Hatte man Hinweise auf eine nächste bevorstehende Tat?

Nachdem Temme zum Tatverdächtigen geworden war, versuchte das Landesamt, auf dessen Aussageverhalten bei der Polizei Einfluss zu nehmen. Er sollte nur so viel offenbaren, wie nötig. Das weiß man aus der Telefonüberwachung Temmes, die die Polizei erwirkt hatte. Trotz laufenden Ermittlungsverfahrens trafen sich Vorgesetzte mit ihm, selbst der LfV-Direktor Lutz Irrgang und sein Stellvertreter Alexander Eisvogel. Ein Treffen mit der Abteilungsleiterin Iris P. fand nicht im Dienstgebäude statt, sondern in einer Autobahnraststätte, damit es nicht von der Polizei abgehört werden konnte.

Von den abgehörten Telefonaten wurden einige Passagen bekannt, die Fragen aufwerfen, wie der Satz des Dienststellenleiters in Kassel, Frank-Ulrich F., zu Temme: "Du hast Vieles zugegeben und jetzt sitzt du mit drin. Es fehlt eine Minute. Die ist das Problem." F. spricht in dem Telefonat allgemein von einer "Kasseler Problematik". Vor dem OLG in München behauptete F., ein solches Gespräch mit Temme habe es nicht gegeben. Er habe nach dessen Suspendierung keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt. Nachdem ihm das Abhörprotokoll vorgehalten wurde, räumte er ein, mit Temme gesprochen zu haben. Die Protokolle wurden in ihrer Gesamtheit nicht in den Prozess eingeführt. Worin die "Kasseler Problematik" bestand, bleibt im Dunkeln.

In einer anderen Passage, die durch Nachforschungen der Anwälte der Familie Yozgat bekannt wurde, äußerte der Geheimschutzbeauftragte des hessischen Verfassungsschutzes, Gerald-Hasso H., im Mai 2006 gegenüber Temme: "Ich sage ja jedem, wenn der weiß, dass irgendwo sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren." Die prompten Abwiegelungen durch H. (er habe die Kollegen gemeint), wie seitens der Bundesanwaltschaft (der Satz habe das Gespräch auflockern sollen), sind wenig überzeugend, auch weil sie sich widersprechen. Stattdessen steht die Frage: Wusste Temme, wusste das Amt von der bevorstehenden Tat oder einer bevorstehenden Aktion?

In einem weiteren überwachten Telefonat beklagte sich Temmes Ehefrau drei Wochen nach dem Mord bei ihrer Schwester über ihren Mann. Sie spricht von "niedergemetzelten Türken" und sagt wörtlich: "Was interessiert's mich, wen er heute wieder niedergemetzelt hat." Die Telefonate sind bisher nur in Bruchteilen bekannt.

Der Nachrichtendienst blockiert die Ermittlungen

Ein wesentliches Merkmal des Mordfalles Kassel ist der Konflikt zwischen Polizei und Geheimdienst. Die Ermittler der Mordkommission "Café" stießen beim Landesverfassungsschutzamt (LfV) auf eine Mauer. Sie wollten Auskunft über das Arbeitsfeld Temmes haben und seine V-Leute befragen. Das LfV lehnte das kategorisch ab. Vom Geheimschutzbeauftragten Gerald-Hasso H. ist der Satz überliefert: "Wenn die Quellen vernommen würden, müssten sie abgeschaltet werden. Das wäre das größte Unglück für das LfV." Schließlich untersagte der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsidenten von Hessen, Volker Bouffier (CDU), die Vernehmung von Temmes Quellen und die Herausgabe seiner Dienstakte. Außerdem hielt Bouffier, wie der hessische Untersuchungsausschuss im September 2016 herausfand, den Tatverdacht gegen einen Verfassungsschutzbeamten drei Monate lang vor dem Landtag geheim.

Quellenschutz vor Mordaufklärung also. Und ein Verfassungsschutz, der nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist.

Wenn Mauern gebaut werden, sieht man im besten Falle, wer sie baut. Andreas Temme steht für den hessischen Verfassungsschutz. Er ist nicht mehr bei ihm angestellt, aber der lässt ihn bis heute nicht fallen, aller demonstrativ distanzierenden Rhetorik zum Trotz. Vielleicht, weil er dann selbst fallen könnte. Ein amtsinternes Disziplinarverfahren gegen Temme, auch das ergab sich im Untersuchungsausschuss, wurde nie ernsthaft betrieben, sondern lediglich pro forma angelegt.

Neben fünf Quellen im Bereich Islamismus führte Temme eine im Bereich Rechtsextremismus: Benjamin G. mit Decknamen "Gemüse". Mit ihm telefonierte der Quellenführer am Tattag zweimal, kurz um die Mittagszeit wenige Sekunden und etwa eine dreiviertel Stunde vor der Tat über elf Minuten lang, Inhalt unbekannt.

Von den Treffs mit dem V-Mann G. im Jahre 2006, etwa zwei pro Monat, sollen keine Berichte existieren, heißt es. Nach Temmes Suspendierung arbeitete das Amt mit G. noch ein Jahr lang weiter, ehe er abgeschaltet wurde. Der Kontakt schien geblieben zu sein. Als Benjamin G. 2013 vor dem Gericht in München als Zeuge erscheinen musste, hatte er einen Rechtsbeistand dabei, der vom Verfassungsschutz bezahlt wurde.